Es ist gar nicht so einfach, über Irrationalität zu reden, wenn man nicht vorher über Rationalität geredet hat. Oder andersherum: Es ist relativ einfach, über Irrationalität zu reden, wenn man vorher nicht über Rationalität geredet hat. Irrationales Verhalten zu entdecken, ist nicht schwer. Man könnte viele Beispiele nennen, was ich jetzt nicht tue; aber ich kann mir vorstellen, welche Dinge in Ihrem Kopf gerade ablaufen. Darüber könnte man wahrscheinlich, gerade wenn es um Politik geht, zurzeit – über politische Präferenzen hinweg – großen Konsens erzielen, wo irrationales Verhalten vorliegt.
Versuchen Sie einmal den Selbsttest andersherum: Geben Sie Beispiele für rationales Verhalten. Das ist schon schwieriger; also nicht, weil es weniger rationales Verhalten gibt, sondern weil die Kriterien rationalen Verhaltens wahrscheinlich nicht so einfach zu formulieren sind wie die irrationalen Verhaltens. Jetzt müsste ich eigentlich schon mich selber korrigieren, wenn ich vorhin gesagt habe, dass man etwas über Rationalität wissen muss, wenn man Irrationales irrational nennt. Sie merken also, wir machen es uns am Anfang erstmal noch ein bisschen schwieriger.
Rationalität ist in der Tat ein schwieriger Begriff, und bereits in der Tagungsankündigung wird ja darauf hingewiesen, dass es zunächst ein mathematischer Begriff ist. Irrationale Zahlen sind solche, die nicht eindeutig bestimmbar sind, zum Beispiel ∏ (pi). Nicht eindeutig bestimmbar heißt: es gibt keine Eindeutigkeit im Hinblick darauf, was sie wirklich sind, oder andersherum, man kann sie nicht hundertprozentig berechnen. Das ist vielleicht gar keine schlechte Annäherung an die Frage, wo der Begriff der Rationalität verwendet wird. Ich werde Ihnen keinerlei Möglichkeiten geben, am Ende meines Vortrages besser zu wissen, was Rationalität ist; aber ich werde Ihnen verschiedene Verwendungsweisen des Begriffs vorführen.
Üblicherweise benutzen wir den Begriff der Rationalität sowohl im Alltag als auch in professionellen Zusammenhängen dann, wenn wir in der Lage sind, genau zu rekonstruieren und zu bestimmen, was denn der Handlungsgrund einer rationalen Handlung eigentlich ist. Der soll dann auch noch bestimmten Kriterien genügen, nämlich rational sein. Dass dies durchaus eine „petitio principii“ sein könnte, ist Ihnen vielleicht aufgefallen, aber das lässt sich wahrscheinlich nicht vermeiden. Rationalität ist nicht dasselbe wie die Unterscheidung von richtigem und falschem Verhalten. Also: Man kann jetzt nicht sagen, dass jedes falsche Verhalten irrational sei; man kann auch nicht sagen, dass jedes richtige Verhalten rational sei. Sondern spannend ist, wann und wo diese Unterscheidung von Rationalem und Irrationalem verwendet wird. Ich will Ihnen einige Beispiele für den Gebrauch des Begriffs nennen, um am Ende zu zeigen, dass auch diese Beispiele die Dinge nicht einfacher machen.
Die Rationalität von Drogen, Gewalt, Auferstehung und Inlandsflügen
Erstes Beispiel: Kann der Konsum von starken Drogen – ich meine da jetzt nicht das Oktoberfestbier, sondern Heroin – rational sein? Wir würden doch wahrscheinlich sagen: kann er nicht. Es gibt kaum ein irrationaleres Verhalten, als sich Dinge zuzuführen, die einen erstens abhängig machen, zweitens in der Abhängigkeit töten können, und drittens aus dem bürgerlichen Leben einer Gesellschaft herauskatapultieren. Irrationaler geht es eigentlich nicht. Aber mein leider vor einigen Jahren verstorbener Kollege Norman Braun, der den Lehrstuhl für empirische Sozialforschung am Institut innehatte, hat eine interessante Untersuchung über die Drogenszene in Bern gemacht und versucht herauszubekommen, warum die Leute, obwohl sie wissen, dass Heroin nicht ganz so gesund ist wie Aspirin, trotzdem Heroin nehmen.
Seine These war, dass es in manchen Situationen durchaus Rationalitätsgründe gibt, sich solche Dinge zu applizieren: zum Beispiel der Grund, einem unangenehmen Alltag zu entkommen oder innerhalb einer „peer group“, also einer Gruppe von Gleichgesinnten, nicht abweichendes Verhalten an den Tag zu legen. Abweichendes Verhalten wäre immer eines, das von der Gruppe negativ sanktioniert wird; also könnte es durchaus rational sein, sich so zu verhalten wie die anderen auch, selbst wenn das Verhalten von uns – wie ich finde, mit guten Gründen – wahrscheinlich als irrational angesehen wird. Braun hat sogar gesagt, dass der Gebrauch von starken Drogen bei stark Abhängigen immer rationaler wird, weil, wenn man einfach so aufhört, es einem schlecht geht. Das ist das Verrückte an diesen Drogen, dass Sie sehr langsam in schreckliche körperliche Symptome hineinrutschen, und nach einer Spritze geht es Ihnen gut. Das ist ein starker Anreiz, muss man sagen, und so entsteht übrigens die Sucht nach diesem Zeug. Also: das kann durchaus rational sein.
Zweites Beispiel, das ganz ähnlich ist: Kann gewaltsames Verhalten rational sein? Da würden wir auch sagen: gewaltsames Verhalten ist irrational; es baut nicht darauf, dass ich den anderen überzeuge, sondern dass ich ihm drohe und bei entsprechenden Situationen ins Gesicht haue, um mich durchzusetzen. Aber auch hier gibt es so etwas wie Gruppendruck. In der Jugendforschung hat man irgendwann, als es um die Frage ging, sich konformes und nicht-konformes Verhalten anzuschauen, den Schwenk gemacht, das konforme Verhalten nicht an den Werten oder Normen der Gesamtgesellschaft zu messen, sondern an den Gruppen, in denen man sich bewegt hat. Siehe da: In den Gruppen, in denen man sich bewegt hat, ist es rational, sich nach den Normen der Gruppe zu verhalten. Im Übrigen hat man mehr Begründungslasten, wenn man zum Beispiel in einer Gruppe von Jugendlichen, die beschließt, sich zu prügeln, sich nicht prügeln will. Man muss mehr Energie aufwenden, um das zu begründen, als wenn man einfach mitmacht.
Wenn man das wirklich ernst nimmt, dann sind unsere bürgerlichen Lebensformen, wie wir sie kennen, bisweilen doch so, dass vieles von dem, was wir tun, vor allem dadurch rational ist, dass wir uns relativ angepasst verhalten. Es gibt übrigens auch die Rationalität des unangepassten Verhaltens. Von einem Studenten und einer Studentin würde ich erwarten, dass sie im Seminar Dinge sagen, die unerwartet sind und womöglich einer Rationalität folgen, die ich goutiere, aber unter den Mitstudentinnen und Mitstudenten als streberhaft angesehen werden. Sie kennen so etwas vielleicht.
In diesem Haus vielleicht eine wichtige Frage: Ist der Glaube an die Auferstehung des Fleisches rational oder irrational? Wenn Sie sich die Geschichte der Theologie ansehen, oder noch interessanter, die Geschichte der Religionswissenschaft, der klassischen Religionswissenschaft – denken Sie an Rudolf Otto (1869-1937) zum Beispiel –, dann gab es immer den Versuch, dass man bei diesen religiösen Figuren, die ja nicht ein rationales Wissen, sondern den Glauben ansprechen, den rationalen Kern einer nur glaubhaften Aussage, die jeglichem Wissen, das wir haben, widerspricht, herausarbeiten solle. Da kann man zum Beispiel zu der Aussage kommen, dass die Idee der Auferstehung des Fleisches theologisch auch bedeutet, dass, anders als in anderen Religionen, im Christentum der Mensch, wenn er stirbt, ganz tot ist – was sozusagen dem Volksglauben widerspricht, es gäbe so etwas wie eine fortdauernde Existenz. Die Idee ist vielmehr, ganz tot zu sein. Das ist so radikal wie das, was wir eigentlich wissen können. Und schon haben wir einen bestimmten Rationalitätskern in der Idee der Auferstehung des Fleisches.
Ein weiteres Beispiel: Wenn wir daran denken, dass wir genau wissen, dass unser alltägliches Konsum- und Mobilitätsverhalten ökologisch schädlich ist. Ich bin diese Woche beispielsweise viermal mit der Lufthansa auf Inlandsflügen geflogen, beide Male nach Berlin – das ist jetzt nicht irrational, dass ich sagen würde, wenn Sie woanders hinfliegen, ist es rational. Das will ich damit nicht sagen. Sondern die Tatsache, dass man so einen kurzen Flug mit der Lufthansa nach Berlin macht, wohl wissend – das wissen alle 180 Leute, die in so einem Airbus A320 sitzen –, dass das eigentlich idiotisch ist, das zu tun. Und dann kann ich Ihnen die Rationalitätsgründe aufzählen, warum es für mich eigentlich gute Gründe gab, das zu tun.
Hauptsächlich waren es Zeitgründe. Ich hätte zum Beispiel in Berlin bleiben können. Das habe ich nicht gemacht, weil ich am Dienstagabend Chorprobe hatte; ich bin leidenschaftlicher Chorsänger. Ich bin deswegen zurückgeflogen und am nächsten Morgen wieder hin. Das ist irrationales Verhalten, weil wir wissen, dass der Weg dorthin, die Zeitersparnis, meine Bequemlichkeit sowie die Selbstverständlichkeit meiner Lebensform zu viel CO² produziert haben. Aber man kann jetzt nicht sagen, dass ich ein irrationaler Mensch bin – oder doch? In Klammern gesagt: auch die Klimakonferenzen haben bis jetzt sehr viel CO² produziert, weil man da hinfliegen muss; deswegen spricht jetzt nichts gegen Klimakonferenzen, sondern es ist eine interessante Frage, dass wir in einer widersprüchlichen Welt leben. Ich höre jetzt auf mit den Beispielen. Ich hätte noch ein paar, aber es dauert zu lange.
In einer widersprüchlichen Welt leben wir, weil uns, wie gesagt, unser Alltagsverhalten schon deshalb rational erscheint, weil es im Bereich des Gewöhnlichen und des Erwartbaren liegt. Aber wenn man genau hinschaut, sind viele Dinge nicht so rational, wie wir denken, also irrational. Ein Beispiel, das ich noch nennen wollte: Wie Sie an mir sehen, bin ich für mein Gewicht zu klein. Ich weiß genau, was man dagegen tun müsste, und ich muss gestehen, es gelingt mir seit 30 Jahren nicht. Das ist eine interessante Frage: Ist das Irrationalität, etwas zu wissen, was man tun sollte, es aber nicht zu tun? Ist es rational, weil der Alltag so funktioniert, wie er funktioniert? Sie mögen das für „gspinnerte“ Fragen halten – aber es sind keine gspinnerten Fragen, wenn man sich tatsächlich Gedanken darüber machen will, ernsthaft und methodisch kontrolliert über Irrationalität zu reden.
Man könnte fast zu dem Ergebnis kommen – und am Ende wird es auch so ähnlich aussehen –, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der wir uns zum großen Teil alle relativ rational verhalten, dies aber in der Kumulation dieses Verhaltens durchaus irrationale Folgen haben kann. Aber dazu komme ich noch.
Von der Übereinstimmung mit der Welt zu Handlungsalternativen
Wie ist der Begriff der Rationalität entstanden? Ich weiß, dass mein Kollege und Freund Willi Vossenkuhl gestern Abend etwas zur Philosophiegeschichte der Rationalität gesagt hat. Ich werde dazu auch etwas sagen, wahrscheinlich mit einem etwas anderen Zungenschlag. Bei Rationalität geht es immer um die Frage des Verhaltens – zunächst einmal des Verhaltens und Handelns. Man kann sagen, dass es in der Zeit vor der Aufklärung – vor der Moderne, wenn man so will – so eine Grundidee einer „analogia entis“ gab, oder der Idee, dass die Handlung und die Welt in eins gebracht werden müssen, damit eine Handlung das ist, was man später rational nennt. Man könnte also sagen, dass es für meine Aufgabe die eine richtige Handlung gibt. Das gilt für die Richtigkeit des Verhältnisses einer Entsprechung mit der Welt. Erkenntnistheoretisch kennen wir das von Thomas von Aquin als die „adaeqatio rei et intellectus“, also die Idee, dass das richtige Erkennen eines ist, bei dem das Erkennen, oder besser: das Erkannte und das Erkennen, in Deckung zu bringen sind. Das war die Idee. Natürlich gab es in solch einer Welt „richtig“ und „falsch“, und zwar relativ eindeutig. Natürlich weiß der Soziologe, dass es immer Handlungsalternativen gibt.
Der Soziologe weiß auch, dass wir nur von Handlungen sprechen, wenn man auch etwas anderes hätte tun können. Sie kennen das: Wenn ich zum Beispiel mit den Augen zwinkere – ich treffe Sie in der U-Bahn und zwinkere Sie mit den Augen an –, dann macht es einen großen Unterschied, ob Sie mir zurechnen, dass das einfach nur ein vegetatives Verhalten war, das ich gar nicht gewählt habe, oder ob ich Kontakt mit Ihnen aufnehmen wollte, was ich auch hätte bleiben lassen können. Beim ersten ist es nur ein Verhalten, beim zweiten ist es schon Annäherung, also zurechenbar. Es ist nur deswegen eine Handlung, weil ich die Handlung auch hätte sein lassen können. Mein Atmen werde ich mir nicht als Handlung zurechnen, meinen Herzschlag erst recht nicht. Es soll Meditationstechniken geben, bei denen die Atmung irgendwann zur Handlung wird und man sie selbst unterlassen könnte. Ich kenne diese Techniken nicht, aber ich habe davon gelesen und bin dabei ganz außer Atem geraten, dass es so etwas gibt. Aber das ist ein Grenzfall. Wir kennen das übrigens auch bei den Bestimmungen von Bewusstheit bei Komapatienten. Interessante Frage, ob die Reaktion eines Körpers eigentlich eine willentliche, rationale ist, die auch anders hätte ausfallen können, oder nur eine vegetative. Das scheint eine große Rolle zu spielen bei der Bestimmung von Bewusstheit bei bestimmtem Patientenverhalten.
Wenn es das Richtige und das Falsche gibt und somit eine Kontinuität zwischen Handlung und Welt, dann kann man eben auch handeln, weil man auch das Falsche tun könnte. Man weiß aber genau, was das Falsche ist – zumindest wusste die Gesellschaft, was es ist und hat auch etwas dagegen getan, dass das Falsche nicht getan wird, zum Teil mit drastischen Mitteln. Ich erzähle Ihnen das deswegen, weil alles, was später mit Handlungstheorie und Rationalität zu tun hat, die Auflösung dieses Kontinuums zwischen Handlung und Welt bedeutet. Die Auflösung dieses Kontinuums kann man an ein paar Beispielen festmachen.
Stellen Sie sich vor, Sie leben auf einmal in einer Welt, in der es Buchdruck gibt, und in der Sie lesen können. Schon können Sie unterschiedliche Versionen des Richtigen lesen. Das ist die große Katastrophe des Buchdrucks gewesen: einerseits die Verbreitung der Heiligen Schrift zu ermöglichen, andererseits unterschiedliche Interpretationen in gleichen Büchern stehen haben zu können. Oder etwa ganz andere Dinge: die Kritik der Heiligen Schrift oder gar – eines der frühesten Themen, die es beim Buchdruck gab – Pornographie. Was bedeutet das für eine Art von Kontinuum zwischen Handeln und Welt? Es gibt auf einmal unterschiedliche Beschreibungsgründe für die Welt. Die gab es vorher auch, aber die konnte man unsichtbar halten; oder sie wurden unter den Eliten ausgemacht. Aber jetzt lesen Sie unterschiedliche Versionen, und da haben Sie dann – denken Sie an den Buchdruck – etwas gelesen, was zuvor nur einem ganz kleinen Teil der Bevölkerung möglich war, also gebildeten bürgerlichen Schichten, die interessanterweise nicht die höchsten Schichten waren, weil der Adel gar nicht lesen musste. Aber es entstand eine neue Klasse, die vor allem eine lesende Klasse war. Und Lesen heißt immer – selbst wenn Sie nur ein einziges Werk haben –, dass man es unterschiedlich verstehen kann. Theologie kommt erst, seit das mit dem Glauben schwieriger geworden ist, seit man die Offenbarung der Glaubensinhalte lesen und damit unterschiedlich verstehen kann.
Denken Sie daran, was das heute bedeutet, da die Bücher zwar nicht verschwinden, aber es ganz andere Wege gibt, Ihnen gleichzeitig Unterschiedliches über die Welt zu sagen. Oder denken Sie an die Emanzipation von Wissen gegenüber dem Religiösen. Sie kennen die historischen Beispiele: Dreht sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne? Und es ging gar nicht nur darum, sondern es ging um die Frage, was das denn eigentlich im Hinblick auf kosmologische Fragen des Verhältnisses von Schöpfer und Welt bedeutet. Nun, da gab es Kopernikus; der hat auf einmal festgestellt, dass man, wenn man in so eine Linse schaut, etwas sieht, was dem, was es vorher gab, widersprach. Er hatte selbst überhaupt nicht das Interesse, damit in Frage zu stellen, was man religiös kodiert darüber sagen könnte, dass die Erde das Zentrum des Universums sein muss; sonst ließe sich vieles an Schöpfungstheologischem nicht so verstehen, wie man es versteht. Es entstand eine neue Logik, die gesagt hat: mich interessiert eigentlich, ob man wissenschaftlich im Hinblick auf empirische Erfahrung etwas sagen kann, und zwar abgekoppelt von der religiösen Bedeutung.
Viele von Ihnen – nehmen Sie das nicht als Publikumsbeschimpfung – sind hinreichend lebenserfahren, noch die Diskussionen aus den 1960er Jahren darüber zu kennen, unter anderem auch hier im Haus, wie Naturwissenschaft und Theologie oder Naturwissenschaft und Religion eigentlich zusammengedacht werden können. Es sind dann lange, schwierige Debatten gewesen, bei denen man hören konnte, dass es offenbar unterschiedliche Rationalitätsgründe gibt. Ein naturwissenschaftlicher Grund ist ein anderer als ein religiöser; darüber hinaus gilt: was ökonomisch richtig ist, kann politisch falsch sein – und ist es oft.
Ich bringe das meinen Studenten immer am Milchpreis bei. Sie wissen, dass der Milchpreis in Deutschland so niedrig ist, dass er von bäuerlicher Landwirtschaft eigentlich nicht dargestellt werden kann. Bisweilen liegen die Verkaufspreise unter den Produktionspreisen. Das ist ein Problem. Für eine Ökonomie ist es ein richtiges Problem. Das liegt an Discounter-Ketten usw.; Schuldige gibt es immer. Das interessiert hier jetzt gar nicht, sondern man könnte etwas dagegen tun. Man sagt: Verhalten Sie sich rational, kaufen Sie die Milch da, wo sie teuer ist. Ob am Ende mehr beim Erzeuger ankommt, ist noch die Frage. Aber nehmen wir mal an, das sei so. Kaufen Sie ab jetzt die Milch im Bioladen für 1,80 statt für 0,67 Euro; damit helfen Sie der bäuerlichen Landwirtschaft. Für meine Studenten ist das ganz toll; die sagen, das hat etwas von Protest, von Bewegung, von Antikapitalismus usw. Die fallen sofort darauf herein, dass das eine Superidee sei – bis ihnen einfällt, dass sie sich das bei den Mietpreisen in München und bei dem wenigen Geld, über das sie verfügen, gar nicht leisten können. Es tut ihnen also leid, aber die Milch müssen sie wohl bei Lidl oder Aldi kaufen. Was von beiden ist jetzt rationales Verhalten? Das ökonomisch-rationale oder das politisch-rationale? Und wenn ich sage, dass wenigstens ich sie im Bioladen kaufe, dann hilft das nicht weiter, weil es mehr Studenten als Professoren gibt. Das ist kein Grund, das Verhältnis umzukehren, aber…
Kant, Hegel und Weber
Das sind Erfahrungen, die in der Gesellschaft von selber entstehen. Man kann das in der europäischen Sozialgeschichte rekonstruieren, wie sich Logiken voneinander entfernen und unterschiedliche Rationalitätsgründe für das Handeln etablieren. In der Aufklärung hat man dann auch versucht, dieses Kontinuum zwischen Handeln und Welt wiederherzustellen: in der wundervollen Figur des Subjekts, das nicht nur Subjekt, sondern sogar vernünftiges Subjekt sein soll. Sie können das in der Ethik sehr schön rekonstruieren. Der Höhepunkt ist sicherlich Immanuel Kants Kritik der praktischen Vernunft mit dem Kategorischen Imperativ: Handle so, dass du wollen kannst, dass die Maxime deines Handelns ein allgemeines Gesetz werden könne. Das ist ein schöner Satz, der nur den Algorithmus darstellt, der die Rationalitätsgründe nicht mehr auf die Inhalte richtet, sondern auf die Art und Weise, wie ich zu meinem moralischen Urteil komme. Soziologisch würden wir sagen: es wird kontextualisiert.
Kant war von protestantischer Strenge. Er war zum Beispiel so streng, dass er meinte: Wenn ich meinen Sohn sehe, der in ein reißendes Wasser gefallen ist, und ich rette ihn, ist es moralisch indifferent. Wenn der Sohn meines ärgsten Feindes – das sind bei Leuten wie uns meistens Kollegen – in so ein Wasser fällt und ich rette ihn, dann ist das moralisch gehaltvoll. Warum? Weil ich das zweite aus Pflicht und das erste aus Neigung getan habe. Also schon in dieser Theorie steckt, dass es neben den vernünftigen Gründen des Handelns auch solche gibt, die eigentlich irrational sind, wie Neigungen, wie Sympathie, wie Liebe, wie ästhetische Urteile, wie Glaube oder Plaisir bzw. Genuss. Kant hat diese Dinge nicht negiert, aber er hat sie nicht für rationalitätsfähig gehalten. Er hat nicht gesagt, dass sie irrational sind; aber irrational in der Art und Weise, dass das Irrationale so wie das Mathematische, die mathematisch irrationale Zahl, eigentlich nicht wirklich begründet werden kann. Es ist doch klar, dass ich meinen Sohn rette; ich liebe ihn.
Friedrich Schiller ist natürlich eine wichtige Figur in der Kritik dieses Rationalismus der Aufklärung, indem er beispielsweise auf Rationalitätsgründe für das Ästhetische hinweist. Das will ich hier nicht weiter ausführen, weil Sie es kennen. Eine weitere wichtige Figur ist natürlich Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit der Unterscheidung von Familie, Gesellschaft und Staat. Man kann sagen, er ist der erste Soziologe gewesen, der sehr empirisch danach geschaut hat, dass wir uns mit diesen drei Sphären der Gesellschaft, die sich vor allem im Hinblick auf ihre Allgemeinheitsgrade unterscheiden, unterschiedlich verhalten. Er meint, die Familie sei eigentlich nur eine Person. In der Familie gibt es keine individuellen Einzelpersonen, dort verhalten wir uns gewissermaßen symbiotisch. In der Gesellschaft, der bürgerlichen Gesellschaft, in etwa gleichbedeutend mit Markt, Ökonomie und öffentlicher Sphäre, verhalten wir uns nach unseren individuellen Interessen; dürfen wir auch. Ich kaufe auf Märkten möglichst günstig ein; das macht jeder. Wenn ich Geschäfte mit jemandem mache, achte ich vielleicht nicht darauf, dass ich das günstigste Angebot bekomme, aber durchaus darauf, was mir in der Zukunft womöglich bessere Geschäfte ermöglicht. Wir sind schließlich nicht die totalen Nutzenmaximierer von hier und jetzt; wir denken auch noch an übermorgen, wenn es gut läuft, zumindest wenn wir Geschäfte mit Leuten machen. Als Konsumenten tun wir das oft nicht. Und das Dritte ist der Staat, bei dem es um das Allgemeine, um das Gemeinwohl, um das Ganze geht. Ich will es gar nicht ausführen, aber spannend ist: Das sind unterschiedliche Gründe des Handelns, die da eine Rolle spielen. Was hier rational ist, ist dort irrational. Sprich: Wenn man einen Staat nach der Logik der Familie konstruieren würde, kommt man zu Irrationalismen. Das erleben wir zurzeit: dass wir in einem Staat, als Staatsbürger einer Nation, verpflichtet wären, uns so zu geben, wie ich verpflichtet bin, meinen Sohn zu retten; da würde ich sagen, dass das wirklich irrational ist. Aber in der Familie zu verlangen, jede Entscheidung zu demokratisieren und immer das Gemeinwohl hoch zu stellen, ist ebenso irrational. Oder auf Märkten sich wie Familien oder wie Staaten zu verhalten, wäre gleichfalls irrational. Das hat man durchaus versucht: der eine Versuch hieß real existiert habender Sozialismus; Märkte staatlich zu lenken funktioniert eine Zeit lang ganz gut, aber nicht prinzipiell.
Wie ist also rationales Handeln möglich? Ich meine: Die Rationalität des Handelns liegt nicht in den Handelnden selbst, sondern in den Kontexten begründet, in denen wir uns bewegen. Max Weber, der Begründer der deutschsprachigen Soziologe, hat interessanterweise den Begriff der Rationalität sehr stark gemacht und einen sehr formalen Begriff verwendet. Er sagt, rational ist Handeln dann, wenn ich dessen Handlungsgründe relativ eindeutig bestimmen kann. Und das hat es ihm ermöglicht, unterschiedliche Rationalitätsgründe zu entdecken. Er unterscheidet vor allem Wertrationalität, Zweckrationalität, affektuelle Rationalität und traditionale Rationalität oder Handlungstypen. Wertrational würde heißen: Rational ist für mich, wenn ich zugunsten eines Wertes sogar auf Geld, Leben oder Anerkennung verzichte. Unter zweckrationalen Gesichtspunkten würde man dies für ein ziemlich irrationales Verhalten halten. Es gibt eine affektuelle Rationalität; das wäre etwa Zurückschrecken, das Erschrockensein. Die emotionale Berührtheit, die ist ja nicht irrational. Wenn ich jemanden sehe, der auf dem Boden liegt und leidet, dann gibt es womöglich Rationalitäten, die an mir rütteln. Die eine, die Zweckrationalität, sagt: das könnte eine Falle sein. Die andere sagt wertrational: Das ist ein Mensch, der leidet. Die affektuelle Rationalität sagt: Ich muss dahin oder auch weg, weil ich Angst habe. Und die traditionale sagt: Man hilft; habe ich so gelernt.
Unterschiedliche und begrenzte Rationalitäten
Auch das sind Beispiele, bei denen Sie sehen, dass die Vermeidung des jeweiligen Verhaltens nicht irrational ist, sondern abhängig von den Kontexten, um die es geht. Die Geschichte der Sozialwissenschaften ist voll davon, diese Kontexte zu beschreiben. Ich werde Ihnen zwei nennen.
Die eine ist von Vilfredo Pareto. Pareto ist jemand, dem man zugeschrieben hat, das irrationale Verhalten stark gemacht zu haben. Das ist aber nicht ganz korrekt. Er hat vielmehr empirisch gezeigt, dass wir selbst dann, wenn wir auf Märkten über rationale Informationen und Gründe für unser Verhalten verfügen, feststellen müssen, dass wir letztlich zu wenig Informationen haben, um uns rational verhalten zu können. Ökonomen neigen dazu, ihre Modelle manchmal für die Wirklichkeit zu halten. Jedenfalls ist die Idealvorstellung der vollständigen Information eben nur eine Idealvorstellung, also eine Idee, um vollständige Rationalität wenigstens modellieren zu können, aber empirisch nicht erreichbar. Das Modell ist so suggestiv, dass man gerne vergisst, dass es ein Modell, eine Grenzidee ist, nur ein methodisches Instrument, um analysieren zu können, wie es funktionieren würde, wenn es so wäre.
Der zweite, den ich nennen würde, ist Herbert A. Simon mit dem Begriff der „bounded rationality“, der begrenzten Rationalität. Er hat rekonstruiert, dass uns stets nur eine begrenzte Rationalität zur Verfügung steht, um zu handeln, unsere Ziele und Strategien zu erreichen oder im Alltag zurecht zu kommen. Man könnte aus dem Bereich des Ökonomsichen auch Friedrich A. Hayek nennen, der auf die Standortgebundenheit von Informationen beharrt. Vollständig rational könne demnach keiner der Standunkte sein, mit denen wir konfrontiert werden.
Jetzt haben wir das Instrumentarium, mit dem ich nun in den letzten Minuten versuche, ein Problem zu lösen. Wenn es stimmt, dass wir nicht sagen können, was rational ist, oder dass wir feststellen können, dass es unterschiedliche Rationalitätsgründe in unterschiedlichen Kontexten gibt; wenn es weiterhin stimmt, dass wir nur mit den Ressourcen umgehen können, die wir jeweils haben; und wenn es weiter stimmt, dass sich unterschiedliche Rationalitäten radikal widersprechen können, dann können wir von so etwas wie einer Gesamtrationalität der Gesellschaft noch nicht einmal als regulative Idee ausgehen.
In Parenthese gesagt: Die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – es ist umstritten, ob das stimmt, aber ich finde schon, dass da etwas dran ist – von rechts und von links ähneln sich zumindest darin, dass sie versucht haben, einen Gesamtkontext für die Bestimmung von Rationalität für die ganze Gesellschaft zu bestimmen, und das dann autoritär durchsetzen müssen. Es ist die offene Wunde aller Sozialtechnologen, die denken, dass es so etwas wie die Gesamtrationalität geben kann oder geben muss, von rechts eher im Sinne einer unrealistischen Homogenitätsidee, von links eher im Sinne einer totalen Durchpolitisierung und Durchregulierung der Gesellschaft. Es sind beide vom Teufel.
Systemrationalität statt Gesamtrationalität
Was ich anbieten möchte, ist etwas anderes: einen ganz anderen Begriff von Rationalität, nämlich einen Begriff von Systemrationalität. Ein kurzer Hinweis darauf, was alles so falsch läuft – wir dürfen hier durchaus kritisch sein: Wir erleben eine Gesellschaft, die sehr unübersichtlich ist, eine Gesellschaft, die paradoxe Folgen produziert. Zum Beispiel gibt es Volkswirtschaften, die sehr erfolgreich sind – und trotzdem sind die Leute, die dort wohnen, nicht alle gut versorgt. Es gibt Demokratien, die vollständige Demokratien sind – und es werden trotzdem Leute gewählt, die die Probleme nicht lösen können. Oder: Wir wissen mehr, als wir jemals wussten, können es aber nicht in Handlungskonzepte umsetzen. Oder: Die Medien können endlich das, was sie immer wollten, nämlich über alles zu berichten. Seitdem haben wir noch weniger Orientierung als vorher. Oder: Das Rechtssystem kann jegliche Form normativer Erwartungsfragen regulieren, aber keine allgemeine Gerechtigkeit herstellen – was übrigens ein großer Segen ist, denn wenn es das tun wollte, müsste es autoritär sein.
Wir haben also eine Gesellschaft, in der diese unterschiedlichen Rationalitäten, an die wir starke Erwartungen haben, diese Erwartungen eigentlich nicht erfüllen können. Wenn etwas schief läuft, wonach rufen wir? Nach der Politik, nach dem Staat, und verlangen von ihm, dass er die Gesellschaft reguliert. Der Staat kann eigentlich nur kollektiv verbindliche Entscheidungen treffen. Er kann etwa die Steuern erhöhen oder senken; dann muss man schauen, was die Märkte damit machen. Manchmal machen sie nicht das, was man vorher im Wahlkampf imaginiert hat. Man kann sich wissenschaftliches Wissen ins Haus holen und feststellen, dass die Dinge dadurch nicht einfacher, sondern schwieriger werden. Man kann auf Erlösung hoffen, religiös, und an dem, was gesagt wird, erst recht verzweifeln.
Wir erleben, dass die paradoxen Folgen permanent da sind. Was wir natürlich auch erleben, ist, dass der Kontakt zwischen diesen unterschiedlichen Rationalitäten außerordentlich schwierig ist. Eliten haben zum Teil die Fähigkeit verloren – zum Beispiel als politische Eliten –, zu verstehen, wie ökonomische Märkte eigentlich funktionieren. Umgekehrt übrigens genauso. Was kann man eigentlich politisch regulieren? Und die komischen Erwartungen an das Rechtssystem, bestimmte Dinge zu regulieren, die das Recht nicht regulieren kann. Wir erleben: Obwohl wir Dinge wissen, hält sich die Gesellschaft nicht daran. Am Nachmittag wird Kollege Lesch sprechen; ich nehme an, dass er etwas zur ökologischen Gefährdung sagen wird, und wie irrational diese Gesellschaft ist, und dass wir umkehren müssen.
Ich bin sehr skeptisch, ob wir umkehren können, weil dieses Wir überhaupt nicht bestimmbar ist. Es ist eine Gesellschaft, die je nach partikularen eigenen Rationalitäten auf dieses Problem reagiert. Beispiel: Am besten wäre es doch, zunächst einmal alle Dinge, die zu viel CO² produzieren, zu enteignen. Das ist eine tolle Idee. Wenn Sie irgendwo hingehen, finden Sie immer Leute, die sagen: „richtig, genau!“ – bis ihnen einfällt, dass sie sich einen Diesel gekauft haben. Oder Sie versuchen, von den Märkten zu verlangen, dass sie von jetzt auf gleich auf bestimmte Formen von Mobilität umstellen, ohne dass sie wissen, ob das wirklich die Technologie ist, die mal kommt. Verlangen Sie von den Unternehmen einmal, auf eine Technologie zu setzen, von der man es noch nicht genau weiß. Ich bin mir relativ sicher, dass die Art von Elektromobilität, wie wir sie zur Zeit bei uns diskutieren, nicht das sein wird, was in 50 Jahren auf den Straßen herumfährt – übrigens aus ökologischen Gründen, weil die Batterietechnik große ökologische Probleme erzeugen wird. Sie sehen, wie komplex die Dinge auf einmal werden, wenn man sich auch Gedanken darüber macht, wo eigentlich die Rohstoffe für die Lithium-Batterie herkommen soll, wie man diese entsorgt, wo eigentlich der Strom herkommen soll, der dann an jeder Ecke verfügbar sein soll usw.
Die Kaskade dieser Gesellschaft produziert immer mehr Uneindeutigkeiten, man könnte fast sagen: Irrationalitäten oder Unberechenbarkeiten. Das war der Ausgangspunkt, um das Thema zu präzisieren und womöglich ein Versuch zu zeigen, dass Leute, die in den jeweiligen Logiken arbeiten, Wissenschaftler, Politiker, Ökonomen, Kirchenleute, Leute im Rechtssystem, Mediziner, wer auch immer – dass diese zumindest eine Idee davon haben, dass ihre eigene Rationalität die andere Rationalität anderer Rationalitäten ist. Auf Deutsch gesagt: dass sie sich selber in „constraints“ bewegen, die darauf hinweisen, dass die anderen das auch tun. Das wäre rationales Verhalten, blinde Flecke oder Grundunterscheidungen von anderen Grundunterscheidungen zu kennen.
Es gibt eine schöne Figur, die wir im Westen Takt nennen und in Asien die Vermeidung von Gesichtsverlust. Takt ist, anzuerkennen, dass der andere gerade nicht anders kann, als das, was er tut. Das ist Takt. Und die Vermeidung von Gesichtsverlust ist, nicht aus meiner eigenen Logik heraus den anderen darüber zu beschämen, dass ihm die Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, das, was aus meiner Sicht das Richtige ist, jetzt auch zu tun. Das könnte ein Bild dafür sein, wie Systemrationalität aussieht. Das heißt nicht, indifferent dem anderen gegenüber zu sein, sondern Sprechweisen zu finden – zum Beispiel aus politischer Perspektive zu verstehen, was ökonomisch eigentlich möglich ist.
Systemrationalität würde darauf hinweisen oder zumindest ansatzweise darüber nachdenken, ob man in der Lage sein könnte, die Differenz zwischen den eigenen Unterscheidungen und den anderen Unterscheidungen wenigstens in Rechnung zu stellen. Max Weber hat mit seinen Rationalitätstypen, die etwas anderes abbilden als das, was ich jetzt beschreibe, aber durchaus strukturähnlich sind, auch den Versuch unternommen, zu zeigen, wie viel Rationalität eigentlich die Sozialwissenschaften in der Gesellschaft anbieten können, wenn diese nicht so tun, als wüssten sie, was man tun muss. Das ist oft der Gestus von Sozialwissenschaftlern, auch von Ökonomen, auch von Juristen, zu glauben, dass, wenn man die Dinge in ihrer Logik machen würde, alles geregelt wäre. Sie kennen auch viele Ökonomen, die sagen, wenn wir alles auf Märkte umstellen, dann wird es schon; oder Soziologen, die entsprechend sagen, wir wissen doch, was normativ richtig ist, da muss man den Rest verbieten oder – viele meiner Kollegen reden so – moralisch verwerfen. Viel interessanter wäre doch, und das hat Max Weber vorgeschlagen, die Konsequenzen durchzuspielen, welche Rationalitätsform wo welche Konsequenzen hat. Er hat das durchgespielt an der Frage von Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Die Gesinnungsethik ist wertrational, die Verantwortungsethik ist zweckrational. Gesinnungsethik heißt, dass es mir ganz egal ist, was am Ende dabei herauskommt; die Hauptsache ist, ich habe nach meinen starken moralischen Werten gehandelt.
Sie können das in der Flüchtlingsdebatte sehr schön sehen, wenn da Leute diese großen Maximalforderungen stellen von offenen Grenzen in zum Teil sehr naiven Formen, so dass sie am Ende zugeben müssen, dass ihnen eigentlich egal ist, was bei einer solchen Politik herauskommt – Hauptsache, diese Moral wurde durchgesetzt. Das macht einen Unterschied, ob man dann zweckrational ist und fragt, unter welchen Bedingungen eigentlich allen Gruppen am besten geholfen wäre. Wenn man das politisch ausdrückt: Die Bayerische Staatsregierung hat 2015/2016, als es die großen Flüchtlingszahlen gab, zweckrational und mit einem hohen, auch durchaus ethischen Wert sehr gute Integrationspolitik für Flüchtlinge gemacht. Das muss man anerkennen. Ich bin viel in Deutschland unterwegs gewesen und habe mir das auch in anderen Bundesländern angeschaut; da war das zum Teil ganz anders. Wir wollen nicht von Berlin reden, aber auch in Nordrhein-Westfalen und in Niedersachsen war es anders. Die Bayern haben wirklich gute Politik gemacht; das wurde von allen anerkannt. Aber sie haben nicht darüber geredet, sie haben es geradezu verschwiegen. Ich habe selbst mit den Verantwortlichen das Vergnügen gehabt, über solche Dinge zu sprechen. Sie haben es verschwiegen, weil sie zweckrational wussten: was zu tun ist, muss auch getan werden; sie haben viel Geld in die Hand genommen, und zwar mit guten Folgen – nirgendwo so gut wie in Bayern. Sie haben aber auch in einer fast gesinnungsethischen Art und Weise gesagt: dann stehen wir moralisch blöde da, wenn wir das tun; dann reden wir ja wie die Grünen, die woanders regieren, es aber nicht hinkriegen.
Mir geht es überhaupt nicht um parteipolitische Fragen. Mir geht es mehr um die Feststellung, dass man daran sehr schön sehen kann, dass dieses Grenz-Management zwischen eigenen Rationalitäten und den Kontexten das ist, an dem sich sehr viel in dieser Gesellschaft zur Zeit entscheidet.
Wenn ich am Ende noch etwas als Hochschullehrer sagen darf: Ich frage mich immer öfter, wie eine Hochschulausbildung, die das Siegel des Rationalen tragen könnte, auszusehen hätte. Natürlich müssen Studentinnen und Studenten ein Fach grundständig sehr intensiv und sehr gut lernen und beherrschen. Aber sie müssen auch lernen – und das nicht nur abstrakt, sondern konkret –, dass die gleichen Probleme in den anderen Fakultäten ganz anders gelöst werden, aber eben auch gelöst werden – und dass sie dafür sprechfähig werden müssen. Deshalb heißt die Quintessenz: Die zu starke Konzentration der jeweiligen Rationalitäten auf sich selbst produziert irrationale Folgen. Vielleicht lässt sich das am besten dadurch vermeiden, dass wir die Begrenztheit unserer je eigenen Rationalitäten in Rechnung stellen. Vielleicht wäre das die rationalste Form, mit dem Problem der Rationalität und der Irrationalität umzugehen.