Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten

Dynamiken von Sicherheit und Frieden im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges

As part of the event "Historical Days 2019", 06.03.2019

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I.

 

Rund 500.000 Menschen versammelten sich am 22. Oktober 1983 im Bonner Hofgarten zu einer Friedensdemonstration, wie sie die Bundesrepublik noch nicht erlebt hatte. Ihr Protest richtete sich gegen die atomare Rüstung ganz allgemein, ganz besonders aber gegen die Stationierung amerikanischer nuklearer Mittelstreckenwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik sowie in anderen Staaten Westeuropas. Prominente Redner, unter ihnen der SPD-Vorsitzende und ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt, die Friedensaktivistin Petra Kelly oder der Schriftsteller Heinrich Böll, ergriffen das Wort.

Doch nicht nur in Bonn versammelten sich am 22. Oktober 1983 Angehörige der Friedensbewegung, um gegen die Raketenstationierung zu demonstrieren. Überall in Westdeutschland kam es zu Kundgebungen und Protestaktionen. Rund 300.000 Menschen – eine gewaltige Zahl – bildeten zwischen Stuttgart und Neu-Ulm, in der Nähe von geplanten Stationierungsorten, eine Menschenkette von über 100 Kilometern Länge. Ganz ohne jede Frage kommt dem Herbst 1983 in der Protestgeschichte der Bundesrepublik eine ganz besondere Rolle zu.

Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), der ein Jahr zuvor durch ein konstruktives Misstrauensvotum den Sozialdemokraten Helmut Schmidt im Kanzleramt abgelöst hatte, dessen Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP im März 1983 durch Wahlen bestätigt worden war und der wie sein Vorgänger die Stationierung befürwortete, verließ an jenem 22. Oktober mit dem Hubschrauber das Bonner Kanzleramt. Auf seinen Wunsch hin drehte der Pilot noch eine Runde über dem Hofgarten. „Wenn Sie da sitzen, fragen Sie sich ja schon – hast Du recht und alle diese unrecht“, soll Kohl in dieser Situation seinen Begleitern gegenüber geäußert haben. Doch Kohls Zweifel, wenn es denn welche waren, hielten nicht lange an. Genau einen Monat nach der großen Bonner Demonstration, am 22. November 1983, stimmte der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsparteien und einiger einzelner Sozialdemokraten der Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen auf dem Gebiet der Bundesrepublik zu, die kurze Zeit später begann.

Die Nachrüstungskrise der Jahre um 1980 war einer der Höhepunkte ost-westlicher Spannungen nach 1945. Sie war an Konfrontativität und Brisanz durchaus den dramatischen Krisen des frühen Kalten Kriegs vergleichbar, insbesondere den Krisen um Berlin (1958/59, 1961) und Kuba (1962). Sie stand im Zentrum des „Zweiten Kalten Krieges“, jener neuen Phase ost-westlicher Konfrontation nach der Phase der Entspannung seit Ende der 1970er Jahre, war aber zugleich nur noch wenige Jahre vom Ende des Kalten Kriegs, vom Fall der Mauer, der deutschen Wiedervereinigung und der Überwindung des Ost-West-Konflikts entfernt.

Die Bedeutung der Raketenkrise, wie sie auch genannt wird, liegt aber nicht nur im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern sie ist in der Geschichte der Bundesrepublik auch von erheblicher innenpolitischer und gesellschaftlicher Bedeutung. Mit ihr verbindet sich der Entwicklung der Friedensbewegung zu einer Massenbewegung, personell und inhaltlich, insbesondere in der Atomkritik, eng verbunden mit der Umweltbewegung, sowie, damit zusammenhängend, der Aufstieg der Grünen als politische Partei. Spätestens mit dem Einzug der neuen Partei in den Bundestag 1983 wandelte sich das westdeutsche Parteiensystem zu einem Vierparteiensystem.

Die Nuklearkrise der Jahre um 1980 trug aber auch zum Regierungswechsel von 1982 bei, zu dem es auch deswegen kam, weil Bundeskanzler Helmut Schmidt, wie sein Nachfolger Kohl ein Befürworter der Raketenstationierung, in seiner eigenen Partei zunehmend isoliert war, was sein Gewicht in der Koalitionskrise mit der FDP Hans-Dietrich Genschers reduzierte. In der Zeit um 1980 wird die enge Verknüpfung innenpolitischer beziehungsweise gesellschaftlicher sowie außenpolitischer Entwicklungen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges sichtbar, der letztlich seit Gründung des westdeutschen Staates tief in Innenpolitik und Gesellschaft der Bundesrepublik hineinragte. Auch darin liegt die Bedeutung der Entwicklungen um das Jahr 1980.

 

II.

 

Der „Zweite Kalte Krieg“ hatte sich seit Mitte der 1970er Jahre abzuzeichnen begonnen. Während sich die USA nach dem Vietnamkrieg in einer Schwächephase befanden, betrieb die Sowjetunion unter dem Schirm nuklearer Rüstungskontrollvereinbarungen eine aggressive Aufrüstungspolitik. Auch in der „Dritten Welt“, vorwiegend in Afrika, trat sie politisch und militärisch auf den Plan. Vor diesem Hintergrund befürchtete Bundeskanzler Schmidt, dass sich eine Verschiebung des weltpolitischen Gleichgewichts früher oder später auch auf die Situation in Europa auswirken würde.

In Europa ging es um ein wachsendes Ungleichgewicht bei konventionellen Waffen, mehr noch aber um die sogenannte eurostrategische Nuklearrüstung der UdSSR. Moskau hatte nämlich begonnen, die alten sowjetischen Kernwaffen mittlerer Reichweite (500 bis 5000 Kilometer) durch moderne Waffensysteme vom Typ SS-20 zu ersetzen. Dem hatte der Westen nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Nicht nur für Helmut Schmidt war das eine politische Gefahr. Wenn Westeuropa von der Sowjetunion nuklear bedroht wurde, ohne im Sinne der Abschreckung angemessen darauf reagieren zu können, dann war die Sicherheitslage auf beiden Seiten des Atlantiks nicht mehr gleich.

Würden die USA im Zweifelsfalle mit ihren interkontinentalen Nuklearwaffen auf einen sowjetischen Angriff auf Westeuropa reagieren und sich dadurch dem Risiko atomarer Vernichtung aussetzen? In dieser Situation nutzte der deutsche Bundeskanzler im Oktober 1977 eine Rede vor dem Internationalen Institut für strategische Studien (IISS) in London, um die sicherheitspolitischen Eliten des Westens auf die politische Bedeutung des europäischen nuklearen Gleichgewichts aufmerksam zu machen.

Der amerikanische Vorschlag, den europäischen Interessen durch die Stationierung einer neuartigen Waffe, der Neutronenwaffe, zu entsprechen, scheiterte. Der SPD-Politiker Egon Bahr bezeichnete diese Atomwaffe als „Perversion des Denkens“, weil sie Menschen tötete, militärisches Gerät jedoch intakt ließ. Die Debatte über die Neutronenwaffe trug dennoch zur Neuformierung der Friedensbewegung insbesondere in der Bundesrepublik bei. Den Rüstungsgegnern ging es dabei nicht nur um das politische Ziel, an der Entspannungspolitik festzuhalten, sondern auch um eine grundsätzliche Kritik an nuklearen Waffen und an einer Sicherheitspolitik, die auf der Existenz von Kernwaffen beruhte, einer Verteidigungsstrategie, die auf nuklearen Vernichtungsdrohungen beruhte.

Aus diesem Grund richtete sich der Protest der Friedensbewegung bald auch gegen den NATO-Doppelbeschluss, auf den sich die westlichen Staaten am 12. Dezember 1979 verständigten. Dieser Beschluss sah zu einen – als Reaktion auf die sowjetische Raketenmodernisierung – die Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen vor, die von Westeuropa aus Ziele in der Sowjetunion erreichen konnten. Beschönigend, aber in der Sache zutreffend, sprach man von „Nachrüstung“. Zugleich enthielt der Beschluss ein Angebot an die UdSSR, in Verhandlungen über den Abbau der sowjetischen SS-20-Systeme einzutreten, um die Stationierung abzuwenden.

Nach dem NATO-Doppelbeschluss verschlechterte sich das ost-westliche Klima dramatisch. Am 27. Dezember 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein, um dort ein pro-sowjetisches Marionettensystem zu installieren. Heute wissen wir, dass vor allem die islamische Revolution im Iran Moskau zu der Invasion veranlasst hat, weil man eine politische Islamisierung der zentralasiatischen Sowjetrepubliken befürchtete, für die Afghanistan das Einfallstor hätte bilden können. Die USA und in ihrem Gefolge die Bundesrepublik reagierten auf den Einmarsch in Afghanistan mit dem Boykott der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau.

Dennoch begannen 1980 erste amerikanisch-sowjetische Sondierungsgespräche über die nukleare Rüstung im Mittelstreckenbereich, wurden jedoch nach dem Wahlsieg des Republikaners Ronald Reagan bei den Präsidentschaftswahlen 1980 wieder abgebrochen. Nach Reagans Amtsübernahme verschlechterten sich die Beziehungen weiter. Für die Gespräche zwischen USA und Sowjetunion, Ende 1981 wieder aufgenommen, waren das keine guten Rahmenbedingungen. Die sowjetische Delegation verließ schließlich den Verhandlungstisch in Genf, als im sich 1983 die Stationierung der amerikanischen Waffensysteme abzeichnete. Es herrschte Eiszeit.

In der Bundesrepublik unterstützte die sozialliberale Koalition den Kurs der NATO beziehungsweise der USA. Doch für Kanzler Schmidt wurde es zunehmend schwieriger. Gelang es ihm zunächst noch, seine eigene Partei auf seinen sicherheitspolitischen Kurs und insbesondere den Doppelbeschluss festzulegen, so bröckelte dieser Rückhalt ab, je näher die Stationierung rückte und je massiver und breiter der gesellschaftliche Protest dagegen wurde. Auf dem Bundesparteitag der SPD 1983 – wenige Monate nach dem Ende von Schmidts Kanzlerschaft – stimmten von 400 Delegierten nur noch 13 mit Helmut Schmidt für den Doppelbeschluss.

Die weitere politische Entwicklung im Zusammenhang mit der NATO-Nachrüstung ist rasch erzählt: Die Regierung Kohl/Genscher, die im Oktober 1982 die Amtsgeschäfte übernahm, bekannte sich eindeutig zum NATO-Doppelbeschluss und damit zur Stationierung nuklearer Mittelstreckenwaffen auf deutschem Boden. Die vorgezogenen Bundestagswahlen von 1983, erreicht durch eine verfassungsrechtlich umstrittene Vertrauensfrage des Bundeskanzlers, brachten CDU/CSU und FDP eine klare Mehrheit, der Union mit 48,6 Prozent der Stimmen sogar ihr zweitbestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik (nach der absoluten Mehrheit von 1957).

Allerdings waren die Wahlen von 1983 kein Plebiszit zur Stationierung nuklearer Waffen; vielmehr bestimmten andere Themen, insbesondere der Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, das Wahlverhalten. Dennoch gab es im Bundestag nunmehr eine solide Mehrheit für die Stationierung. Nachdem es bis in den Herbst 1983 zu Verhandlungslösung zwischen Washington und Moskau gekommen war, stand der Bundestag vor dem Stationierungsbeschluss. Vor genau diesem Hintergrund kam es zu dem eingangs beschriebenen Massenprotest u.a. in Bonn, der jedoch den Parlamentsbeschluss nicht verhindern konnte.

 

III.

 

Die Friedensbewegung war die größte außerparlamentarische Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik. Im Laufe des Jahres 1983 gelang es ihr, Hunderttausende von Deutschen gegen die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenwaffen zu mobilisieren. Das gemeinsame Protestanliegen – die Friedensbewegung war eine single issue-Bewegung – einte die heterogenen, politisch, gesellschaftlich und kulturell ganz unterschiedlichen Protestgruppen. Nach der Bundestagsentscheidung vom November 1983 verlor die Bewegung mit ihrer Mobilisierungsfähigkeit rasch auch ihre breitere soziale Basis. In ihrer Bedeutung reicht sie dennoch über die frühen 1980er Jahre und das konkrete rüstungspolitische Anliegen hinaus.

Trotz ihrer Heterogenität fand die Friedensbewegung gerade 1982/83 zu einer enormen Geschlossenheit ihres Handelns. Ihr koordinierendes und repräsentierendes Zentrum war der Koordinationsausschuss, der in Bonn angesiedelt war. Dieser Ausschuss führte die unterschiedlichen Spektren der Friedensbewegung zusammen und gab ihnen dadurch größere, insbesondere bundespolitische Wirkungskraft. Trotz aller Überschneidungen und Wechselwirkungen lassen sich idealtypisch fünf Spektren unterscheiden: das sozialdemokratische; die Grünen; das kommunistisch beeinflusste, zum Teil aus der DDR finanzierte, aber auch für nicht-kommunistische Gruppen offene Komitee für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KOFAZ); das bunte Spektrum einer ganzen Reihe autonomer Verbände, Gruppierungen und Initiativen, organisiert in der losen Bundeskonferenz Unabhängiger Friedensgruppen; sowie schließlich das christliche Spektrum.

Anders als in den 1950er Jahren war die christliche Friedensbewegung der Jahre um 1980 interkonfessionell, mochte auch die friedenspolitische Aufladung der evangelischen Kirchentage in Hamburg (1981) und Hannover (1983) den Eindruck protestantischer Dominanz erwecken. Der westdeutsche Katholizismus und die Evangelischen Kirchen in Deutschland waren in ihren Positionen zur atomaren Rüstung gespalten; tiefe Risse zogen sich durch Landeskirchen und Diözesen, ja durch einzelne Gemeinden und lokale kirchliche Organisationen.

Dennoch übte die christliche Friedensbewegung einen erheblichen Einfluss aus, weil gerade die christlich geprägten Angehörigen und Repräsentanten der Friedensbewegung für deren Gesamtprofilierung und die öffentliche Wirksamkeit besonders bedeutend waren. Durch sie wurden die moralischen Zweifel an der nuklearen Abschreckung und der Sicherheitspolitik von NATO und Bundesregierung mit religiösen Argumenten unterlegt und dadurch verstärkt. Die friedenspolitische Interpretation der Bergpredigt durch den bekannten Journalisten Franz Alt, die auf ein massenhaftes Echo stieß, ist nur ein Beispiel dafür. Die Resonanz, die Alt, selbst CDU-Mitglied, erfuhr, zeigt allerdings auch, wie die christlich geprägte Friedensargumentation auch bürgerliche Gesellschaftsgruppen für die Friedensbewegung und ihre Anliegen öffnete.

Die Friedensbewegung war eine stark linke, aber doch keine ausschließlich linke Bewegung. Ihre Kraft lässt sich nur erklären aus dem Kontext jener soziopolitischen und soziokulturellen Entwicklungen, die die Bundesrepublik – und andere westliche Gesellschaften – seit den 1970er Jahren erfasst hatten. Prozesse des Wertewandels und die Abkehr vom Fortschrittsparadigma trugen entscheidend bei zur Herausbildung neuer Formen und Ziele gesellschaftlichen Protests. Nicht mehr der letztlich zukunftsgewisse Sozialutopismus der 1960er und frühen 1970er Jahre trug diese neuen Protestbewegungen, sondern Fortschrittsskepsis und apokalyptische Zukunftsängste.

Der gesellschaftliche und politische Protest teilte nicht mehr die fortschrittsgewissen Grundannahmen der Moderne, sondern stellte diese Moderne und ihre Begleiterscheinungen, ihre Bedrohungen und Gefahren, zum Teil radikal in Frage. Es ist kein Zufall, dass dem Widerstand gegen die Stationierung neuer nuklearer Waffensysteme und gegen die Existenz atomarer Waffen insgesamt der wachsende Protest gegen die friedliche Nutzung der Kernenergie vorausging. Im anti-nuklearen Protest zunächst der Ökologie- und Umweltbewegung und dann der Friedensbewegung äußerte sich ein kulturkritisches Unbehagen an Fortschritt und industriell-technischer Modernität.

In den etablierten Parteien der Bundesrepublik fand dieses Unbehagen gerade der jüngeren Generation keinen Widerhall. Das war die Geburtsstunde der neuen Partei der Grünen, deren Genese und Aufstieg ohne die Anti-Atomkraft-Bewegung als Kern der Umweltbewegung und ohne den Protest gegen die nukleare Rüstung und die atomare Abschreckung nicht zu erklären sind.

Zu den wichtigsten Protagonisten von Modernitätskritik und Fortschrittsskepsis gehörte schon seit den 1970er Jahren der SPD-Politiker Erhard Eppler, der auch wegen seines kirchlichen Engagements zu einer Galionsfigur von Umwelt- und Friedensbewegung wurde. Aber auch Politiker der Grünen verstanden ihre Nuklearkritik als Modernekritik, und er versuchte diese Argumentation durch Bezüge zum Nationalsozialismus zu verstärken. In einem Spiegel-Interview 1983, kurz nach dem Einzug der Grünen in den Bundestag, äußerte Joschka Fischer, einer der wichtigsten Repräsentanten der neuen Partei: „… ich finde es moralisch erschreckend, dass es offensichtlich in der Systemlogik der Moderne, auch nach Auschwitz, noch nicht tabu ist, weiter Massenvernichtung vorzubereiten – diesmal nicht entlang der Rassenideologie, sondern entlang des Ost-West-Konflikts.“

Damit wurden der anti-nukleare Protest und die Debatte über die NATO-Nachrüstung historisch uns geschichtspolitisch aufgeladen, um den jeweiligen Positionen zu größerer Wirksamkeit zu verhelfen. Denn auch Vertreter der Raketenstationierung scheuten vor NS-Bezügen nicht zurück. Auf Joschka Fischers Spiegel-Interview reagierte CDU-Generalsekretär Heiner Geißler wenige Tage später im Bundestag mit einer Stellungnahme, die im Parlament für höchste Erregung sorgte: „Der Pazifismus der 30er Jahre“, hielt Geißler der Friedensbewegung vor, „der sich in seiner gesinnungsethischen Begründung nur wenig von dem unterscheidet, was wir in der Begründung des heutigen Pazifismus zur Kenntnis zu nehmen haben, dieser Pazifismus der 30er Jahre hat Auschwitz erst möglich gemacht.“ Nationalsozialismus und Holocaust wurden so zum Argument in den rüstungspolitischen Auseinandersetzungen der frühen 1980er Jahre.

Gegen die zivile und die militärische Nutzung der Kernenergie wandten Angehörige der Friedensbewegung das Alptraumszenario eines „atomaren Holocaust“. Für die Friedensbewegung war nicht nur die Stationierung neuer Atomwaffen verwerflich, sondern die gesamte Logik der nuklearen Abschreckung, die sich im Ost-West-Konflikt ausgebildet hatte und mit der die Nachrüstung politisch begründet wurde. Dabei war es in den Jahren um 1980 gar nicht einfach, die Risiken der Abschreckung und die Gefahren eines Nuklearkriegs zu beschwören. Trotz der Verhärtung der Fronten zwischen Ost und West schien die Abschreckung doch zu funktionieren, schließlich hatte sie mittlerweile über viele Jahre hinweg Frieden und Sicherheit gewährleistet.

Genau hier setzte die Kritik an. Die Friedensbewegung vertrat ein anderes Verständnis von Frieden und Sicherheit, als es die Bundesregierung und die militärisch-sicherheitspolitischen Eliten der NATO taten. Sie bestritt die Legitimität und Moralität einer auf wechselseitiger atomarer Vernichtungsdrohung basierenden Idee von Sicherheit und Frieden, ja, sie sprach der sicherheitspolitischen „Expertokratie“, so Erhard Eppler, den Friedenswillen und die Friedensfähigkeit ganz prinzipiell ab. Für Eppler und für viele andere ihrer Angehörigen war die Friedensbewegung „der verzweifelte Versuch, den Frieden, der von oben nicht mehr zu erwarten ist, von der Basis her zu erzwingen“.

 

IV.

 

Die konfrontative Politik der 1981 ins Amt gelangten amerikanischen Regierung unter Ronald Reagan schien derartige Argumentationen zu stützen. Aus ihrer politischen Rhetorik – die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ – sowie aus ihrer Rüstungs- und Militärpolitik ließen sich Argumente für die Wahrnehmung gewinnen, dass für die USA die Verhinderung eines Atomkriegs nicht mehr oberste politische Priorität war, sondern man in Washington darüber nachdachte, wie man einen Atomkrieg gewinnen könnte. Wollten die USA unter Reagan womöglich durch einen Atomkrieg den Kalten Krieg beenden? Sollten Europa und insbesondere Deutschland zum nuklearen Schlachtfeld werden, während sich die USA mit strategischen Verteidigungssystemen gegen atomare Angriffe schützten? Als der amerikanische Präsident im Frühjahr 1983, während in Europa die Stationierungskontroverse ihrem Höhepunkt zustrebte, seine Strategische Verteidigungsinitiative (SDI – Strategic Defense Initiative), auch Star Wars genannt, verkündete, schienen solche Gedanken nicht aus der Luft gegriffen.

Dass der amerikanische Präsident mit vielen Anhängern der Friedensbewegung tief sitzende moralische Bedenken gegen die Existenz nuklearer Waffen teilte, die zu einem wichtigen Faktor in seiner erfolgreichen Rüstungskontroll- und Abrüstungspolitik mit der Sowjetunion des 1985 ins Amt gekommenen KPdSU-Generalsekretärs Michail Gorbatschow wurden, war während Reagans erster Amtszeit alles andere als deutlich. Vielmehr förderte er in der deutschen Öffentlichkeit – beileibe nicht nur in der Friedensbewegung – die Wahrnehmung, die NATO-Nachrüstung diene allein amerikanischen Supermachtinteressen in der globalen Auseinandersetzung mit der Sowjetunion.

Es schien, als habe sich Amerika von der Politik der Entspannung verabschiedet und respektiere die legitimen Sicherheitsinteressen der europäischen Verbündeten nicht mehr. Von der Bundesrepublik als „Abschussrampe“ für amerikanische Raketen, als Vorposten der USA war die Rede. In jedem Fall verstärkte die Reagan-Administration den Anti-Amerikanismus der Friedensbewegung, der mindestens bis in die 1960er Jahre zurückreichende Wurzeln hatte, aber durch die amerikanische Politik der frühen 1980er Jahre neu belebt wurde.

Eine kritische Auseinandersetzung mit der Sowjetunion und ihrer Politik, die immerhin durch ihre massiven Rüstungsanstrengungen in den 1970er Jahren den NATO-Doppelbeschluss mit herbeigeführt hatte, fand hingegen allenfalls in Ansätzen, wenn überhaupt, statt. Sofern man sich nicht von kommunistischen Friedenssirenen betören ließ, verdrängten weite Teile der Friedensbewegung diese Tatsache und reduzierten die Ziele der Bewegung auf die Verhinderung der NATO-Nachrüstung. Diese Marginalisierung der Sowjetunion wurde in den USA, aber auch in anderen westlichen Staaten ebenso aufmerksam registriert wie die Aufwallungen eines nationalen Neutralismus, der sich mit dem Anti-Amerikanismus verband und die Westbindung der Bundesrepublik in Frage zu stellen schien.

Mit ihrem klaren Kurs hat die Regierung Kohl/Genscher das deutsch-amerikanische Verhältnis, das in den letzten Jahren der Kanzlerschaft Helmut Schmidts beschädigt worden war, wieder stabilisiert und am Ende die deutsch-amerikanische Vertrauenskrise überwunden. Es gehörte dennoch zu den Wirkungen der Raketenkrise und der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NATO-Doppelbeschluss, dass die Logik des nuklearen Gleichgewichts und der nuklearen Abschreckung nach den Stationierungsbeschlüssen nicht mehr jede gesellschaftliche Akzeptanz zurückgewinnen konnte, die sie vorher hatte.

Im Gegenteil: Die intensive gesellschaftliche und politische Auseinandersetzung mit der Existenz nuklearer Waffen hatte ein neues Bewusstsein für die höchst prekäre moralische Legitimität der atomaren Abschreckung – die Drohung mit wechselseitiger Vernichtung – geweckt. Das floss auf amerikanischer wie auf sowjetischer Seite schon vor 1989/90 in die Rüstungs- beziehungsweise Abrüstungspolitik ein, und es beschleunigte nach 1989/90 die nukleare Abrüstung zumindest vorübergehend.

 

V.

 

Die nach der Raketenkrise der frühen 1980er Jahre und der massiven amerikanisch-sowjetischen Konfrontation jener Jahre zunächst ganz überraschende neue ost-westliche Abrüstungsdynamik – und es ging seit 1985 wirklich um Abrüstung, nicht nur um Rüstungskontrolle – fand ihren ersten Höhepunkt im sogenannten INF-Vertrag, einem Abkommen über die Beseitigung aller amerikanischen und sowjetischen nuklearen Mittelstreckenwaffen (INF = Intermediate Nuclear Forces) mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern, das der amerikanische Präsident und der sowjetische Generalsekretär im Dezember 1987 in Washington unterzeichneten.

Das Washingtoner Treffen war nur eines von mehreren Gipfelbegegnungen, zu denen es nach 1985 kam und in denen sich nicht nur eine neue Dynamik der Entspannung spiegelte, sondern auch ein in Europa und insbesondere in der Bundesrepublik durchaus skeptisch betrachteter Bilateralismus der Supermächte. Der INF-Vertrag war der erste echte Abrüstungsvertrag im Bereich nuklearer Waffen. Alle früheren Abkommen waren Rüstungsbegrenzungsabkommen gewesen, insbesondere die beiden SALT-Verträge (Strategic Arms Limitation Talks) der 1970er Jahre, die nicht auf Verminderung der nuklearen Arsenale zielten, sondern auf die Festlegung von Rüstungsobergrenzen zur Herstellung beziehungsweise Verfeinerung des atomaren Gleichgewichts und damit zur Stabilisierung der nuklearen Abschreckung.

Der Abrüstungsbilateralismus der beiden Supermächte sorgte in der Bundesrepublik, die gar nicht konsultiert wurde, für politische Unruhe und Konflikte. Die völlige Beseitigung der atomaren Mittelstreckenwaffen, die der INF-Vertrag anstrebte, so meinten manche, lasse eine Lücke in der Abschreckung entstehen, die doch durch die NATO-Nachrüstung hatte überwunden werden sollen. Solche Überlegungen waren nicht von der Hand zu weisen, aber man musste sich doch erst die abstrakte, kühl kalkulierende Logik der Nuklearstrategie zu eigen machen, um in solchen Kategorien zu denken. Dazu war die Mehrheit der im Bundestag vertretenen Parteien und mit ihnen die überwiegende Mehrheit der Westdeutschen nicht bereit. Die Diskussionen und Auseinandersetzungen um den Doppelbeschluss hatten zwar die Nachrüstung nicht verhindert, sie hatten aber die prinzipielle, gerade auch moralische Legitimität einer Sicherheitsdoktrin, die auf der Existenz von Massenvernichtungswaffen und auf der wechselseitigen Vernichtungsdrohung basierte, nachhaltig unterhöhlt.

Wer in der internationalen Politik der Gegenwart die Stabilität des Kalten Krieges vermisst, der sollte auch bedenken, auf welchen Grundlagen beziehungsweise Prämissen diese Stabilität beruhte. Über drei Jahrzehnte nach seinem Abschluss haben die USA im Frühjahr 2019 den INF-Vertrag gekündigt, gegen den die Sowjetunion bereits seit Jahren zu verstoßen begonnen hatte. Der Vertrag war ein Produkt des Kalten Krieges und des globalen amerikanisch-sowjetischen Bilateralismus. In die multipolare Ordnung frühen 21. Jahrhunderts passte er kaum noch. Die Intensivierung nuklearer Rüstung durch China beispielsweise konnte er nicht verhindern.

Die Stärke des Westens, die sich in der NATO-Nachrüstung und den Stationierungsbeschlüssen der frühen 1980er Jahre manifestiert habe, so wird gelegentlich behauptet, habe die Sowjetunion in die Knie gezwungen und binnen weniger Jahre zum Sieg des Westens im Kalten Krieg geführt. Diese Argumentation scheint auf den ersten Blick plausibel, doch bei näherer Betrachtung ist sie doch zu einfach und trägt der Komplexität der politischen Entwicklungen nicht angemessen Rechnung. Wichtig und richtig ist sicherlich, dass der in der Krise und der ost-westlichen Konfrontation auch angesichts massiven sowjetischen Drucks demonstrierte Bündniszusammenhalt, die Kohäsion der NATO-Allianz, ein klares und deutliches Signal westlicher Festigkeit und Entschlossenheit in Richtung Osten aussandte.

Wichtig ist fraglos auch, dass der Rüstungsdruck, den der Westen ausübte, insbesondere auch als rüstungstechnologischer Druck (nicht zuletzt in Gestalt des weltraumgestützten Raketenabwehrsystems SDI), nicht nur zum Aufstieg Michail Gorbatschows in der Sowjetunion beitrug, sondern auch dessen Reformpolitik im Zeichen von Glasnost (Transparenz) und Perestrojka (Umgestaltung) beförderte. Ziel dieser Politik war indes nicht das Ende beziehungsweise die Transformation sowjetisch-kommunistischer Herrschaft und auch nicht die Auflösung des Ostblocks. Vielmehr ging es um Effizienzsteigerung gerade auch vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts.

Nicht zu verkennen ist jedoch, dass diese Politik, verbunden mit der Entspannungs- und Abrüstungsorientierung der Reagan-Administration in ihrer zweiten Amtszeit, sowohl innerhalb der Sowjetunion und dann im Ostblock insgesamt, Reform- und Transformationsdynamiken auslöste, an deren Ende die Erosion des Ostblocks, die friedlichen und demokratischen Revolutionen in Osteuropa, einschließlich der DDR, die deutsche Vereinigung und das Ende des Kalten Krieges standen. Gerade im 30. Jahr des Mauerfalls und in deutscher Perspektive sollte man in diesem Zusammenhang freilich nicht vergessen, dass die friedliche und demokratische Revolution in der DDR im Herbst 1989 zwar ohne die Dynamiken der internationalen und der ost-westlichen Politik der 1980er Jahre nicht zu verstehen ist, dass es aber nicht diese Dynamiken waren, sondern die Menschen in Ostdeutschland, die am 9. November 1989 die Mauer zu Fall brachten und die SED-Diktatur überwanden.

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