Der große Prediger, Theologe, Philosoph, Mystiker, Lehrer und Ordensorganisator Meister Eckhart hatte es mit seiner Kirche nicht leicht. Das zeigt auch der Prozess, der gegen ihn geführt wurde, und die Verurteilung einzelner Sätze seiner Lehre nach seinem Tod im Jahr 1328 durch die päpstliche Bulle In agro dominico als häretisch (durch Papst Johannes XXII. am 27. März 1329). Die Jahrestagung 2024 fragte danach, in welchem Verhältnis Eckhart zu seiner Kirche, zu seinem Dominikanerorden und dem Mönchtum allgemein stand, was er selbst über Kirche dachte, und welche Rolle Kirche als Institution oder Raum, Papsttum, Priesterschaft und Laien, aber auch die kirchliche Dogmatik für ihn und in seiner Zeit spielten.
Im Folgenden eine Zusammenfassung der Beiträge:
I.
Zwei Beiträge berührten das Spannungsverhältnis zwischen Eckhart und der ‚Amtskirche‘ bzw. das Verhältnis zwischen ihm und seinem Orden; einer vom Faktisch-Historischen her und aus dem Blickwinkel der Kirche, einer von Eckharts Denken her kommend:
Jörg Voigt entwarf ein Bild der historischen Situation zurzeit Eckharts in der Spannung zwischen Papst und Kaiser und ging unter dem Titel
Zwischen Etablierungsprozess und Gefahrenabwehr. Der Pontifikat Papst Johannes‘ XXII. († 1334) und der Fall Meister Eckharts
besonders auf deren Auswirkungen auf den Dominikanerorden ein: Die Verlegung der päpstlichen Kurie von Rom nach Avignon im frühen 14. Jahrhundert stieß einen wesentlichen Entwicklungsprozess des mittelalterlichen Papsttums an, und zwar die Etablierung einer geistlich führenden, administrativ funktionierenden und politisch einflussreichen Institution, was besonders während des Pontifikats Papst Johannes‘ XXII. (1316–1334) zu beobachten ist. Besondere Bedeutung lag dabei auch auf der Abwehr von Gefahren und Irrlehren, was sich auch auf den Prozess gegen Meister Eckhart auswirken sollte, der aus der Perspektive der Kurie in Avignon nachverfolgt wurde.
Der Fokus des Vortrags lag auf dem Prozess gegen Meister Eckhart, der verschiedene Verfahrensstufen durchlief, vor dessen Urteilsfindung Meister Eckhart jedoch im Januar 1328 verstarb. Bekanntermaßen wurde der Prozess fortgesetzt und 1329 – durch die Bulle In agro dominico Johannes’ XXII. – mit der Verurteilung von mehreren Sätzen aus verschiedenen Werken Meister Eckharts abgeschlossen. In Anknüpfung an die wichtigen Forschungsergebnisse von Walter Senner und Loris Sturlese zu den einzelnen Verfahrensstufen dieses Prozesses und ihrer textlichen Überlieferung sollte der Blick geweitet und nach möglichen Einflussfaktoren gefragt werden, die sich aus dem Pontifikat Johannes’ XXII. auf das Vorgehen gegen Eckhart ergeben haben könnten.
Dazu wurde zunächst ein Schlaglicht auf Jacques Duèze, den späteren Papst Johannes XXII., geworfen, der nach einer universitären Karriere einen steilen Aufstieg in der Kirche nahm und als Kanzler der Könige Karl II. von Anjou und dessen Sohn Robert I. tätig war, zu den einflussreichen Teilnehmern des Konzils von Vienne (1311/12) zählte und schließlich nach über zweijähriger Sedisvakanz 1316 zum Papst gewählt wurde. Zu den Herausforderungen, mit denen er sich besonders konfrontiert sah, zählte die personelle und strukturelle Etablierung der wenige Jahre zuvor durch seinen Vorgänger Papst Clemens V. nach Avignon verlegten päpstlichen Kurie. Zu seinen Maßnahmen gehörte die Neuordnung des päpstlichen Benefizialwesens sowie die Modernisierung der kurialen Verwaltung und Jurisdiktion, was hier nur kurz umrissen wurde.
Stärker hervorgehoben wurde hingegen das Vorgehen gegen die politischen Gegner des Papstes und die als häretisch verurteilten Lehren – nicht selten lag beides aus Sicht des Papstes nahe beieinander und beides wurde mit Entschiedenheit bekämpft. Zu den größten Konflikten auf reichspolitischer Ebene zählte für Johannes XXII. die Doppelwahl 1314, aus der mit Ludwig dem Bayern sein Hauptgegner als neuer König hervorgegangen ist. Zu den theologischen Stützen des Wittelsbachers gehörten bekanntermaßen die Franziskaner, die sich bereits durch den Armutsstreit in einem theologischen Grundsatzkonflikt mit dem Papst befanden. Dieser Konflikt weitete sich aus auf den gesamten Franziskanerorden, auf alle Anhänger Ludwigs des Bayern und schließlich auf generell jene, die als Gefahr für das Papsttum angesehen wurden, was u. a. auch in längeren Inquisitionsprozessen zum Ausdruck kam, die in jenen norditalienischen Städten stattfanden, die Ludwig den Bayern unterstützten, wie Todi oder Modena.
Diese Entwicklungen wirkten auch auf den Dominikanerorden ein. In den Beschlüssen des Generalkapitels für das Jahr 1325 wurde deutlich, dass der Orden interne Konflikte hinsichtlich der Loyalität gegenüber der Kurie gezielt anging. Dennoch sandte Johannes XXII. zwei Dominikaner in west- und süddeutsche Ordensniederlassungen, die er mit umfangreichen Befugnissen ausstattete. Jedoch entwickelte sich in dieser angespannten Situation eine Eigendynamik, die auch Meister Eckhart erfasste, der im Jahr 1326 Anschuldigungen ausgesetzt war und der in dieser Angelegenheit an den Hl. Stuhl appellierte. Anhand neuer Quellenfunde konnte wahrscheinlich gemacht werden, dass südfranzösische Dominikaner in diesen Prozess eingebunden wurden. Diese haben sehr wahrscheinlich als Gutachter der Werke Eckharts mitgewirkt; deren Verurteilung einzelner Passagen seiner Werke ist auch vor dem Hintergrund der von Papst Johannes XXII. gefürchteten Verwundbarkeit der Kirche zu sehen.
Mauritius Wilde OSB, selbst Benediktinermönch und Prior der Primatialabtei Sant’Anselmo in Rom kam vom Denken Eckharts her und wählte den Titel
Meister Eckhart und das Mönchtum.
Um heute weitverbreiteten Missverständnissen entgegenzuwirken, war es klar auszusprechen: Meister Eckhart war kein Mönch. Seine Adressaten jedoch finden sich im monastischen Kontext. Auch die Art seines Theologisierens könnte man als kontemplativ beschreiben. Mit dem Konzept der ‚Abgeschiedenheit‘ trifft er ein monastisches Prinzip, das auch für Menschen außerhalb des Klosters relevant war und ist.
Meister Eckhart war als Dominikaner kein Mönch (wie etwa die Benediktiner). Die dominikanische Spiritualität aber ist nicht unwesentlich von der monastischen Tradition geprägt. Im Fall Meister Eckharts wird das besonders in seinem Frühwerk der Reden der Unterscheidungen bemerkbar, in dem er auf Johannes Cassian zurückgreift. Monastische Themen wie die Gottsuche und das Motiv des Verlassens (relinquere) spielen dabei eine wichtige Rolle.
Am stärksten aber verbindet sich Eckharts Denken mit der Tradition der Mönche durch den Begriff der Abgeschiedenheit, einer Wort-Neuschöpfung, die besonders charakteristisch für den Meister ist. Das Mönchtum kennt als ursprüngliche Motivation die fuga mundi. Männer und Frauen ziehen sich aus der Welt zurück, verlassen Familie und Zivilisation, um sich auf Bergen oder in Höhlen niederzulassen. Sie ordnen der Gottsuche alles unter. Als Dominikaner, der in den Städten lebt, modifiziert Eckhart mit Hilfe seiner Theologie das Thema der Abgeschiedenheit, indem er es weitertreibt und dabei verinnerlicht. Es geht ihm um die innere Klausur, in der sich Gott finden lässt, auch und gerade mitten in der Welt.
Damit berührt er einen kirchenkritischen Aspekt, der dem Mönchtum immer wieder zu eigen ist. In Predigt 73 (Deutsche Werke II, Herausgeber J. Quint) kommt Eckhart explizit auf Benedikt von Nursia zu sprechen. Indem er aus der Lebensbeschreibung Benedikts von Gregor dem Großen eine Szene paraphrasiert, wird deutlich, dass er die Vita kennt. In dieser aber wird der Blick frei für ein originäres Verständnis von Kirche. „Es ist Ostern, weil Du da bist“, erwidert Benedikt einem Priester, der den Mönch darauf aufmerksam macht, dass er das Osterfest vergessen habe. Es ist dieselbe innere Freiheit, um die es Eckhart in seinen Schriften und seinem Denken geht. Das Losgelöstsein vom hic et nunc der Kirche bedeutet dabei gerade nicht, dass es Eckhart darum geht, auf die Kirche zu verzichten oder die Sakramente für obsolet zu halten: Diese dienen dazu, das Geheimnis hinter den Formen zu entdecken und zu erreichen.
II.
Diesem, wie man sagen könnte, Kirchenverständnis von innen her blieben auch drei weitere Vorträge auf der Spur (Gottschall, Vinzent, Löser), die konkrete Textarbeit vornahmen. Sie untersuchten Eckharts deutsche Predigten, um danach zu fragen, was er eigentlich in diesen Texten genau unter ‚Kirche‘ versteht:
Dagmar Gottschall stellte sich die Frage,
Was Meister Eckhart in seinen deutschen Predigten über ‚Kirche‘ sagt
Meister Eckhart scheint auf den ersten Blick dazu nicht viel zu sagen. Aber, wenn man seine Äußerungen in den deutschen Predigten zugrunde legt und die Predigten auch als solche genauer liest, ergibt sich doch einiges, auch Überraschendes, zum Beispiel zum Bau der Kirche, zu architektonischen und im übertragenen Sinn zu spirituellen Räumen, in denen er agiert.
Meister Eckhart erwähnt die Kirche nur in drei seiner kritisch edierten deutschen Predigten (Deutsche Werke, Predigt 4, 66 und 68) und in einem Kapitel seiner Erfurter Reden (RdU, c. 6). Er spricht dabei stets von dem konkreten Kirchenraum. Deshalb gilt es zunächst den Kirchenbau zurzeit Eckharts näher zu betrachten, und hier besonders die Situation der Erfurter Predigerkirche (Baubeginn im 13. Jh., Abschluss im 15. Jh.), deren Bau Eckhart in den ersten Jahren selbst miterlebt hatte und für den er während seines Priorats (1294–1302) in Erfurt auch verantwortlich war. Die Erfurter Dominikanerkirche, deren Chor 1279 geweiht wurde, ist der erste rein gotische Bau in Thüringen und erfuhr als solcher besondere Beachtung: auf der einen Seite die vergeblichen Bemühungen der Ordensleitung, das dominikanische Armutsideal auch in architektonischen Fragen zu wahren, also Beschränkung der Höhe, Zurückhaltung im Schmuck, und auf der anderen Seite ehrgeizige Finanzierungssummen seitens der Stadt, die den Kirchenbau als Prestigeprojekt betrachtete.
Eckhart interessiert die Kirche als architektonisches Monument nicht, ja, als Prestigeprojekt der Verdienstfrömmigkeit reicher Geldgeber, die dank einer großzügigen Spende hoffen, sich das Seelenheil erkaufen zu können, verurteilt er sie ohne Wenn und Aber. Johannes Taulers Haltung ist hier weniger rigoros: Stiftungen und Geldspenden können sehr wohl zum Seelenheil beitragen, insofern sie anonym erfolgen.
Doch Eckhart sieht den Kirchenraum auch nicht als den privilegierten Ort der Gottesbegegnung, denn die Gegenwart Gottes hängt nicht von einem besonderen Ort ab, sondern von der besonderen Disposition unseres Inneren. Wenn wir uns in der Kirche Gott nahe fühlen, so ist das nur ein Zeichen menschlicher Schwäche, denn „Gott ist gleich in allen Dingen und an allen Stätten“ (Deutsche Werke III, Predigt 68) und er wohnt nicht in der Kirche, sondern in der menschlichen Seele.
Markus Vinzent schloss daran an:
Gott hat nie mehr als ein einziges Wort gesprochen: Vater, Sohn, Geist, Kreaturen – wo ist die Kirche?
(Pfeiffer Nr. 17)
Unter diesem Titel stellte er, anders als Dagmar Gottschall, die sich auf die Predigten der kritischen Edition konzentriert hatte, eine weitere Predigt (Pfeiffer Nr. 17) vor, die den Weg in diese Edition bisher nicht geschafft hat, die er aber für eine echte Predigt Meister Eckharts erklärte. Sie behandelt, gerade zu Beginn, etliche Aspekte, die mit Blick auf Eckharts Auffassung von Kirche von Bedeutung sind, und hat deshalb eine ausführliche Analyse verdient.
Obwohl diese Predigt, eine Weihnachtspredigt, durch Franz Pfeiffer bereits 1857 veröffentlicht wurde, fehlt sie bis heute in der kritischen Werkausgabe Eckharts. Georg Steer, Nachfolger Josef Quints als Eckhartherausgeber und inzwischen leider verstorben, wollte sie zwar für eine Berücksichtigung prüfen (Die Schriften Meister Eckharts in den Handschriften des Mittelalters, 2002, S. 252–253), doch hängt sie seither editorisch in der Luft. Dabei gehört sie, Markus Vinzent zufolge, überlieferungsgeschichtlich zu dem berühmten sogenannten Gottesgeburtszyklus. Zwar wird im Text explizit gesagt: „Meyster Eckhart sprach“, doch scheint schon Pfeiffer das auf diese Ankündigung folgende Stück gerade wegen des ausdrücklichen Bezugs auf Eckhart aus der Predigt herausgenommen und es unter die Sprüche eingereiht zu haben.
Allerdings bestätigt ein Rückverweis aus dem in Frage stehenden Teil der Predigt, dass der Prediger diesen Text mit der zweiten Predigt des Gottesgeburtszyklus (Deutsche Werke IV, Predigt 102) in Verbindung setzt. Denn in Predigt Pfeiffer 72 sagt er: „Gott hat kein (anderes) Geschöpf, das eine so weitreichende Auffassungsgabe hat, wodurch Gott seine Kraft und den Grund seines Wesens so vollkommen hineinschreiben oder eingießen kann, als in das Werk, in welches er sich geistig in die Seele gebiert. Gottes Gebären in die Seele, wie ich früher sagte („als ich vor mer gesprochen han“), ist nichts anderes, als dass Gott sich in einer neuen Erkenntnis und auf eine neue Weise der Seele offenbart.“ In Predigt 102 heißt es: „Gott ist in allen Dingen dem Wesen, dem Wirken und der Kraft nach; mehr noch, er alleine ist derjenige, der sich in der Seele gebiert“ („Got ist in allen dingen wesenlîche, würklîche und gewalticlîche, mêr: er ist aleine gebernde in der sêle“). Alle vier Stichworte, die in der vorliegenden Predigt aneinandergereiht sind – „Gottes Kraft, Wesen, Wirken, in die Seele gebären“ – finden sich auch an dieser einen Stelle in Predigt 102.
Daraus schloss Markus Vinzent, dass das von Pfeiffer (sowie auch von Quint) ausgeschiedene Textstück kein eigener Spruch Eckharts sei, sondern integraler Bestandteil der vorliegenden Predigt. In ähnlicher Weise wurde auch ein sogenannter Rückverweis aus der Eckhartpredigt 68 auf die vorliegende Predigt erörtert. Geht man schließlich davon aus, dass die Predigt Pfeiffer 17 tatsächlich eine Predigt Eckharts ist, lassen sich ihm nun wichtige Aussagen über ‚Kirche‘ zuordnen, ohne dass das Wort ausdrücklich fällt. Es wird nämlich eine Antwort auf die Frage, wie „wir das ewige Wort wissen und lieben“ können, entfaltet; sie bietet vier Möglichkeiten, dies zu erlangen:
A) aus den Händen des Priesters,
B) durch den Lehrer oder Prediger,
C) durch diejenigen, die dem Herrn folgen,
D) durch „das ewige Wort“, indem „es durch die nackte Gottheit in die nackte Seele gesprochen wurde“.
Falls man vorschnell meinen könnte, dass es das Priesteramt sei, die Institution der Kirche, Lehrer oder Prediger, die Christus nachfolgen, die uns das ewige Wort wissen und lieben lehren, so zeigt diese Predigt, dass es einzig das ewige Wort selbst ist, das nackt zu uns spricht, wenn wir nackt sind: „Ihr solltet wissen, dass das ewige Wort sich selbst in die Seele gebiert, sich selbst durch sich selbst, nicht weniger und ohne Unterlass. Bedenkt, dass die Seele das ewige Wort besser kennt, als alle Meister es ausdrücken können.“ – Diese charakteristische Eckhartsche Lehre findet sich gerade in dem Teil, der bisher gesondert als Spruch ausgeklammert wurde. Dadurch aber verlor die Predigt ihre Spitze oder ihr Herz und die Hauptaussage Eckharts verlor sich im Nebel der Unauthentizität und der Dekontextualisierung.
Das alles berührte sich weitgehend mit Überlegungen Freimut Lösers, der als Präsident der Meister-Eckhart-Gesellschaft zuvor die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer zum Jubiläum des zwanzigjährigen Bestehens der Gesellschaft begrüßt hatte. Er hatte, bewusst auf aktuelle Strömungen anspielend, den folgenden Titel gewählt:
Wir sind Kirche! Meister Eckharts Predigt über uns in der Kirche und die Kirche in uns (Sievers Nr. 22)
Löser verfolgte dabei grundsätzlich die These: Dass Eckharts Aussagen über Kirche in Forschung und Öffentlichkeit relativ wenig beachtet werden, liegt auch daran, dass einige seiner wichtigen Predigten zu diesem Themenkomplex bisher schlicht unbeachtet (weil eben nicht kritisch ediert) geblieben sind. Im Zentrum des Vortrags stand dafür stellvertretend die Predigt 22, die Eduard Sievers schon 1872 gedruckt hatte und für die Löser Eckharts Verfasserschaft schon zuvor in eigenen Aufsätzen nachgewiesen hatte. Sie gibt wichtige Einblicke in Eckharts Vorstellung von Kirche.
Zunächst aber wurde Eckharts Kirche konkret und historisch verortet:
Wenn man von ‚Meister Eckharts Kirche‘ spricht, sind zahlreiche Aspekte zu bedenken, die man mithilfe von bestimmten Bauwerken veranschaulichen kann: In der heute noch stehenden Predigerkirche in Erfurt las er die Messe, predigte, spendete die Sakramente, betete in derselben Art wie sein Ordensgründer der heilige Dominikus, spendete das Abendmahl, verrichtete seine Stundengebete gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Konvents, vollzog die Liturgie. Dabei saß er in der Erfurter Predigerkirche während des Chorgebets im heute noch existierenden Chorgestühl auf dem Platz des Priors und nahm von dort aus seine Leitungsfunktion wahr. Im Refektorium, das unter Eckharts Priorat und unter seiner persönlichen Leitung erbaut worden war, trafen sich die Predigerbrüder; wahrscheinlich hielt Eckhart in diesem Raum seine Erfurter Lehrgespräche (sog. Reden) mit den Mitgliedern seines Hauses.
Als Leiter der dominikanischen Ordensprovinz Saxonia war er unter anderem in Verhandlungen mit dem Rat der Stadt Braunschweig oder in Göttingen mit Regelungen von Klostergründungen, Klosterverlegungen und Kirchenbau befasst und urkundete in solchen Amtsgeschäften.
Die großartige Darstellung des Freskos aus der sogenannten Spanischen Kapelle der Dominikanerkirche Santa Maria Novella in Florenz ist in der Eckhart-Forschung zuletzt dadurch sehr bekannt geworden, dass man in einem der Dargestellten Meister Eckhart vermutet hat. Ob das nun zutrifft oder nicht, wichtig ist die Darstellung der Dominikaner und ihres Ordens: Das Fresko von Andrea di Bonaiuto (um 1365) vermittelt nämlich nichts anderes als das gültige Kirchenbild von Eckharts Orden zu seiner Zeit: Die ecclesia triumphans in der oberen Hälfte, dem Himmelreich verbunden, darunter die Kirche als Bauwerk (hier der gerade entstehende Dom von Florenz) und die ecclesia militans, also die kämpfende Kirche und ihre besten Kämpfer: die Dominikaner als domini canes, Hunde des Herrn, besonders befasst mit der Bekämpfung und Bekehrung von Ketzern. Eckhart aber, wenn er es denn tatsächlich ist, hat der Maler mit anderen in Irrtümern befangenen Gelehrten (wie den Franziskanern William von Ockham und Michael de Cesena) in die Gruppe der für ihre Sünden büßenden Kirche (ecclesia poenitens) gestellt.
Im heute nicht mehr existenten Dominikanerkonvent Saint Jacques (Jahrhunderte später der Versammlungsort der revolutionären, nach diesem Treffpunkt benannten Jakobiner) lebte und arbeitete Eckhart, als er zweimal den dominikanischen Lehrstuhl der Pariser Universität besetzte und damit Teil einer Institution war, die neben dem Papst die höchsten theologischen Gewissheiten vertrat und als Autorität in Glaubensfragen galt.
Im Palast in Avignon schließlich residierte der Papst, der Eckhart 1327/28 selbst verhörte und nach seinem Tod eine Bulle gegen ihn erlies, die zahlreiche seiner Sätze als übel klingend und das Mal der Häresie enthaltend verurteilte.
All das also ist und war Meister Eckharts Kirche. In seinem Leben war sie in all ihren Formen überall und stets präsent. Warum, so muss man sich fragen, spielt sie dann in seinen deutschen Predigten und in der Forschung, die sich bisher mit ihnen beschäftigt hat, eine derart geringe Rolle? Das Bild verändert sich, wenn man die lateinischen sermones berücksichtigt, in denen Eckhart sich ja – mindestens auch – an seine Mitbrüder wendet, oder betrachtet, wie häufig er sich in den deutschen Predigttexten mit der Predigt selbst, den Aufgaben eines Predigers und dem, was Predigen eigentlich ist, beschäftigt, mit der Messe und den Sakramenten, insbesondere der Eucharistie. Der Vortrag erläuterte anschließend die in der Forschung vernachlässigte Predigt Sievers Nr. 22, die unter der von den Handschriften wiedergegebenen Überschrift Von dem betehuße den Evangelientext Matthäus 22,13 erläutert:
„Domus mea domus orationis vocabitur: Min hus sal heissen ein betehuß.“
Dabei macht Eckhart vier eigene Punkte; er spricht zunächst von der Kirche als Bauwerk und, trinitarisch, von der Kirche des Sohnes, des Vaters und des Geistes:
1. „Die geweihte Kirche heißt ein Bethaus; darin nimmt man die Arznei der Seele in Gestalt der sieben Sakramente.“
In diesem ersten Schritt geht es ganz einfach um das Haus: die geweihte Kirche, das Kirchengebäude, das auch wir heute als „Gotteshaus“ bezeichnen, eine Bezeichnung, die nebenbei erwähnt, auch in kontrahierter Form das Mittelalter schon kennt. Dieses Gebäude bezeichnet Eckhart als geweihte Kirche, den Ort des Empfangs der Sakramente. Es ist als Bauwerk, wie Dagmar Gottschall gezeigt hat, in Eckharts Texten durchaus präsent. Aber es spielt in seinem Denken keine große Rolle. Der Ort des Empfangs der Sakramente ist ihm nur wenige Worte wert, aber er legt Wert darauf, dass es sich um einen geweihten Ort handelt; hier sind die Sakramente (das bekannte Bild von Christus als Arzt abwandelnd) die Arznei der Seele, nötig und hilfreich dann, wenn die Seele krank ist, wenn sie beispielsweise (dies sei ergänzt) in der Beichte und durch die Buße von den Sünden heilbar gemacht und geläutert wird, wenn sie durch den Empfang der Eucharistie gestärkt und mit Christus geeint wird. Bedeutungsvoll wird es in den nächsten kurzen drei Abschnitten, wobei die Wortwahl sich ändert und die Kirche jetzt als Christenheit, als Himmelreich und als Seele erscheint. Dem entspricht ein klarer trinitarischer Ansatz, der sich entschlüsselt, wenn man die Parallele zu Eckharts lateinischem Sermo XXIV,1 (Echtheitskriterium 2) erkennt.
2. „Dy heylige cristenheit heißt ouch eyn bethuß unsers herren gotes; darynne wirt unser herre gespißt an syme heyligen lichnam und wechst und nemt czu an syn ledemeßen, das ist an cristenluten.“
Die Kirche ist demnach, so wie zu Beginn der Predigt angegeben, der geweihte Ort der Sakramente und hier insbesondere der Ort der Eucharistie, sie ist aber auch als Kirche des Sohnes, die als „Christenheit“ seinen Namen trägt, die Gemeinschaft aller Christen, die als einzelne Glieder diese Gemeinschaft für das Wachsen und Wohlergehen der „Christenheit“ sorgen. Eckhart definiert Kirche demnach nicht als geordnete Institution und von ihren einzelnen Organisationsstrukturen her, sondern als Gemeinschaft der Christen. Im Blick auf die Kirche in unserer Predigt heißt das: Christi Leib wird uns zuteil und wir sind Teil seines Leibes. Im Anschluss an Paulus, 1. Korinther 12,12ff. ist die Kirche, ist die heilige Christenheit der mystische Leib Christi. Auch das ist traditionelle, gut mittelalterliche Ekklesiologie. Kirche wächst und nimmt zu an den „cristenluden“, die ihren Namen ebenso nach Christus haben wie die Christenheit als Ganzes. Kirche besteht aus ihren Gliedern, die Mitglieder der Kirche sind. Interessant scheint dabei, wie Eckhart das Verb „speisen“ verwendet, indem er, was im Mittelhochdeutschen noch leichter möglich ist als im heutigen Hochdeutsch, transitive und intransitive Bedeutung in einem einzigen Verbgebrauch vereint: im Sakrament der Eucharistie wird Christi Leib von den Gläubigen verspeist und stärkt als Arznei diejenigen, die ihn einnehmen; aber dieser Leib Christi wird seinerseits eben auch durch die Glieder der Kirche gespeist und gestärkt. Die Bewegung ist also – sprachlich auf das Engste verschränkt – eine gegenseitige: Christus in uns, aber wir auch in Christus.
3. Der trinitarischen Deutung, die auch in lateinischen Texten Eckharts deutlich wird, entspricht das Himmelreich als Haus des Vaters: „Das hymmilrich heißt ouch ein huß; darynne geruwet unser herre und gebrucht syner craft.“
4. Im vierten Punkt (trinitarisch dem Geist entsprechend) definiert Eckhart die Seele des Menschen als Haus Gottes: „Das virde huß gotes heißt dy sele; darynne wirket unser herre got sine gotlichen werk mit siner gnade.“
In der lateinischen Parallelpredigt liest sich das so: „Domus spiritus sancti est fidelis anima; anima domus est gratiosa.“ Die Gleichsetzung der Kirche mit der gläubigen Seele, die sich in Eckharts lateinischen Predigten häufiger findet, wird besonders in der zweiten lateinischen Predigt zu Lukas 19,41 erklärt. In dieser Predigt, die er selbst als Entwurf versteht, hat sich Eckhart notiert, es sei wichtig, zum Terminus domus mea als erstes zu bemerken, „dass das Haus Gottes das Wesen der Seele selbst ist, in das Gott allein sich einsenkt, und zwar Gott bloß“. Hier sei zu behandeln, „dass er sich in die Sele einsenkt, wenn die geistigen Kräfte zuvor von den Eindrücken der sinnlichen gereinigt sind. Deswegen eben müssten die „Käufer und Verkäufer“ hinausgeworfen werden, weil die Seele nicht auf den Lohn sehe und weil dort Ruhe und Schweigen herrsche. Von dieser Position aus kann sich die Predigt jetzt der Frage widmen, was denn, nachdem das „Bethaus“ erläutert wurde, nun das Wesen des Gebets sei: Gott um nichts zu bitten als nur um Gott, der in die Seele, ist sie leer, eingehen wird. Damit kommt die Predigt in einer Kreisbewegung zum Schluss: Die Kirche ist die Seele, ist das Haus Gottes, ist das Haus des Gebets; ist sie leer von allen Dingen, kann sie den einlassen, zu dem und um den sie betet. Dann ist Gott in seinem Haus und die Seele könnte, aus heutiger Sicht formuliert, mit Gott sagen: „WIR sind Kirche“.
III.
Eine Serie von drei theologischen Vorträgen befasste sich mit den Konsequenzen für Eckharts theologisches Kirchenverständnis:
Die inzwischen auch für die neu zur Verfügung stehenden Texte festzustellende Verschiebung von ‚Kirche‘ ins Innere des Menschen bei Eckhart war auch Ansatzpunkt für Dietmar Mieth, der sich die Frage stellte:
Theologie statt Kirche? Warum Kirche bei Meister Eckhart präsent ist, aber nicht zum Thema wird
Erst mit den Konfessionen wurde Kirche zum kontroversen Thema. Dennoch kann man Differenzen über Kirche erschließen, z. B. zwischen Thomas von Aquin und Meister Eckhart. Eckhart spricht primär von der Menschwerdung Gottes in ihrer Bedeutung für alle Menschen. Er stellt bestehende Strukturen implizit in Frage. Die Kirche gehört nicht in die „Zeit der Ernte“ (vgl. Mt 13,30). Das hat z. B. Auswirkungen auf die theologische Begründung der Inquisition.
Romano Guardini betrachtete mit den griechischen Kirchenvätern die Kirche als ein Innen im Menschen. Jedoch scheint eher Menschsein als Kirche das innere Thema für den Theologen Eckhart zu sein. Er geht von einem in der Schöpfung erlösungsbedürftigen und in der Teilhabe an der Menschwerdung, in der „Gottesgeburt“, erlösungswürdigen Menschsein aus, das keine kirchliche Grenze und keine kirchliche Überlegenheit kennt. Das ist ein Pfad zur allgemeinen Menschenwürde.
Ist die Kirche mit Augustinus eine die Zukunft vorausnehmende Gottesgesellschaft in der Welt? Für Thomas von Aquin muss Kirchenstruktur weder gerechtfertigt noch befragt werden. Sie ist vorgegebene Lebenswelt und darin „Gottes Werk“ als Gnadenvermittlerin. Mit Thomas verbindet Eckhart der Gedanke der Kirche als creatura verbi, als Geschöpf des Wortes, aber dieses Wort findet bei Eckhart seinen Weg über die Kirche hinaus. Das Wort entfaltet sich in der theologischen Vernunft, in der inneren Einsicht, im Intellekt. Philosophie und Theologie verschmelzen als Denk-Orte der Weisheit („sapientia et scientia“).
Dietmar Mieth erweiterte noch den Blick auf das Thema, indem er vergleichend wichtige weibliche Perspektiven aus Eckharts Zeit und Umfeld einbrachte: Während sich die Kritik mancher Mystikerinnen – z. B. Mechthild von Magdeburg – auf schlechte Vertreter der Kirche, die „Prälaten“, richtete, hat Marguerite Porete, die Zeitgenossin Eckharts, die Kirche als „kleine“ (Kleriker)-Kirche, d. h. also die bestehende reale Form der Kirche, kritisiert. Außerdem ist für sie die „heilige“ Kirche nicht Gott selbst, sondern als ein „geschaffenes Ding“ („creatura verbi“ – „chose créée“) unvollkommen.
Manfred Gerwing argumentierte, zunächst vom Textwort einer Eckhartpredigt ausgehend, für die Intensivierung des theologischen Sinnes von Kirche im Blick auf jeden einzelnen Gläubigen durch Eckhart:
Freund, zieh höher hinauf (Lk 14,10). Zum kritischen Gottes- und Glaubensverständnis Meister Eckharts
Meister Eckhart will tun, was die Kirche tut oder zumindest tun sollte: dem Leben dienen. Der Machtanspruch und der äußere Reichtum der Kirche damals – in der Zeit der mittelalterlichen Expansionsphase – hat innerkirchlich zu den verschiedensten Gegenbewegungen geführt. Die große Ordensbewegung der Mendikanten aber, vor allem die Dominikaner und Franziskaner, wahrten die Einheit der Kirche. Sie protestierten zwar gegen die Veräußerlichung und Verrechtlichung der Kirche, aber ließen es doch nicht zu einem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der Kirche als unsichtbarer Gemeinschaft der Heiligen auf der einen, und als sichtbarem gesellschaftlichem Gefüge der sakramentalen und hierarchischen Kirche auf der anderen Seite kommen. Zwar kann erst seit dem Spätmittelalter von einer systematischen Behandlung des Themas Kirche die Rede sein, also von einer systematischen Ekklesiologie – als erster systematischer Traktat gilt die um 1450 erschienene Summa de Ecclesia von Johannes de Torquemada (1388–1468) –, aber die mittelalterlichen Theologen haben in Schriftauslegungen, zum Hohen Lied und zum Epheserbrief etwa, in kirchenrechtlichen Texten, geistlichen Schriften und Predigten immer wieder von der Kirche gehandelt. Meister Eckhart jedenfalls versucht im Anschluss an die augustinische Tradition, die im Blick auf die Kirche vom corpus Christi mysticum spricht, den theologischen Sinn von Kirche aufzugreifen und im Blick auf jeden einzelnen Gläubigen und jede einzelne Gläubige zu intensivieren. „Mein Freund, zieh höher hinauf!“, will sagen, lass dich, getaufter Christ, selbst von Gott, genauer vom Wort Gottes in Anspruch nehmen und in Form bringen: in die Christusform, d. h. öffnen für Gott und den Nächsten.
Es geht Meister Eckhart darum, dass der Mensch sich tatsächlich erhebt und auf den Weg zu Gott macht. Darin besteht sein Kirchesein: das Wort Gottes so zu verkünden, dass Christen zu Christus werden, zum alter Christus. Eine Neuorientierung im Denken durch ein kritisches Gotterkennen ist sein Ziel: Gott nicht bloß als gedachten, sondern als wirklich-wahren, lebendigen und ewigen Gott zu erkennen. Darin finden seine Reden zur Orientierung im Denken ihr Maß: Gott teilhaftig zu sein, ihn ‚zu haben‘, ihn wahrhaft zu besitzen, ihn, Gott, den der Mensch von sich aus gar nicht ‚haben‘ und ‚besitzen‘ kann. Es mag sein, dass Meister Eckhart den Verteidigern der religiösen Rechtgläubigkeit und Ordnung des 14. Jahrhunderts als ein gefährlicher Mystiker erschien. Doch dieser Verdacht darf uns nicht davon abhalten wahrzunehmen, dass Meister Eckhart sich tatsächlich für diese Kirche einsetzte, für diese Kirche und ganz und gar in dieser Kirche lebte. Es ist die Kirche Jesu Christi. Meister Eckhart wollte zeitlebens rechtgläubig sein und wurde erst nach langjähriger Tätigkeit im Dienst seines Ordens als frater, praedicator and magister in seinen letzten Lebensjahren wegen Häresie angezeigt und angeklagt. Für jene allerdings, die nur die vordergründigen Züge der Kirche, ihre zeitbedingte Verfasstheit, Einrichtungen und gesellschaftliche Funktionen im Auge haben, war Eckharts innere Sicht der Kirche gefährlich; denn dieses Äußere tritt bei Meister Eckhart ganz und gar zurück. Er achtet auf das Wort und Wirken Gottes im Menschen, auf den inneren Dialog, den Gott mit dem Menschen führt.
Martina Roesner fragte, bestimmte festgefügt scheinende Urteile über Eckhart auf den Prüfstand stellend, nach der Bedeutung der Sakramente für seine Theologie:
Jenseits von Konrad und Heinrich. Zur Sakramentalität des Überindividuellen in Meister Eckharts Mystik
Meister Eckharts Mystik gilt gemeinhin als eine Form der Spiritualität, in der die sonst üblichen Formen kirchlicher Heilsvermittlung keine Rolle spielen. Dennoch betont Eckhart immer wieder, dass die von ihm thematisierte Einheit mit Gott „ohne Mittel“ gerade nicht auf der Ebene der Individualität als solcher verwirklicht werden kann. Der Vortrag ging folglich der Frage nach, inwiefern die mit dem Begriff der „Gelassenheit“ verbundene Überschreitung des individuellen Eigenseins gleichsam das eckhartsche Äquivalent zu jener theologischen Wirklichkeit ist, die sonst im Kontext der Sakramentenlehre und Ekklesiologie behandelt wird:
Gemeinhin gilt die Mystik als eine Form individualisierter Frömmigkeit, bei der die äußeren institutionellen, doktrinalen und liturgischen Aspekte des Glaubens keine Rolle mehr spielen oder sogar als für das geistliche Leben hinderlich angesehen werden. Auch mit Blick auf Meister Eckhart wird oft die Auffassung vertreten, die von ihm vertretene Möglichkeit einer Einheit mit Gott „ohne Mittel“ gehe Hand in Hand mit einer prinzipiellen Überwindung aller kirchlich-sakramentalen Formen der Heilsvermittlung.
Entgegen diesem weitverbreiteten Klischee wollte der Vortrag aufzeigen, dass Eckharts Mystik gerade nicht in einer Verabsolutierung der individuellen Innerlichkeit besteht, sondern vielmehr darin, von der eigenen Individualität zu lassen, um die Universalität des göttlichen Logos wirksam werden zu lassen. Nicht der äußere Vollzug des Gebets oder des Sakramentsempfangs als solcher wird demnach von Eckhart kritisiert, sondern nur die egoistisch motivierte Verengung der Intention dieser religiösen Vollzüge auf die eigene Person. Das Lassen von der empirischen Individualität des „Konrad und Heinrich“ ist demnach jene Grundhaltung, die den Menschen zum rechten Empfang der Sakramente disponiert, doch bedeutet dies nicht, dass die Sakramente als solche überflüssig würden. In Predigt 95 und Predigt 104 (beide Deutsche Werke IV) betont Eckhart sogar ausdrücklich, dass der Priester bei der Zelebration der Messe bzw. bei der Predigt nicht seine eigene mystische Innerlichkeit, sondern die Erbauung der anwesenden Gläubigen im Blick haben solle. Eckhart geht sogar so weit, die kirchenrechtlich gebotene Erfüllung von Gelübden auch im Falle einer mystischen Entrückung aufrecht zu erhalten, nur dass in diesem Falle Gott selbst anstelle des Menschen das betreffende Gelübde erfüllt.
Letztlich erklärt sich Eckharts grundsätzliches Festhalten an den richtig verstandenen äußeren Formen und institutionellen Strukturen der Kirche dadurch, dass der wahrhaft gelassene, vergöttlichte Mensch keine Trennung zwischen „Außen“ und „Innen“ mehr kennt, sondern alles vermeintlich Äußerliche als Ausdruck absoluter Innerlichkeit zu leben vermag.
IV.
Der öffentliche Abendvortrag durch Joel Harrington, US-amerikanischer Frühneuzeithistoriker und Verfasser des weltweit rezipierten, auch ins Deutsche übersetzten und mit Preisen ausgezeichneten Buches Dangerous Mystic: Meister Eckhart’s Path to the God Within stellte die Frage:
Wie gefährlich war Meister Eckhart?
Der Vortrag kehrte damit zum Anfang der Tagung und dem Prozess gegen Eckhart zurück, betonte aber, zunächst überraschend, bewusst die sehr geringe Gefahr, die Eckharts Lehre für die institutionelle Kirche seiner Zeit darstellte. Angesichts der von Harrington angenommenen begrenzten schriftlichen Verbreitung seiner Ideen, besonders nach der Bulle In agro Dominico, sowie des häufigen Unverständnisses seitens der Laien wurde argumentiert, dass die Gefahr von Eckharts Lehre von seinen politischen Gegnern, insbesondere dem Bischof von Straßburg, übertrieben wurde. Im Vergleich dazu stellt, trotz der Aufnahme von Meister Eckhart durch viele moderne Katholiken und Protestanten, die Aufnahme durch bestimmte New-Age-Autoren und viele „spirituelle, aber nicht religiöse“ Laien eine viel größere Herausforderung und Bedrohung für das institutionelle Christentum dar, besonders im Hinblick auf die bereits rückläufige Mitgliederzahl. Die heutige Gefahr Eckharts und Gefährdung Eckharts zugleich liegt damit in einer Verkürzung und populistischen Umdeutung seiner Lehren. Zum Abschluss wurde deshalb die wichtige Rolle hervorgehoben, die die Eckhart-Forschung im Kampf gegen Fehlinterpretationen und falsche Wiedergabe der Worte des Meisters leisten könne und solle.
V.
Die Meister-Eckhart-Tagung 2024 schloss mit einer Podiumsdiskussion, die unter dem Titel Meister Eckharts Kirche heute – ein ferner Spiegel? die Frage nach Meister Eckharts Kirche in die Gegenwart übertrug. Hierzu brachte Regina D. Schiewer die Referierenden der Tagung Christine Büchner, Gotthard Fuchs, Dietmar Mieth, Martina Roesner und P. Mauritius Wilde OSB sowie Freimut Löser miteinander ins Gespräch.
Regina Schiewer fasste zu Beginn die unterschiedlichen Kirchendefinitionen zusammen, die bei den Vorträgen und Gesprächen der Tagung benannt und diskutiert worden waren: Kirche als Gebäude, als Eckharts konkretes Kirchengebäude, als societas perfecta, als Organismus des Heiligen Geistes, als Gemeinschaft der Heiligen und zugleich als organisatorische Struktur, als sakramentale Kirche, als Gemeinschaft der Christen, als Leib Christi, als Geschöpf des Wortes, als Ort der Verkündigung und Kirche als „kleine Klerikerkirche“ und „große Laienkirche“, aber auch als „Ekklesiola“, als kleine (klösterliche) Laienkirche.
Bei der Diskussion wurde unter Rückgriff auf Dietrich Bonhoeffers Verständnis von Kirche als einer „Kirche für andere“ Eckharts Haltung zur caritas vor dem Hintergrund seiner spekulativen Einheitsmystik diskutiert. Die Diskussionsteilnehmer:innen sahen die Gefahr, dass die kontemplative Kirche in heutiger Zeit durch eine Verengung auf das diakonische/karitative Element in Rechtfertigungszwänge gerate, während gerade bei Eckhart kein Gegensatz zwischen Anbetung und Diakonie zu beobachten sei: Der gerechte Mensch lasse Gott in sich wirken; damit lasse der gerechte Mensch auch die Gerechtigkeit in sich wirken. Das diakonische Element, die caritas, sei neben liturgia and martyria ein Grundvollzug der Kirche. Eckhart weite das Kirchenverständnis seiner Zeit über enge Grenzen hinaus, da nur die Weitung in Gott eine. Diese Einung könne und dürfe sich nicht nur in der Liturgie niederschlagen, sondern müsse sich in der Zuwendung zum Nächsten zeigen. Insbesondere Eckharts Christologie, die die Menschwerdung Gottes in jedem Menschen, nicht nur im Christen, ins Zentrum göttlicher Zuwendung stellt, bedeute, dass die Kirche in die Menschheit verlagert werde. Eckhart fasse die Kirche universal, binde sie an das Inkarnatorische und verleihe ihr damit zugleich eine Bodenständigkeit. An Eckharts Christologie als zentrale Bedingung seines caritas-Verständnisses schloss sich auch die Frage von Eckharts möglicher Bedeutung für die Schöpfungstheologie und Schöpfungsverantwortung der heutigen Kirche an: Die Geburt Christi in der Kreatur und in die Kreatur hinein zeigen das Ineinander und die Untrennbarkeit von Christusglauben und Schöpfungsglauben.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der Diskussion fokussierte auf das öffnende Kirchenverständnis Eckharts: Mit seiner mit credere ecclesiam und nicht mit credere in ecclesiam zu beschreibenden Perspektive auf Kirche zeige sich, dass Eckhart sich in einer tausendjährigen Tradition gesehen habe, die Kirche in- und nicht exkludierend versteht.
Auch wenn Eckhart selbst die Kirche nicht explizit problematisiere, bestehe doch bei genauer Hinsicht die Möglichkeit, die in seiner Theologie zutage tretende Auffassung von der unio mystica, der Einheit zwischen Gott und dem Individuum als Teil der Gemeinschaft der Heiligen, zu aktualisieren. Heutige Probleme nur aus der Gegenwart zu behandeln, führe zu einem Zirkelschluss, während der ferne Spiegel der Vergangenheit und die historische Verfremdung stets Anlass zur Reflexion gebe und infolgedessen die Möglichkeit eröffne, die Gegenwart klarer zu sehen und Perspektiven zu entwickeln. Die Tagung wurde von den Diskussionsteilnehmern auch deswegen als sehr hilfreich zur Beschäftigung mit den heutigen Pro-
blemen der Kirche(n) empfunden, weil offene persönliche Stellungnahmen ausgelöst und Probleme angesprochen wurden, die zunächst nur scheinbar in Meister Eckhart projiziert wurden: Bei genauerem Hinsehen kann sich Meister Eckharts Theologie als Brennspiegel erweisen, der eine Fokussierung erleichtert und Problemlösungen aufscheinen lässt.
VI.
Dass wir aber überhaupt in der Lage sind, Eckharts Werke und damit auch seine Aussagen zur Kirche zu lesen oder in den Akten seines Prozesses zu studieren, ist zu einem immensen Anteil das Verdienst Loris Sturleses. Ihm wurde während der Tagung der zum dritten Mal vergebene Meister-Eckhart-Forschungspreis verliehen. Aus der Laudatio durch die Vorsitzende des Preiskuratoriums, Regina D. Schiewer:
„Loris Sturlese hat mit dem Abschluss der lateinischen Werke Eckharts eine herkuleische Leistung erbracht, die im besten Sinne philologisch-mediävistische Grundlagenforschung ist. Aber er ist noch einen Schritt weiter gegangen, denn die Grundlagen müssen auch für die Forschung verfügbar und erschwinglich sein. Konsequenterweise begann er 2016 mit einer Studienausgabe der lateinischen Werke, die mittlerweile in zwei Bänden vorliegt. Parallel dazu legte er eine Auswahlausgabe mit 64 der deutschen Predigten Eckharts nach dem Kirchenjahr in italienischer Übersetzung vor.
Der editorische Kraftakt wurde seit den frühen achtziger Jahren von Forschungsbeiträgen zu Eckhart und seinem dominikanischen Umfeld aus philosophiegeschichtlicher Perspektive eskortiert. Eine Vielzahl der Beiträge finden sich in dem 2007 erschienenen Sammelband Homo divinus. Philosophische Projekte in Deutschland zwischen Meister Eckhart und Heinrich Seuse. Loris Sturlese lehrt uns darin, Eckhart im Kontext zu lesen und zu verstehen. Er ist ein inspirierender Lehrer und das Vorbild eines Gelehrten, der sich nicht scheut, Verantwortung zu übernehmen, Verantwortung als Präsident der Società Italiana per lo Studio del Pensiero Medievale (Italienischen Gesellschaft zur Erforschung des Mittelalterlichen Denkens) (2001–2007), als Assesseur und Vizepräsident der Société Internationale pour l‘ Étude de la Philosophie Médiévale (Internationalen Gesellschaft zur Erforschung der Mittelalterlichen Philosophie) (seit 2003) und als Mitherausgeber des Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi und der Quaderni del Centro di cultura medievale della Scuola Normale Superiore di Pisa.
Wie ehren mit dem Preis einen beeindruckenden und zugleich bescheidenen Gelehrten, eine der ganz großen Persönlichkeiten der Eckhartforschung und gratulieren herzlich.“