1963 bis 1965: Fritz Bauer und der Auschwitz-Prozess

As part of the event "Historical Days 2019", 06.03.2019

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Der Auschwitz-Prozess war der größte und bis dahin längste Mordprozess in der deutschen Rechtsgeschichte. Verhandelt wurde zwischen Dezember 1963 und August 1965 über die Massenverbrechen an Juden und anderen Verfolgtengruppen im nationalsozialistischen Staat. In allen Details trat im Gerichtssaal das Grauen im Lagerkomplex zu Tage. Die Aufmerksamkeit für den Prozess war groß, Zeitungen in aller Welt berichteten darüber. Im Folgenden geht es um einige Wesensmerkmale des Verfahrens, um den zeitgeschichtlichen Kontext, in dem es stattfand, und um seine historisch-politische Bedeutung für den Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen in der Bundesrepublik Deutschland.

 

Prozessinitiativen

 

Dass der Auschwitz-Prozess in Gang kam, war in hohem Maße auf Fritz Bauer zurückzuführen. Er setzte sich dafür ein, nicht nur um für die strafrechtliche Ahndung der Untaten zu sorgen, sondern auch weil er die kritische Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen für eine Grundvoraussetzung der Demokratiefähigkeit der Bundesbürger hielt. Als junger Amtsrichter in Stuttgart wurde Bauer im Dritten Reich verfolgt, weil er Sozialdemokrat und Jude war. Er kam gleich im Frühjahr 1933 für acht Monate ins Konzentrationslager Heuberg auf der Schwäbischen Alb, verließ das Deutsche Reich 1936, floh nach Dänemark und von dort 1943 nach Schweden. Im Jahr der Gründung der Bundesrepublik kehrte er aus dem Exil zurück, mit dem festen Willen, seinen Beitrag leisten zu wollen, damit ein auf Demokratie und Freiheit gründender Staat entstehen würde.

Bereits der erste große Prozess, den Bauer als Generalstaatsanwalt in Braunschweig initiierte (er trat das Amt 1950 an), erregte öffentliche Aufmerksamkeit: der Prozess gegen Otto Ernst Remer, einen ehemaligen Wehrmachtsoffizier, der daran beteiligt gewesen war, den Umsturzversuch vom 20. Juli 1944 niederzuschlagen. Remer rief nach dem Krieg die neonazistische Sozialistische Reichspartei ins Leben und scheute sich nicht, die Männer und Frauen des Widerstands vom 20. Juli öffentlich zu verunglimpfen. Fritz Bauer brachte Otto Ernst Remer wegen Beleidigung vor Gericht, und es gelang ihm, die Widerstandskämpfer gegen den NS-Staat postum zu rehabilitieren; Remer wurde 1952 zu einer dreimonatigen Haftstrafe verurteilt (der er sich allerdings durch Flucht ins Ausland entzog). Das Gericht schloss sich Fritz Bauers Auffassung an, dass das nationalsozialistische Regime ein „Unrechtsstaat“ gewesen sei.

Auf Wunsch des hessischen Ministerpräsidenten Georg August Zinn (SPD) ging Fritz Bauer 1956 als Generalstaatsanwalt nach Hessen und nahm seinen Dienstsitz in Frankfurt am Main. In Bezug auf die Täter von Auschwitz wurde er sofort aktiv, als er 1959 von Thomas Gnielka, einem Journalisten der Frankfurter Rundschau, Dokumente bekam, die dieser wiederum von dem Auschwitz-Überlebenden Emil Wulkan erhalten hatte: Listen mit den Namen von Häftlingen, die vorgeblich „auf der Flucht“ erschossen worden waren; auch die Namen der SS-Schützen standen darauf. Diese Listen, von Wulkan am Ende des Krieges aus dem SS- und Polizeigericht in Breslau geborgen (daher Breslauer Dokumente genannt), waren von Lagerkommandant Rudolf Höß unterschrieben und von dessen Adjutanten Robert Mulka abgezeichnet. Für Fritz Bauer waren die Dokumente von größter Bedeutung, auf ihrer Basis leitete er Ermittlungen gegen das SS-Personal von Auschwitz ein.

Etwa zur selben Zeit kamen in Stuttgart (nach einigem Zögern) ebenfalls Ermittlungen in Gang. Auch hier gab ein ehemaliger Häftling von Auschwitz entscheidende Anstöße: Adolf Rögner wandte sich im März 1958 aus der Haft (er war straffällig geworden) in einem Brief an die Stuttgarter Staatsanwaltschaft und teilte mit, er wisse, wo sich Wilhelm Boger aufhalte, ein einstiger SS-Funktionär in der Politischen Abteilung des KZ Auschwitz. Rögner schickte seine Informationen gleichzeitig an das Internationale Auschwitz-Komitee, die Vereinigung der Überlebenden des Lagers. Dessen Generalsekretär Hermann Langbein, ein gebürtiger Wiener und ebenfalls Häftling in Auschwitz, besaß als ehemaliger Lagerschreiber und als Mitglied des Lagerwiderstands Kenntnisse über das Geschehen in Auschwitz wie kaum ein anderer.

Die Staatsanwaltschaft Stuttgart reagierte allerdings zunächst nicht auf Rögners Informationen, denn der galt als notorischer Lügner. Das Auschwitz-Komitee war außerdem als kommunistisch verschrien, weshalb die Justizbehörden sich nicht auf die Zusammenarbeit mit Hermann Langbein einlassen wollten. Es dauerte ein halbes Jahr, bis die Justizbehörden schließlich doch aktiv wurden. Dies nicht zuletzt deshalb, weil Langbein handfeste Beweise gegen Boger, den Erfinder der Boger-Schaukel vorlegte, einer grausamen Foltermethode im KZ Auschwitz. Noch eine dritte Institution entwickelte zur selben Zeit Aktivitäten: die Zentrale Stelle in Ludwigsburg begann mit Vorermittlungen gegen Angehörige der Lager-Gestapo und einige der Ärzte in Auschwitz.

Fritz Bauer holte im Juni 1959 sämtliche Ermittlungen in Sachen Auschwitz mit dem Einverständnis des Bundesgerichtshofs an das Landgericht Frankfurt am Main. Er hielt nichts davon, viele kleine Einzelprozesse anzustoßen, vielmehr ging es ihm darum, einen einzigen großen Prozess gegen möglichst viele Angeklagte in die Wege zu leiten. Rasch gelang nun Festnahme um Festnahme: Noch 1959 kam Oswald Kaduk in Haft, einer der brutalsten SS-Männer von Auschwitz. Auch Victor Capesius wurde festgenommen, der Leiter der Lagerapotheke. Im Jahr darauf konnten Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz, außerdem Höß‘Adjutant Robert Mulka und Josef Klehr, der leitende Sanitäter im Häftlingskrankenbau Auschwitz, verhaftet werden.

Die Frankfurter Staatsanwälte machten mehrere Hundert Überlebende von Auschwitz ausfindig und befragten sie als Zeugen, was aufwendig war, zumal im Kalten Krieg keine offizielle Zusammenarbeit mit den Justizbehörden in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang möglich war; aber immerhin bestanden informelle Kontakte. Mit Bedacht betraute Fritz Bauer zwei junge Staatsanwälte mit den Ermittlungen, Joachim Kügler und Georg Friedrich Vogel. Bauer wollte zeigen, dass in der west-deutschen Justiz, deren Reihen ja in hohem Maße mit einstigen Nationalsozialisten durchsetzt waren, eine junge, unbelastete Generation die kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit vorantreiben würde.

Der Aufwand für die ermittelnden Staatsanwälte und ihre Unterstützer war hoch, zumal die zeithistorische Forschung sich Anfang der sechziger Jahre noch kaum mit dem Massenmord an den europäischen Juden und dem System der Konzentrations- und Vernichtungslager befasst hatte. An Studien, auf die sie sich hätten stützen können, mangelte es daher. Die Staatsanwaltschaft legte schließlich dennoch ihre Anklage vor – auf über 700 Seiten. 24 Personen wurden wegen Mordes und Beihilfe zum Mord vor Gericht gestellt. Da Richard Baer während der Untersuchungshaft verstorben war, war Robert Mulka nun derjenige mit dem einstmals höchsten SS-Rang und daher der Hauptangeklagte.

Hans Hofmeyer, im „Dritten Reich“ Richter an einem Erbgesundheitsgericht, eröffnete das Verfahren „gegen Mulka und andere“ am 20. Dezember 1963. Es begann im Plenarsaal des Frankfurter Römer, dem Sitzungssaal der Stadtverordneten im historischen Rathaus; Anfang April 1964 zog das Gericht in das neu erbaute Haus Gallus um, was so geplant war, denn dort befand sich der größere Saal. Die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit begleitete den Prozess von Beginn an.

 

Auschwitz und die Alliierten

 

Zwischen der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz im Januar 1945 und dem Beginn des Prozesses lagen fast 20 Jahre. Wie wurde in dieser Zeit mit den Verbrechen umgegangen? Insgesamt taten etwa 7 000 Männer und Frauen im Stammlager Auschwitz und seinen etwa 40 Nebenlagern Dienst für die SS. Schätzungen zufolge waren zu Kriegsende noch mindestens 6 300 von ihnen am Leben. Etwa 1 000 wurden zwischen 1946 und 1949 aufgespürt, die meisten in der amerikanischen Zone des besetzten Deutschland. Die alliierten Militärgerichte führten kein spezielles Verfahren wegen Auschwitz durch, aber SS-Wachleute des Lagers standen in gleich mehreren KZ-Prozessen der Alliierten unter Anklage. Denn viele waren gegen Ende des Krieges im Zuge der Auflösung der Lager in den Grenzregionen des Deutschen Reiches in die Konzentrationslager im Reichsinneren versetzt und dort von den Befreiern später gefangengenommen worden.

So wurden im Bergen-Belsen-Prozess, dem ersten alliierten KZ-Prozess, der zwischen September und November 1945 im britisch besetzten Lüneburg stattfand, Josef Kramer, Lagerkommandant in Auschwitz-Birkenau und später in Bergen-Belsen, außerdem Franz Hössler, Schutzhaftlagerführer im Stammlager Auschwitz und im Frauenlager Birkenau, und die beiden Auschwitz-Aufseherinnen Elisabeth Volkenrath und Irma Grese zum Tod durch den Strang verurteilt. In den Dachauer Prozessen, die im November 1945 begannen, verhängte ein amerikanisches Militärgericht die Todesstrafe über mehrere SS-Leute von Auschwitz, darunter Vinzenz Schöttl, den Schutzhaftlagerführer in Monowitz, Otto Moll, den Leiter der Krematorien in Birkenau, und SS-Lagerarzt Friedrich Entress.

Ein französisches Militärgericht bestrafte im Natzweiler-Prozess Friedrich Hartjenstein, Kommandant von Auschwitz-Birkenau, mit dem Tod, ebenso Heinrich Schwarz, den Kommandanten des Lagers Monowitz. Auch im Mauthausen-, Buchenwald- und Ravensbrück-Prozess standen SS-Leute von Auschwitz vor Gericht.

Knapp 700 ehemalige Wachleute des Lagers wurden von den Alliierten gleich nach Kriegsende an Polen ausgeliefert. Hier mussten sich die ranghöchsten SS-Funktionäre verantworten: Kommandant Rudolf Höß und sein Nachfolger Arthur Liebehenschel.

Höß wurde im April 1947 nach einem Urteil des Obersten Nationalen Tribunals in Warschau auf dem Gelände des Stammlagers Auschwitz unweit seiner einstigen Kommandanten-Villa hingerichtet. Liebehenschel stand gemeinsam mit 39 weiteren Mitgliedern der Lager-SS in Krakau vor dem Obersten Nationalen Tribunal. Er und 22 weitere Angeklagte wurden zum Tod verurteilt, das Urteil wurde im Dezember 1947 vollstreckt.

Vor einem britischen Militärgericht musste sich im März 1946 die Führung der Hamburger Firma Tesch und Stabenow verantworten, die das KZ Auschwitz mit Zyklon B beliefert hatte, jenem Blausäuregift, mit dem dort insgesamt zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen ermordet wurden, die meisten von ihnen Juden. Firmeneigentümer Bruno Tesch und sein Geschäftsführer wurden zum Tod verurteilt und hingerichtet. Auch die Techniker der Firma Topf und Söhne in Erfurt, die die Vernichtungsanlagen in Birkenau gebaut hatten, erregten die Aufmerksamkeit der Alliierten. Der Verfolgungsdruck gegen die Verbrecher von Auschwitz und ihre Helfer ließ jedoch erheblich nach, als die bundesdeutschen Justizbehörden dafür zuständig wurden, sie zur Rechenschaft zu ziehen.

 

Vergangenheitspolitik in West-Deutschland

 

Mit der Gründung der Bundesrepublik hielt die Exkulpation schwerbelasteter NS-Täter Einzug in das Rechtssystem. Die Politik ihrer Amnestierung, Rehabilitation und gesellschaftlichen Integration begann. Bereits Mitte der Fünfziger fanden so gut wie keine Ermittlungen wegen nationalsozialistischer Verbrechen mehr statt. Gesuche der polnischen Justizbehörden um Auslieferung von NS-Verbrechern wurden schon seit 1950 nicht mehr beantwortet. Viele in Auschwitz tätig gewesene Mediziner kamen im vergangenheitspolitischen Klima der fünfziger Jahre in den Genuss politischer Rücksichtnahmen.

Nutznießer der neuen Lage waren auch die Manager des IG Farben-Konzerns, die im Lager Monowitz, dem größten Nebenlager von Auschwitz, Tausende von Häftlingen zur Zwangsarbeit rekrutiert hatten. Zwar mussten sie sich im Rahmen der Nürnberger Nachfolgeprozesse noch verantworten, jedoch wurden viele entweder freigesprochen oder nur zu kurzen Haftstrafen verurteilt. Nicht wenige stiegen in der euphorischen Atmosphäre des Wirtschaftswunders rasch in hohe Positionen der west-deutschen Industrie auf.

Jedoch zeichnete sich Ende der fünfziger Jahre auch eine andere Entwicklung ab. Eine zunehmende Sensibilisierung für die Verbrechen setzte ein, was an dem Umstand lag, dass unter den Spätheimkehrern aus der Sowjetunion mehrere Hundert nachweislich schwerbelastete NS-Verbrecher waren. Nachrichten darüber lösten öffentliche Empörung aus. So stand das Thema in der politischen Diskussion bald unter neuen Vorzeichen, und justizielle Ermittlungen kamen in Gang, wenn auch zunächst noch eher zufällig.

Unter großem Medieninteresse begann Ende April 1958 in Ulm der Prozess gegen die Mitglieder eines SS-Einsatzkommandos, denen zur Last gelegt wurde, im Sommer 1941 im deutsch-litauischen Grenzgebiet 5 000 Juden erschossen zu haben, darunter Frauen, Kinder und alte Leute. Am Ende wurden die Angeklagten zwar nicht wegen Mordes, sondern nur wegen gemeinschaftlicher Beihilfe zum Mord verurteilt. Aber mit dem Prozess waren Ausmaß und Brutalität der Verbrechen offensichtlich geworden. Dass die Taten bislang weder bekannt noch geahndet waren, löste allenthalben Bestürzung aus. Der Ulmer Prozess zeuge von dem Umstand, schrieb Ernst Müller-Meiningen in der Süddeutschen Zeitung, dass Gerichtsverfahren gegen NS-Täter „Zufallsprodukte einer Zufallsjustiz“ seien.

Mehrere Zeitungen forderten nun, die Bundesrepublik habe die juristischen Ermittlungen endlich auf eine systematische Grundlage zu stellen. Eine kleine, kritische Minderheit setzte sich vehement gegen den eingetretenen Ahndungsstillstand ein. In hohem Maße trug auch der propagandistische Druck aus Ost-Berlin zu einem Umdenken im Westen bei. Die DDR leitete 1957/58 ihre Kampagne gegen „Hitlers Blutrichter in Adenauers Diensten“ ein. Angeprangert wurde die hohe Elitenkontinuität, die insbesondere in der west-deutschen Justiz auszumachen war.

Fast alle Richter und Staatsanwälte, die vor 1945 aktiv gewesen waren, hieß es, befanden sich hier seit Anfang der fünfziger Jahre wieder in Amt und Würden. Die Enthüllungen und die mitgelieferten handfesten Beweise riefen in der Bundesrepublik eine kritische Öffentlichkeit auf den Plan. Politisch aktive Studenten und Studentinnen prangerten die bestehenden Verhältnisse an und riefen nach der personellen Säuberung der Justiz. Medienvertreter forderten, die NS-Belastungen der Richterschaft und anderer Berufsgruppen nicht länger zu bagatellisieren.

Die Justizminister der Länder gerieten so unter Druck, dass sie 1958 den Beschluss fassten, eine zentrale Ermittlungsbehörde in Sachen NS-Verbrechen einzurichten. Noch im selben Jahr entstand in Ludwigsburg die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen. Sie war dafür zuständig, den Massenmord an den europäischen Juden und die Verbrechen in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sowie den Ghettos im deutsch besetzten Europa aufzuklären und Vorermittlungen zu führen. Kam ein Verfahren zustande, so gab Ludwigsburg die Ermittlungen an die zuständige Staatsanwaltschaft ab. Die Juristen in der Zentralen Stelle nahmen ihre Arbeit umgehend auf. Sie hatten viel zu tun, zumal ihre Behörde stetig unterbesetzt war. Was ihre Tätigkeit zusätzlich erschwerte, war die Feindseligkeit aus dem eigenen Berufsstand. Nicht selten mussten sich die Ludwigsburger Juristen als „Nestbeschmutzer“ beschimpfen lassen.

 

Der Prozess und die Öffentlichkeit

 

Anders als im Nürnberger Prozess gegen die „Hauptkriegsverbrecher“ standen beim Auschwitz-Prozess keine namhaften Repräsentanten des NS-Staates vor Gericht. Angeklagt waren in Frankfurt vielmehr die Handlanger und Exekutoren der Massenvernichtung, darunter SS-Offiziere, Mitglieder der Lager-Gestapo, KZ-Aufseher, Sanitäter, einige Ärzte, der Lagerapotheker, der Verwalter der Kleiderkammer und ein ehemaliger Kapo, also ein Funktionshäftling, der der SS zugearbeitet hatte. Die Angeklagten waren unauffällige Leute, hatten nach dem Krieg in bürgerlichen Berufen wieder Fuß gefasst, beispielsweise als Kaufleute, Angestellte und Unternehmer, viele genossen soziales Ansehen.

Zeitungen brachten ausführliche Porträts über sie, beispielsweise Die Welt, die Frankfurter Rundschau, die Süddeutsche und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Der Prozess erreichte die Öffentlichkeit von Beginn an und wurde weithin wahrgenommen. Rundfunk und Fernsehen veröffentlichten Begleitdokumentationen. Rasch erschienen auch Bücher: Hermann Langbein, der nach internen Querelen seit Mitte 1960 nicht mehr Generalsekretär des Auschwitz-Komitees war, protokollierte den Prozess akribisch und veröffentlichte seine zweibändige, eindringliche Prozessdokumentation gleich 1965. Bernd Naumann, Gerichtsreporter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, publizierte seine Reportagen als Buch unter dem Titel Bericht über die Strafsache gegen Mulka und andere.

Viele namhafte Journalisten schrieben ebenfalls über das Verfahren, darunter Axel Eggebrecht, Ralph Giordano, Dietrich Strothmann, Inge Deutschkron und Martin Warnke. Schriftsteller, Philosophen und Publizisten kamen hinzu, darunter Marie Luise Kaschnitz, Martin Walser und Günter Grass. Während des Prozesses fand Ende 1964 in der Frankfurter Paulskirche eine medial vielbeachtete und gut besuchte Ausstellung zum Thema Auschwitz – Bilder und Dokumente statt. Auch in der Kunst schlug sich der Prozess nieder: Peter Weiss schrieb sein bekanntes Stück „Die Ermittlung. Ein Oratorium in 11 Gesängen“, in das er Aussagen integrierte, die im Gerichtssaal gefallen waren. Damit kam das Auschwitz-Verfahren auch auf die Theaterbühnen, zudem als gesamtdeutsches Projekt: Im Oktober 1965 wurde Die Ermittlung parallel an 15 Häusern in West- und in Ost-Deutschland aufgeführt.

Mit Schrecken konstatierten Prozessberichterstatter, dass die Auschwitz-Täter ihre Schuld nicht eingestanden. Die Angeklagten bestritten vor Gericht zwar nicht, dass im Lager täglich gemordet wurde, dass Selektionen stattfanden, also die „nicht arbeitsfähigen“ Häftlinge ausgesondert und in den Gaskammern ermordet wurden. Aber sie lehnten es ab, persönliche Verantwortung dafür zu tragen und beteuerten ihre Unschuld.

Fritz Bauer erwartete sich vom Prozess breite gesellschaftliche Wirkung und, wie er sagte, die „Bewältigung der Vergangenheit“. Er wollte, dass der Prozess nicht nur dazu diente, die Schuldigen zu bestrafen, sondern dass die Vergegenwärtigung des Grauens auch außerhalb des Frankfurter Gerichtssaals möglichst viele Menschen erreichte.

Die „Selbstaufklärung“ der deutschen Gesellschaft, von der er oft sprach, war ganz im Sinne seines demokratischen Rechtsbewusstseins sein erhofftes Ziel. Er setzte sich auch damit dafür ein, es zu erreichen, indem er Historiker vom Institut für Zeitgeschichte München als Sachverständige bestellte, die vor Gericht den historisch-politischen Kontext der Verbrechen von Auschwitz ausleuchteten. Die vier Wissenschaftler Hans Buchheim, Helmut Krausnick, Hans-Adolf Jacobsen und Martin Broszat legten dem Frankfurter Gericht ihre Expertise dar. Sie führten unter anderem aus, wie die nationalsozialistische Machtapparat funktionierte, befassten sich mit der Organisation und der Mentalität der SS, dem System der Konzentrationslager und der Gewaltpolitik in Polen. Ihre Gutachten lieferten die wissenschaftliche Grundlage für den Prozess. Unter dem Titel Anatomie des SS-Staates wurden sie noch 1965 in zwei Bänden publiziert – ein zeithistorischer „Besteller“.

Im Zentrum des Auschwitz-Prozesses stand die Zeugenbefragung. Mehr als 200 Überlebende des Lagers aus 19 verschiedenen Ländern sagten vor Gericht aus. Dass sie dazu bereit waren, war vor allem Hermann Langbein zu verdanken, der die meisten von ihnen ausfindig gemacht hatte und sie davon überzeugen konnte, ihren Beitrag zur Verurteilung der Angeklagten zu leisten. Für viele Überlebende war es seit Kriegsende die erste Wiederbegegnung mit Deutschen. Den Angeklagten gegenüberzutreten und sich den peinigenden Verhören ihrer Verteidiger auszusetzen war für sie eine hohe nervliche Belastung.

Dass sich im eisigen Klima des Kalten Krieges im Dezember 1964 schließlich eine Gerichtsdelegation auf die Reise nach Polen machte, ist erstaunlich, vor allem angesichts der außenpolitischen Umstände, unter denen der Auschwitz-Prozess stattfand. Denn diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik Polen bestanden in der Bundesrepublik zu dieser Zeit nicht. Die Ortsbesichtigung im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz bildete den juristischen und politischen Höhepunkt des Prozesses. Bei Kapitalverbrechen war es im deutschen Rechtswesen üblich, dass ein Gericht den Tatort in Augenschein nahm, vor allem, wenn keine Geständnisse vorlagen.

Dass die Fahrt tatsächlich zustande kam, war auf das Engagement von Henry Ormond, einem Vertreter der Nebenklage, und dasjenige seines polnischen Kollegen Jan Sehn zurückzuführen, dem Direktor des Kriminologischen Instituts der Universität Krakau. Die Bundesregierung in Bonn unterstützte das Vorhaben, geleitet von der Hoffnung, der Auschwitz-Prozess werde das deutsche Ansehen im Ausland verbessern. Bis zu 300 Journalisten aus ganz Europa, aus den USA und Israel machten die Ortsbesichtigung zum publizistischen Großereignis.

Die Fahrt nach Oświęcim/Auschwitz hatte für den Prozess zentrale Funktion, denn sie ermöglichte es, Fakten zu überprüfen und zu konkretisieren. Evident war nun beispielsweise, dass das Stammlager, anders als von Angeklagten im Gericht vorgebracht, keineswegs zu groß war, als dass man nicht hätte wissen können, was dort vor sich ging. Vielmehr war das Lagergelände von jedem Wachturm aus zu überblicken. Aus Dachluken, Gucklöchern und durch die Ritzen der Holzbalken vor den Fenstern konnten Häftlinge beobachten, was geschah – ganz so, wie es Zeugen geschildert hatten.

Am Ende des Prozesses standen von den ursprünglich 24 Angeklagten noch 20 vor Gericht. Zwei waren verstorben, einer aus gesundheitlichen Gründen für verhandlungsunfähig erklärt worden, und ein Verfahren wurde abgetrennt. Im August 1965 verkündete Hans Hofmeyer nach 183 Prozesstagen das Urteil. Sechs Angeklagte wurden zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt, elf erhielten Zeitstrafen und drei wurden freigesprochen.

Die Freigesprochenen waren Johann Schobert von der Politischen Abteilung des KZ Auschwitz, außerdem Sanitätsdienstgrad Arthur Breitwieser und Zahnarzt Willy Schatz. Lebenslänglich erhielten Stefan Baretzki, Blockführer der Strafkompanie, der Funktionshäftling Emil Bednarek, Wilhelm Boger von der Politischen Abteilung, Franz Hofmann, Schutzhaftlagerführer und Lagerführer des Zigeunerlagers, außerdem Rapportführer Oswald Kaduk und Sanitätsdienstgrad Josef Klehr. Auf 14 Jahre lautete das Urteil für Robert Mulka, den ranghöchsten Angeklagten; 1968 wurde er wegen Haftunfähigkeit entlassen, im Jahr darauf starb er. Zehn Jahre erhielt Ludwig Stark von der Politischen Abteilung, neun Jahre der Lagerapotheker Viktor Capesius, mit sieben Jahren wurden Karl Höcker, Adjutant unter Kommandant Baer, und Willi Frank, der Leiter der Zahnstation bestraft, sechs Jahre erhielt Kommandoführer Bruno Schlage, fünf Jahre Klaus Dylewski von der Politischen Abteilung, vier Jahre und sechs Monate Sanitätsdienstgrad Herbert Scherpe, vier Jahre Pery Broad von der Politischen Abteilung, drei Jahre und sechs Monate Sanitätsdienstgrad Emil Hantl und drei Jahre und drei Monate der Lagerarzt Franz Lucas.

 

Folgen des Prozesses

 

Hofmeyer betonte in seiner Urteilsbegründung, das Frankfurter Schwurgericht sei nicht berufen, „die Vergangenheit zu bewältigen“. Anders als Fritz Bauer richtete er den Fokus nicht auf die historische Bedeutung des Verfahrens und auch nicht auf die gesellschaftliche „Selbstaufklärung“ in der Bundesrepublik. Dem Gericht war es ihm zufolge vielmehr darum gegangen, die Schuld der Angeklagten zu bewerten.

Hier schloss sich das Urteil insofern dem Gutachten von Hans Buchheim an, als erklärt wurde, die Angeklagten könnten sich nicht auf einen Befehlsnotstand berufen. Nach Buchheim handelten die Täter, anders als sie darstellten, nicht aus einer Notlage heraus, sondern aus Überzeugung, Ehrgeiz, Bequemlichkeit und ähnlichen Motiven. Das Gericht schloss sich aber auch den Ansichten der Verteidigung an, denn es befand, das Schicksal der ins Lager Deportierten sei ohnehin schon besiegelt und ihr Tod nicht abzuwenden gewesen, weshalb den Angeklagten kein eigener Tatwille zu attestieren sei.

Die juristische Bedeutung des Auschwitz-Prozesses lag am Ende in dem Umstand, dass erstmals von einem deutschen Gericht festgestellt wurde, wie der Massenmord in Auschwitz vonstatten- gegangen war. Durch die wissenschaftlichen Gutachten, die Zeugenaussagen, die historischen Dokumente und die Ortsbesichtigung wurde das Gesamtgeschehen erfasst, so dass ein klares Bild von der arbeitsteilig organisierten Massenvernichtung entstehen konnte. Die Systematik des Mordens trat im Prozess ebenso zu Tage wie die Funktionsweise des bürokratischen Apparats der SS, und auch die Lebensbedingungen der Häftlinge kamen ans Licht.

Der Frankfurter Prozess lenkte den Blick zudem auf die Deutschen und die west-deutsche Gesellschaft. Fritz Bauer, der sich viel von der öffentlichen Wirkung des Verfahrens versprach, war die Begleitung durch die Medien, die Kunst und die historische Wissenschaft besonders wichtig. Tatsächlich war das Interesse der Öffentlichkeit groß. Mehrere Tausend Zuhörer besuchten den Prozess, Lehrer und Lehrerinnen kamen mit ihren Schulklassen. Es besteht kein Zweifel: Nach dem Prozess war es in der Bundesrepublik so gut wie unmöglich, nichts über das Vernichtungslager Auschwitz zu wissen.

Wie vor allem die jüngere Generation auf den Prozess reagierte, ist schwer zu sagen. Folgt man den Meinungsumfragen vom Dezember 1963 und August 1964, so zeigt sich, dass sich trotz des großen öffentlichen Interesses auch eine gewisse Müdigkeit einstellte. In Umfragen votierten die Befragten mehrheitlich für einen Schlussstrich unter die Ermittlungen gegen NS-Täter. Aber viele Befragte, etwa 40 Prozent, verlangten eben doch, die juristische Verfolgung fortzuführen.

Fritz Bauer war der Ansicht, dass alle, die im Lager Auschwitz tätig gewesen waren, sich am systematischen Massenmord verantwortlich beteiligt hatten und daher wegen Mordes zu verurteilen seien. Die Verbrechen von Auschwitz waren für ihn keine Summe von Einzelereignissen, und der Massenmord ließ sich nach seiner Auffassung eben nicht in einzelne Episoden auflösen. Vom Urteil war er daher enttäuscht. Indem das Gericht das Geschehen in Einzeltaten zerlegte, entschärfte es seiner Ansicht nach die Bedeutung von Auschwitz.

Besonders kritisierte er die Problematik „Täterschaft“ und „Beihilfe“. Dass den Angeklagten vom Gericht ein „irrendes Gewissen“ zugebilligt wurde und sie als „Gehilfen“ galten, hielt er für unhaltbar. Bauer war insgesamt unzufrieden darüber, dass es im Prozess nicht gelungen war, die Hürden des deutschen Strafrechts zugunsten einer konsequenten Ahndung und Aufklärung der Verbrechen zu überwinden.

Als er kurz vor seinem 65. Geburtstag im Juli 1968 starb, ließ sich die langfristige gesellschaftliche und politische Bedeutung des Auschwitz-Prozesses noch nicht absehen. Was er mit dem Prozess tatsächlich erreicht hatte, war ihm nicht bewusst. Der Auschwitz-Prozess, das lässt sich heute klar sagen, war der historisch-politisch wichtigste Versuch, die Taten strafrechtlich zu ahnden, darüber hinaus gab er den entscheidenden Anstoß zur breiten politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den NS-Massenverbrechen.

Im April 2013 überraschte die Zentrale Stelle Ludwigsburg mit der Nachricht, dass sie 50 Angehörige des Wachpersonals von Auschwitz-Birkenau ausfindig gemacht und Vorermittlungen gegen sie wegen Beihilfe zum Mord eingeleitet habe. Noch immer also ließen und lassen sich Personen finden, deren in Auschwitz begangene Taten nie gesühnt wurden. Dass nun gegen sie ermittelt werden kann, ist auf den Prozess gegen John Demjanjuk zurückzuführen, der 2011 vom Landgericht München verurteilt wurde, weil er Teil der Vernichtungsmaschinerie im Lager Sobibor war. Zwar starb Demjanjuk, bevor das Urteil rechtskräftig wurde, dennoch bedeutet es eine wichtige Korrektur in der Geschichte der Rechtsprechung mit Blick auf die NS-Verbrechen: Die individuelle Tatbeteiligung muss nun nicht länger nachgewiesen, der Tatwille nicht mehr belegt werden, denn es gilt: Wer in welcher Funktion auch immer in einem Vernichtungslager tätig war, hat sich am systematischen Massenmord beteiligt. Fritz Bauer vertrat diese Anschauung schon in den sechziger Jahren.

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