I.
Der Katholischen Akademie in Bayern – vor mehr als 60 Jahren auf Initiative von Kardinal Wendel von dem unvergessenen Prälaten Karl Forster begründet – sei Dank gesagt. 100 Jahre nach dem Ende des Ersten, 80 Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkrieges, 70 Jahre nach der Verkündung des Grundgesetzes, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes, unternehmen Sie mit dieser Tagung den Versuch, am Beispiel ausgewählter Themenfelder, Wegmarken und Trends in der Geschichte der Bundesrepublik von 1949 bis 1989 aufzuzeichnen. Zu Recht erinnert sie dabei auch an den 82. Deutschen Katholikentag in Essen, 1968. Seine Vorgeschichte, sein Verlauf und seine unmittelbare Folge – die Würzburger Synode –, haben eine dieser Wegmarken gesetzt, an die zu Recht erinnert werden sollte. Ich bedanke mich für die ehrenvolle Aufgabe, und ich hoffe, Sie nicht allzu sehr zu enttäuschen.
Im Dezember 1965 – drei Jahre vor dem Essener Katholikentag – war in Rom das von Johannes XXIII. zur allgemeinen Überraschung einberufene und von Paul VI. geschlossene Zweite Vatikanische Konzil zu Ende gegangen. Deutsche Kardinäle und deutsche Berater hatten an ihm entscheidend mitgewirkt.
Papst Johannes wollte ein Konzil, das die Kirche auf die Zukunft ausrichten sollte. Er wollte am Übergang in eine neue Zeit einen Schritt nach vorne machen. Er wollte die Fenster der Kirche zur Welt weit öffnen. „Aggiornamento“, „Heutig werden“ war sein Schlüsselwort. Aber vom Himmel gefallen ist das Konzil nicht. Ohne die vorausgehenden kirchlichen Erneuerungsbewegungen, ohne die nach dem Zweiten Weltkrieg vorsichtig einsetzende ökumenische Bewegung wäre das Konzil nicht denkbar gewesen. Sie waren für die Umsetzung des Konzils von großer Wichtigkeit.
Vor allem vier Dokumente des Konzils sollten entscheidende Bedeutung gewinnen.
- Das Dekret über die Laien, das ein neues Bild vom Weltauftrag der Christen, von der Teilhabe am allgemeinen Priestertum
- Die Pastoralkonstitution Lumen gentium über die Kirche in der Welt von heute, die erstmals dem Dienst an der Welt Eigenständigkeit
- Das Dekret zur Religionsfreiheit und zur Ökumene – Dignitas Humanae –, das neue Hoffnungen für ein Zusammenwirken der Kirchen und aller Religionsgemeinschaften weckte.
- Und insbesondere die Pastoralkonstitution Gaudium et spes, das wohl am meisten beachtete Dokument des Konzils, das ein neues Bild vom Volk Gottes zeichnet.
Die Neugestaltung der Liturgie, ein neues Verhältnis der katholischen Kirche zu anderen Religionen, das Bekenntnis zur Religionsfreiheit und ein neues Verhältnis der Kirche zum Staat mit einem klaren Bekenntnis zur Demokratie sollten ihre unmittelbarsten Folgen sein.
Das Ende des Konzils löste zunächst für einige Jahre auch in Deutschland eine Phase des Aufbruchs aus. Die deutschen Katholiken befanden sich in einer fast euphorischen Stimmung und setzten hohe Erwartungen in die baldige Verwirklichung der Beschlüsse vor Ort. Jedermann berief sich auf den Geist des Konzils, ein neues Kapitel der Kirchengeschichte schien aufgeschlagen.
Theologen wie Karl Lehmann, Walter Kasper und Joseph Ratzinger führten das Wort. Vor allem die Liturgiereform und der Auf- und Ausbau der Räte beschäftigten uns. Was wir – von Romano Guardini angeregt und von den Jesuiten gefördert – zum Beispiel im ND – dem Bund Neudeutschland – schon lange praktizierten, wurde im Gottesdienst zur Regel: Im Kanon der Messe die deutsche Sprache, die Handkommunion, der Hochaltar kam außer Mode, der Priester zelebrierte versus populum. Hier in München, in Sankt Laurentius, bei den Oratorianern und dem späteren Weihbischof Tewes als Pfarrer und Ingo Hermann als Kaplan, wo Romano Guardini zunächst seine letzte Ruhestätte fand, haben wir uns nach 1960 Sonntag für Sonntag versammelt. Aber bald wurde auch die Sorge geäußert, der konziliare Aufbruch könnte zu langsam erfolgen und gar wieder versanden. Enttäuschung machte sich breit. Ängstlichkeit und Zurückhaltung griffen um sich, die Polarisierung nahm zu. Man sprach von einer nachkonziliaren Krise.
II.
Schon zur Zeit des Konzils in den frühen 60er Jahren geriet die internationale Politik in heftige Bewegung. Auch in Deutschland kündigten sich seit der Mitte der 60er Jahre tiefgreifende Veränderungen der Großwetterlage an.
Adenauer war 1966 von Erhard abgelöst worden; populär aber führungsschwach. Eine Rezession schreckte die Wohlstandsbürger, die NPD erreichte beunruhigende Wahlerfolge, die große Koalition unter Kiesinger (1966-1969) brachte erste Veränderungen der deutschen Außenpolitik. Die Nachkriegszeit ging zu Ende. Die Kriegsgeneration trat ab. Die ab 1963 geführten und sich bis in die 70er Jahre hinziehenden Auschwitz-Prozesse rückten die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus in den Vordergrund. Mit der Gründung der Bundesrepublik hatten die Katholiken ihren „unsicheren Untermieterstatus“ im Deutschen Reich verlassen. Sie waren nicht mehr in der Minderheit. Sie waren in der Mitte der Gesellschaft angekommen und hatten schon auf die Gestaltung des Grundgesetzes erheblichen Einfluss genommen. Sie stellten einen großen Anteil am politischen Spitzenpersonal.
Die katholische Soziallehre beeinflusste vor allem die Wirtschafts- und Sozialpolitik
und die Familienpolitik. Auch das sollte sich ändern. „Dem Establishment wurde der Kampf angesagt.“ (Hans Maier)
Ende Mai 1968 verabschiedet der Deutsche Bundestag mit der für die Grundgesetzänderung notwendigen Zweidrittelmehrheit die lange Zeit heftig umstrittene Notstandsverfassung. In Frankreich kommt es zu bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Die Verwicklung der USA in den Vietnamkrieg spaltet die amerikanische Nation. Am 20. August – zwei Wochen vor Beginn des Katholikentages – marschierten Truppen des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei ein. Das Ende des Prager Frühlings.
In Deutschland wurden vor allem die Universitäten zum Schauplatz der Veränderungen. Der von den USA ausgehende, schließlich weltweite Aufbruch, führte zu einem bisher nicht gekannten Generationenkonflikt. Der Wunsch, anders zu leben, sich anders zu kleiden, der Wunsch nach sexueller Freizügigkeit, der Wunsch, überkommene Ordnungsvorstellungen infrage zu stellen, der Wunsch, Autorität zu hinterfragen, brach sich Bahn. An den Universitäten artikulierte sich lautstarker Protest. Beteiligung, Mitsprache, Parität wurden gefordert. Heftige Kontroversen bestimmten den Alltag. Proteste gingen in offene Gewalttätigkeit über. Am 11. April 1968 wird Rudi Dutschke bei einem Mordanschlag schwer verletzt. Während der Ostertage kommt es in der ganzen Bundesrepublik zu heftigen Demonstrationen und vor allem in Berlin zu massiven Störungen. Sie sollten der Bewegung ihren Namen geben.
Ich selbst war im Mai 1967 völlig überraschend zum Kultusminister von Rheinland-Pfalz berufen und damit ins kalte Wasser geworfen worden. Georg Pichts dramatische Warnung vor einer „deutschen Bildungskatastrophe“ hatte in der Öffentlichkeit ein beispielloses Echo gefunden. Eine lange, leidenschaftliche, hoch emotionale Auseinandersetzung um Schule und Hochschule nahm mich voll in Beschlag. Ich versuchte das Gespräch mit der aufgewühlten Studentenschaft nicht abreißen zu lassen und wenigstens den Versuch zu unternehmen, mich der Diskussion zu stellen, und das Feld nicht den revolutionären Kadern zu überlassen. Abend für Abend sprach ich an einer anderen Universität, bedauerlicherweise meist nur unter Polizeischutz. Ich gewöhnte mich daran, dass mein eigens für diese Gelegenheit vorbehaltener Anzug regelmäßig mit Eiern und Tomaten beworfen wurde.
Wir haben damals viel gelernt. Vieles von dem, was im Rückblick als Verdienst der 68er erschienen war, war in Wahrheit das Ergebnis unserer Kritik an ihnen. Aber, dass Studenten sich engagierten und sich energisch zu Wort meldeten, dass sie die Erneuerung der Universität zu ihrem Thema gemacht haben, wird das Verdienst dieser Studentengeneration bleiben. Die Revolte der 68er hat uns gelehrt, was auf dem Spiel stehen kann, wenn offensichtliche Mängel zu spät erkannt und Reformen zu spät in Angriff genommen werden.
III.
Schon der Katholikentag von Hannover im August 1962 lenkte die Aufmerksamkeit auf das eben eröffnete Konzil. Zwei Jahre später widmete sich der Katholikentag von Stuttgart 1964 unter Bezug auf die entsprechende Pastoralkonstitution dem Thema „Kirche in der Welt von heute“ und die liturgischen Impulse des Konzils wurden aufgegriffen. Auf dem Bamberger Katholikentag 1966 gibt Bernhard Hanssler die Parole aus, es gelte das Konzil einzudeutschen! Eine breite Diskussion setzte ein. Der Wunsch nach gemeinsamer, verantwortlicher Meinungsbildung wurde artikuliert. Vor allem in der jungen Generation bildeten sich Gruppen, die das Konzil nicht als Vertiefung ihres Welt- und Kirchenbildes, sondern als Anlass für eine grundsätzliche Revision ihres Bildes von Kirche und Welt sahen. Die Forderung nach einer Demokratisierung der Kirche wurde laut.
Das Zentralkomitee der deutschen Katholiken greift die Aufforderung Hansslers auf und will den bevorstehenden 68. Katholikentag der „Eindeutschung“ des Konzils widmen und beginnt ihn frühzeitig gründlich und umfassend vorzubereiten. „Mitten in der Welt“ sollte sein Leitwort sein. Der zweite Hauptteil der Pastoralkonstitution Gaudium et spes, über die Kirche in der Welt von heute, sollte im Mittelpunkt stehen. Es sollte sowohl um die Kirche als um die Welt gehen. Mit sechs großen Foren – „Diese Welt und Gottes Wort“, „Ehe und Familie“, „Kultur“, „Wirtschaft und Gesell- schaft“, „Unser Staat“, „Friede und Völkergemeinschaft“ – sollte die Vielzahl der Themen, die mit der neuen Verantwortung der Laien in Kirche und Welt zusammenhingen, mit Referaten eingeleitet und anschließend in 27 Forumsgesprächen diskutiert werden.
Das Ergebnis sollte schließlich in einem gemeinsamen Großforum zusammengefasst werden.
Der Katholikentag sollte ein fragender Katholikentag sein. Alle Fragen sollten gestellt werden dürfen. Unsere Devise hieß: „Offen und vorbehaltlos hören und sprechen.“ Im Mai 1968 erschien eine erste Vorbereitungsillustrierte unter dem Titel K‘68, mit dem Aufmacher Vorübergehend Großbaustelle. 500 Fachleute wurden zu einer Arbeitstagung eingeladen, aus der ein Fragenkatalog mit nicht weniger als 1.750 Fragen erwuchs, der den Teilnehmern vorgelegt werden sollte. In der katholischen Studentenschaft bildeten sich erste Arbeits- und Aktionskreise. Unser Fragenkatalog wurde von ihnen als „Manipulierungsversuch“ und die breite Auffächerung aller Fragenkomplexe in 27 Foren als „Ablenkungsmanöver“ diskreditiert. Das Aktionskomitee Kritischer Katholizismus kündigte gezielte Protestaktionen auf dem Katholikentag an, versprach allerdings auch, keine Gewalt gegen Personen und Sachen ausüben zu wollen. Ihr Ziel sei eine sozialistische Gesellschaft und eine demokratische Gesellschaft von Christen.
Wir und das Essener Lokalkomitee schienen bestens gerüstet zu sein. Aber es sollte anders kommen. Der Essener Katholikentag sollte für mich, den man zum Katholikentags-Präsidenten berufen hatte, zur Feuertaufe meines Engagements in meiner Kirche werden. Wenige Wochen vor Beginn des Katholikentages, Ende Juli 1968, veröffentlichte Papst Paul VI. seine Enzyklika Humanae Vitae, in der er sich gegen das Mehrheitsvotum einer von ihm eingesetzten Kommission erneut für das Verbot künstlicher Mittel zur Empfängnisverhütung entschied. Sie entfachte unter den deutschen Katholiken einen bis dahin nicht gekannten Sturm der Entrüstung und wurde zum alles beherrschenden Thema. Ein heftiger, so bisher noch nicht gekannter innerkirchlicher Streit brach los. Die Autorität des Papstes stand zur Disposition. Die kurz danach von den deutschen Bischöfen verabschiedete Königsteiner Erklärung, die die Gewissensentscheidung jedes Katholiken in Fragen der Empfängnisverhütung postulierte, dämpfte die Erregung, beruhigte sie aber nicht.
Wir versuchten Kurs zu halten. Der Spiegel stellte mir in einem Interview die Frage „Wird Papst und Pille das Hauptthema des Katholikentags sein?“ Meine Antwort: „Wir wollen einen Katholikentag, der freimütigen Diskussion und wir wollen niemanden am Reden hindern.“
Die erstrebte „Eindeutschung“ des Konzils sollte sich als schwieriger als erhofft erweisen.
Schon in der Eröffnungsveranstaltung in der Essener Grugahalle schallten uns Sprechchöre der „außerhierarchischen Opposition“, wie sie sich in Anspielung an die „außerparlamentarische Opposition“ nannte, entgegen. Was ihr an Mitgliedern fehlte, machte sie durch ihre Lautstärke mehr als wett. Es gab einen bisher nicht gekannten Drang vieler Teilnehmer, Arbeitskreise und Foren mit Resolutionen abzuschließen.
Die Diskussionen sollten nicht im Sande verlaufen, sondern Geltung erlangen. Das stieß auf unseren entschiedenen Widerstand. Wir wollten verhindern, dass aus kirchlicher Meinungsbildung kirchliche Willensbildung wurde. Die 120-jährige Tradition der vom Zentralkomitee veranstalteten deutschen Katholikentage als Forum öffentlicher Meinung in der Kirche sollte erhalten bleiben und auch künftig fortbestehen. Sie waren im 19. Jahrhundert auf der Basis des bürgerlichen Koalitionsrechtes als vom Zentralkomitee veranstaltete Laientage entstanden. Aus Katholikentagen sollten nicht Kirchentage werden. Aber: Uns war ebenso klar, die Beteiligung der Laien an der Willensbildung bedurfte anderer, neuer synodaler Strukturen. In diesem Sinne hatte ich in der Eröffnungsveranstaltung unter starkem Beifall und vielen Buhrufen die Tür für einen weiteren öffentlichen Meinungsaustausch aufgestoßen und ausgeführt, dass dieser Katholikentag keine Heerschau, keine Demonstration sein will, die die Meinungen der Vielen nicht in wenige Sätze einer Resolution zwingen möchte.
Flugblätter, Transparente, Sprechchöre, Go-ins und Sit-ins waren Ausdruck der spannungsgeladenen und aufgewühlten Atmosphäre. Kaum ein Referent, auch kaum ein Bischof konnte seine Meinung ungestört vortragen. Unvergessen die schlagfertige Reaktion des Essener Bischofs Hengsbach, als eine Gruppe junger Protestierer vor seinem Haus den Ruf skandierte: „Hengsbach wir kommen, wir sind die linken Frommen.“ Seine Antwort war: „Wenn Ihr nicht nur links seid, sondern wirklich fromm: Herzlich willkommen!“
Die Großforen und die Forumsgespräche fanden höchst unterschiedliche Aufmerksamkeit. Während die Großforen zu „Welt und Gotteswort“ und zu „Ehe und Familie“ und vor allem die anschließenden Forumsgespräche mit mehreren tausend Teilnehmern aus allen Nähten platzten und zum Teil wegen Überfüllung geschlossen werden mussten, fanden andere Foren, trotz zum Teil besonders hochkaratiger Besetzung, wesentlich weniger Beteiligung. Ein Teil der Veranstaltungen verlief ruhig und sachlich, ein Teil verlief spannungsgeladen, lautstark und turbulent.
Das Forum „Ehe und Familie“ stand ganz im Zeichen der Enzyklika. Spruchbänder und laute Parolen begleiteten die Diskussion: „Sündig statt mündig“, „gehorsam und neurotisch“, „sich beugen, zeugen“. Mit einer übergroßen Mehrheit (3000:90:58) wurde eine Resolution verabschiedet. Die Teilnehmer könnten den lehramtlichen Aussagen zur Empfängnisverhütung nicht folgen und verlangten eine „grundsätzliche Revision der päpstlichen Lehre“. Ein Ende der Straffreiheit von Vergewaltigung in der Ehe und die Streichung des Paragraphen 175 wurden gefordert.
Ein besonderes Problem bereitete uns die Botschaft des Papstes. Sie wurde üblicherweise im sonntäglichen Festgottesdienst vorgetragen. Um eine Störung der Messe um jeden Preis zu verhindern, entschlossen wir uns, Kardinal Döpfner zu bitten, sie erst in der damals noch üblichen Abschlusskundgebung am Sonntagmittag zu verlesen.
Der Essener Katholikentag wurde zu einem Medienereignis, wie kein Katholikentag zuvor. 424 in- und ausländische Journalisten ließen sich akkreditieren. Die Resonanz der Presse füllte 14 Ordner mit 2.538 Ausschnitten. Der Funk brachte 63 Sendungen von insgesamt 17 Stunden, das Fernsehen strahlte 17 Stunden Life-Sendungen, Aufzeichnungen und Berichte aus.
In meinem kurzen Schlusswort bei der Abschlusskundgebung habe ich versucht, ein erstes vorläufiges Resümee zu ziehen: „Wir Laien haben uns deutlich zu Wort gemeldet.“ – „Diese Tage haben die erstrebte Konfrontation gebracht. Offen und ehrlich, oft hart und unerbittlich, leidenschaftlich und mitunter mitgerissen von der Heftigkeit vorgetragener Argumente, haben wir miteinander gearbeitet. Der Anspruch, den wir damit an uns selbst richten, ist beträchtlich. Wer in Essen war weiß, dass unter den Katholiken nicht trügerische Stille, nicht müde Weltabgewandtheit, nicht träges Beharren herrschen, sondern Wachheit, Aufbruch und der energische Wille, uns mitten in dieser Welt für den Frieden, für den Mitmenschen, für die Kirche zu engagieren.“
In der Tat, Essen war anders. Essen markiert einen Wendepunkt. „Essen war der Beginn einer neuen Periode des deutschen Katholizismus“, schrieb eine niederländische Tageszeitung. In einem bisher nicht gekannten Ausmaß entlud sich die aufgewühlte Atmosphäre der späten 60er Jahre auch in der Katholischen Kirche. Die Katholiken nahmen teil an den sich ankündigenden Entwicklungen und Veränderungen.
Essen hat die Katholikentage verändert. Die 81 Katholikentage vor Essen verliefen anders als die 19 Katholikentage danach. Zunächst griff eine gewisse Müdigkeit – bei einigen wohl auch Angst – um sich. Die Teilnehmerzahlen sanken. Skeptiker sagten – wieder einmal – ihr baldiges Ende voraus. Aber in den 80er Jahren erlebten sie einen neuen Aufschwung. Die Botschaft der Kirche wurde vielschichtiger, kontroverser, uneinheitlicher. Keine Heerschau mehr, ein Markt der Möglichkeiten, ein ungezwungenes, weltoffenes, facettenreiches, fröhliches, aber auch unverbindliches Fest.
Der 101. Katholikentag in Münster, im Mai letzten Jahres, hat es eindrucksvoll bewiesen. Von der Ortswahl und dem Wetter begünstigt, war er besucht wie lange nicht mehr (53.000 Dauer- und mehr als 35.000 Tagesteilnehmer). Nicht nur Foren und Podien, auch fast alle Gottesdienste konnten die Teilnehmer nicht fassen. In heiterer Grundstimmung setzte er deutlich ökumenische Akzente, widmete sich erstaunlich unaufgeregt innerkirchlichen Problemen und vermied politische Schärfen. Jeder konnte sagen was er wollte.
IV.
Wir waren entschlossen, die weitere Entwicklung nach Essen nicht treiben zu lassen, sondern das Steuer selbst in der Hand zu behalten und die konziliare Erneuerung fortzusetzen. Schon während des Katholikentages, am Samstagnachmittag in einem Café in der Essener Innenstadt, waren wir – Kardinal Döpfner, Fritz Kronenberg und ich – uns einig: Es muss zu einer Synode der Bundesrepublik Deutschland kommen. Der Gedanke lag in der Luft, schon vor und erst recht während des Katholikentages war die Forderung, einen Nationalkonvent zu berufen, laut geworden. Bald nach dem Katholikentag wurde ein Antrag der CAJ (Junge Christliche Arbeitnehmer) auf die baldige Einberufung einer Pastoralsynode vom BDKJ aufgenommen. Kardinal König hatte bereits im Herbst 1965 die Einberufung einer österreichischen National- synode angeregt. Eine niederländische Pastoralsynode war schon im November 1966 eröffnet worden.
Auch heute noch bleibt es bemerkenswert, mit welcher Entschlossenheit, in welch erstaunlich kurzer Zeit die Idee einer gemeinsamen Synode vom deutschen Episkopat in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit dem Zentralkomitee geplant und umgesetzt worden ist; dass es gelang, den Kairos der allgemeinen Unruhe unter den Katholiken nach dem Konzil und nach dem Katholikentag in produktive Bahnen zu lenken und die Synode auf den Weg zu bringen. Insbesondere der Tatkraft Kardinal Döpfners, hinter dem sich die Deutsche Bischofskonferenz einmütig versammelte, der Tatkraft des eng mit der Entwicklung des Zentralkomitees verbundenen Essener Bischofs Hengsbach, aber auch des geistlichen Direktors des Zentralkomitees, Klaus Hemmerle, dem späteren Bischof von Aachen, sowie Karl Forster, dem Sekretär der Bischofskonferenz, und Friedrich Kronenberg, dem Generalsekretär des Zent- ralkomitees, ist das zu verdanken.
Bereits im November 1968 fand ein gemeinsames erstes Gespräch zur Auswertung der Erfahrungen des Essener Katholikentages von Bischofskonferenz und Zentralkomitee statt. Eine gemeinsame Studiengruppe wird eingesetzt. Im Februar 1969 fasst die Vollversammlung der Bischofskonferenz den Grundsatzbeschluss, „eine gemeinsame Synode der Diözesen in der Bundesrepublik Deutschland“ vorzubereiten, die der Verwirklichung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils in Deutschland dienen sollte. Im November beschließt die Bischofskonferenz das Statut der Synode. Wenige Wochen später liegt die Zustimmung des Heiligen Stuhles und das Einverständnis mit dem von den kanonischen Vorschriften, die eine solche Synode nicht vorsieht, abweichenden Statut vor. Ja, Rom bekundet sogar sein Interesse am Modellcharakter der vorgesehenen Synode. Am 3. Januar 1971 tritt die Synode erstmals zusammen. Nach sieben Vollversammlungen schloss sie im Januar 1975 mit 18 Beschlüssen und sechs Arbeitspapieren für die weitere kirchliche Arbeit in Deutschland. Auch ganz konkrete Anordnungen wurden beschlossen, zum Beispiel, dass in jeder Pfarrgemeinde ein Pfarrgemeinderat mit einer Amtszeit von vier Jahren zu bilden ist, dass Frauen der Zugang zu lei- tenden Positionen in kirchlichen Dienststellen zu öffnen ist.
Der Synodenbeschluss Die Verantwortung des ganzen Gottesvolkes für die Sendung der Kirche enthält die Anordnung, eine „gemeinsame Konferenz“ von Bischofskonferenz und Zentralkomitee zu bilden; Zwölf Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz und zwölf Mitglieder des Zentralkomitees. Sie soll die in der Zeit der Vorbereitung der Synode fruchtbar gewordene enge Verbindung fortsetzen und die Durchführung der Beschlüsse des Zweiten Vatikanischen Konzils begleiten. In den ersten Jahren nach der Synode gelang das, wegen des zu meiner Zeit nur sehr zurückhaltenden Interesses einiger Bischöfe, nur bedingt. In letzter Zeit allerdings kam es unter dem Drang der aktuellen Herausforderungen zu einer erfreulichen Wiederbelebung.
Auch den Synodenbeschluss zur Ordnung der Schiedsstellen und Verwaltungsgerichte der Bistümer heute noch einmal nachzulesen, könnte sich lohnen. Die damals beschlossene Kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit (KVGO) sieht vor, das unterschiedliche diözesane Recht zu ordnen und ein oberes Verwaltungsgericht auf der Ebene der Bischofskonferenz – von drei Priestern und zwei Laien gebildet – einzurichten. Sie ist bis heute nicht umgesetzt, gewinnt aber angesichts des Missbrauchsskandals, der auch eine Überprüfung der rechtlichen Verfassung unserer Kirche bedarf, neue, aktuelle Bedeutung.
Die Synode wurde durch das Statut zu einem institutionalisierten, zu einem gemeinsamen Dialog von Laien, Priestern, Ordensleuten und Bischöfen. Dem Statut kam besondere, für die Struktur der Synode entscheidende Bedeutung zu. Mit ihm wurde Neuland betreten. Erstmals gehörten neben Bischöfen, Priestern und Ordensleuten Laien in einem ausgewogenen Verhältnis einer Kirchenversammlung an (58 Bischöfe – 88 Priester – 30 Ordensleute – 141 Laien). Für die Annahme einer Vorlage in der Schlussabstimmung war eine Zweidrittelmehrheit erforderlich. Über sie verfügten weder die Kleriker noch die Laien.
Der Text der Sachkommission I mit dem Titel Unsere Hoffnung. Ein Bekenntnis zum Glauben in unserer Zeit wird zum Grundtext der Synode. Bis zur physischen Erschöpfung wird um fast jeden Satz gekämpft. Die Wirksamkeit dieses faszinierenden Textes liegt in seiner Fähigkeit, die Tröstungskraft des christlichen Glaubens neu aufleuchten zu lassen. Die Gegenwart und ihre Schwierigkeit werden ernst genommen. Das eigene Versagen wird eingestanden. Aber der Verzagtheit und dem Unvermögen wird der Optimismus der Glaubenswahrheit entgegengestellt.
Die Synode sollte entscheidende Weichen für die Zukunft stellen. Man sollte ihren Ertrag weder überhöhen noch unterschätzen, auch wenn manche Ergebnisse der Synode noch immer auf ihre Verwirklichung warten und die meisten Voten an den Vatikan bis heute unbeantwortet geblieben sind; unter ihnen der Wunsch, Frauen zum Diakonat zuzulassen, die Zurücksetzung nicht ehelicher Kinder zu beseitigen, in bestimmten Fällen wiederverheiratete Geschiedene zur Kommunion zuzulassen. Die Synode ist zu einer Sternstunde der Kirche in der Bundesrepublik geworden. Ohne Konzil kein Essener Katholikentag, ohne Essener Katholikentag keine Synode!
Den Katholiken in der DDR blieb die Mitwirkung an der Synode versagt. Aber die Pastoralsynode der Jurisdiktionsbezirke in der DDR (1973-1975) – das einzige katholische Ereignis dieser Art im gesamten kommunistischen Herrschaftsbereich – wurde trotz aller Bedrängnis zu einem Ort der innerkirchlichen Öffentlichkeit.
Heute bekennt sich Papst Franziskus zur Synodalität als konstitutive Dimension der Kirche. „Kirche und Synode sind Synonyme.“ Laien, Hirten und der Bischof von Rom sollen gemeinsam vorangehen. Mich beunruhigt, ja bedrückt es, wie schwer sich heute die Deutsche Bischofskonferenz tut, diese Aufforderung aufzugreifen und die Freiräume einer regionalen Bischofskonferenz zu nutzen; z. B. dem Vorschlag von vier deutschen Bischöfen, erneut einen synodalen Prozess einzuleiten, zu folgen und der Gewaltenteilung in der Kirche zum Durchbruch zu verhelfen. Die Herausforderungen von heute gelten allen Bistümern gemeinsam, und sie sind nur unter gemeinsamer Beteiligung zu lösen. Sie sind nur gemeinsam von allen Mitgliedern der Kirche zu lösen.
Aber es ist nicht meine Aufgabe den Bogen zur Gegenwart zu schlagen, über Wegmarken und Trends von heute zu sprechen. Dafür bedarf es einer eigenen Veranstaltung Ihrer Akademie. Möglichst bald. Nicht erst in 50 Jahren.