Aktuelle Probleme
Gibt es ein christliches Menschenbild? Die Gesellschaft geht davon aus; große Teile der Politik erwarten und erhoffen, kleine leugnen, fürchten oder missbrauchen es. Dass sich das christliche Menschenbild im Kern auf die Bibel stützt, wird nicht nur in den Kirchen verstanden. Dass es sich in seiner alt- und neutestamentlichen Spiegelung um ein jüdisch-christliches Menschenbild handelt, wird nicht immer gesehen, aber als theologische Einsicht von erheblicher politischer Brisanz vielfach dankbar aufgenommen. Die christologische Prägung, die vom wahren Menschsein Jesu im Neuen Testament ausgeht, steht ohnedies außer Frage.
Worin aber besteht das christliche Menschenbild, wie die Bibel es grundlegt? Gibt es überhaupt the Menschenbild? Und ist das, was die Bibel von Menschen erzählt, bedenkt und bezeugt, überhaupt noch relevant, da sich die Lebensverhältnisse und Geschlechterrollen tiefgreifend verändert haben? Welche Bedeutung hat die biblische Anthropologie für die gegenwärtigen Debatten, die über die Begründung von Menschenwürde und Menschenrechten geführt werden? Wie lässt sich das Verhältnis von Theozentrik und Humanität bestimmen, das aktuell vom Erschrecken über religiös motivierte Gewalt dominiert wird? Wie kann die Spannung zwischen der Bestimmtheit einer religiösen Konfession und der Universalität einer Ethik, die Frieden stiftet und Gerechtigkeit fördert, aufgebaut und für die zivilisatorische Energiegewinnung genutzt werden?
Diese Fragen können nur dann gut diskutiert werden, wenn die traditionellen Rezeptionen, die den christlichen Konfessionen bis heute ihr Profil geben, dargestellt und im Licht der Schrift reflektiert werden. Dies hat die Studie „Gott und die Würde des Menschen“ im lutherisch-katholischen Dialog getan. Sie hat sich auf eine gemeinsame Beschreibung des biblischen Menschenbildes verständigt und in ihrem Licht konfessionelle Differenzen neu betrachtet. Sie hat in dieser Studie sowohl Traditionskritik betrieben als auch Zukunftsoptionen eröffnet. Deshalb wird sie heute diskutiert.
Konfessionelle Kontroversen
Die Anthropologie gehört zu den klassischen Feldern der Kontroverstheologie. Deshalb muss die ökumenische Studie die Hypothese überprüfen, es könnten wesentliche Unterschiede im Menschenbild sein, die bei Zweifelsfällen zu unterschiedlichen Urteilen in der Ethik führen. Diese Hypothese wird von der Bilateralen Arbeitsgemeinschaft falsifiziert. Weil das biblische Menschenbild in ökumenischer Gemeinsamkeit beschrieben und erschlossen werden kann, müssen die Dissense anders erklärt werden, während die Gemeinsamkeiten ein starkes Zeugnis diesseits und jenseits der Unterschiede fordern.
Diese ökumenische These kann allerdings weder von den traditionellen Differenzen absehen noch von der kritischen Wahrnehmung der lutherischen Anthropologie einerseits, der katholischen andererseits. Dem Protestantismus wird in der Öffentlichkeit zwar zuweilen eine Affinität zur Freiheit des modernen Menschen zugeschrieben, zuweilen aber eine schwarze Anthropologie, die sich am liebsten über Schuld und Sünde definiere, während mit dem Katholizismus gerne eine etwas harmlose Lebensfreude verbunden wird, aber auch eine Fesselung der Selbstbestimmung in den Fängen eines Lehramts, das im Zweifel immer besser wisse, was für die Einzelnen gut und richtig ist.
Das sind Klischees. Wer hinter die Kulissen schaut, erkennt ein paar echte Kontroversen, die lange Zeit mit harten Bandagen ausgetragen worden sind, auch mit den Waffen kontroverser Bibelexegese. Was passiert beim Sündenfall? Gehen die Menschen ihrer Gottesebenbildlichkeit verlustig, so eine traditionell evangelische Lesart, oder wird sie lediglich verwundet, so eine typisch katholische Lektüre? Haben die Menschen Willensfreiheit erst im Moment, da sie durch die Annahme des Wortes Gottes zum Glauben gekommen sind, wie oft Luther verstanden wird, oder immer schon als Geschöpfe, auch wenn sie sich von Gott und dem Nächsten abwenden? Bleiben sie im Prozess der Erlösung rein passiv oder werden sie im Gegenteil von Gott aktiviert, so dass sie mit ihm kooperieren können?
In der ökumenischen Studie wird zuerst das biblische Zeugnis selbst dargestellt, und zwar in thematischen Längsschnitten, die der Gottebenbildlichkeit, der Schuld und Not, der Erlösung, dem Lebensanfang und -ende nachgehen, um in einer Option für die Armen zu kulminieren. Der systematische Teil verklammert diese Anthropologie mit dem philosophisch-politischen Menschenwürdediskurs und arbeitet im Zuge dessen Eckpunkte einer ökumenischen Systematik aus.
Ökumenische Fundamente
„Gott und die Würde des Menschen“ kann sich als lutherisch-katholische Studie auf die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ berufen, die inzwischen auch die differenzierte Zustimmung von methodistischer, anglikanischer und reformierter Seite gefunden hat. In der „Erklärung“ ist gezeigt worden, dass es signifikante Differenzen in der Soteriologie wie der mit ihr verbundenen Anthropologie gibt, aber keine kirchentrennenden Gegensätze, sondern unterschiedliche Explikationen einer tiefen Gemeinsamkeit. Freilich ist die biblische Basis der Rechtfertigungslehre in der „Gemeinsamen Erklärung“ nicht eingehend begründet und erst später in einer eigenen Studie genauer reflektiert worden. Das Ergebnis ist ein doppeltes: Zum einen wird deutlich, dass die Kontroversen, die speziell im Westen, in der lateinisch geprägten Christenheit, ausgetragen worden sind, nur einen Ausschnitt, aber lange nicht die Weite der biblischen Anthropologie und deren Rezeption erfassen. Dieser Umstand erklärt, dass selbst den härtesten Kontroversen starke Gemeinsamkeiten zugrunde lagen; er zeigt aber auch, dass es in lutherischer wie in katholischer Optik blinde Flecken gibt, die in einem breiter aufgestellten Spektrum der Ökumene besser angeschaut werden können. Zum anderen erklären sich die Differenzen vom Zeugnis der Heiligen Schrift her sowohl in ihrem jeweiligen Recht als auch in ihren typischen Grenzen, die oft verteidigt wurden, aber nicht unüberwindlich scheinen. Würden sie isoliert, würden sie verabsolutiert. Werden sie aber in den größeren Kontext der biblisch orientierten Anthropologie einbezogen, werden sie als Profillinien erkennbar, die breite Schnittmengen durchziehen und sie strukturieren, ohne sie zu zerschneiden.
Beides ist für die politische und gesellschaftliche Wirkung wichtig: Es gibt keinen theologischen Grund in der Anthropologie, dass die Kirchen nicht mit einer Stimme sprechen könnten, um die Menschenwürde zu begründen, zu beschreiben, zu achten und zu schützen. Was kontroverstheologisch strittig ist, hat geringe ethische Relevanz. So deutlich die Orientierung am biblischen Menschenbild ist, so deutlich ist auch die Option für Menschlichkeit im Namen Gottes.
Biblische Impulse
Zwischen dem Luthertum und dem Katholizismus gibt es Unterschiede in der Theorie der Schrift wie der kirchlichen Schriftauslegung, aber keine Widersprüche, die gegen eine ökumenische Schriftlektüre sprächen. Für beide Seiten ist das Zeugnis der Bibel grundlegend. Aber beide wenden sich ebenso klar von einem biblizistischen Fundamentalismus ab wie sie sich Einsichten ins Menschliche aus der Wissenschaft, aus der Kunst, aus der Kultur öffnen. Die Gesellschaft hat ein Recht, dass von kirchlicher Seite das christliche Menschenbild beschrieben und vermittelt wird, das heute in der Bibel zu entdecken ist. Die Heilige Schrift zeichnet keinen Idealtyp des Menschen, sondern stellt eine ganze Galerie von Männern und Frauen, Jungen und Alten, Sündern und Gerechten aus, verbunden durch eine große Geschichte, die wirklich einmal bei Adam und Eva anfängt, um durch das Kommen Jesu aus Not und Elend, Freude und Sorge, Glück und Trauer, wie sie auf Erden erfahren werden, in die Vollendung des himmlischen Jerusalem zu führen, eines Paradieses, das nicht durch ein Tabu geprägt ist, sondern durch ganze Alleen von Lebensbäumen, die eine Arznei der Unsterblichkeit verabreichen (Offb 22,1-5).
Das biblisch-anthropologische Thema, das in der Studie zuerst angeschaut wird, ist die Gottesebenbildlichkeit des Menschen: jedes Menschen, unabhängig von Geschlecht, Status, Intelligenz, Nation, Moral oder Religion (Gen 1,26f.). Im Monotheismus der Genesis bricht das Wissen auf, dass es keine Menschen erster oder zweiter Klasse gibt und keine Stufen des Menschseins, sondern für alle Menschen immer nur das volle Maß, die echte Würde, das ganze Recht des Menschseins – weil es nur einen Gott gibt, der allen das Leben schenkt und erhält. Dieser biblisch-theologische Ansatz ist mit einer universalen Philosophie der Menschenwürde und einer universalen Ethik der Menschenrechte kompatibel. Indem der Mensch aber in der Bibel, anders als im säkularen Humanismus, nicht nur auf sich selbst, sondern konstitutiv auf Gott bezogen wird, wird er als transzendentales Wesen bestimmt, das sich zu relativieren weiß, um sich zu gewinnen: „Was nützt es dem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und sein Leben zu verlieren?“ (Mk 8,36). Genau deshalb ist jedem Menschen mitten im irdischen das ewige Leben verheißen. In der Theologie der Gottesebenbildlichkeit ist zwar die Versuchung angelegt, den Glauben zum Mittel der Selbstbehauptung gegen andere zu benutzen, aber auch eine Letztbegründung menschlicher Freiheit, die jeden Definitionsversuch von politischer oder kultureller Seite im Ansatz durchkreuzt.
Die Kinder Adams und Evas sind dem Neuen Testament zufolge die Schwestern und Brüder Jesu, der selbst, als zweiter Adam (1 Kor 15,20-22. 45-49; Röm 5,12-21), Glanz und Elend des Menschseins geteilt hat, um die Nähe Gottes im Alltag der Welt zu vermitteln und die Verheißung der Rettung nicht aus der Distanz heiliger Unantastbarkeit, sondern aus der Nähe unbedingter Teilhabe zu verkünden (Hebr 4,15).
Von der Gottesebenbildlichkeit und der Christusgeschwisterlichkeit her erschließt sich der gesamte biblische Part der lutherisch-katholischen Studie. Wie im 1. Buch Mose vorgegeben, wird die besondere Verantwortung des Menschen für die Schöpfung unterstrichen. Die Genesis belegt nicht die metaphysische Einsamkeit eines idealistischen Subjekts, sondern die Solidarität aller Kreatur, die nicht nur eine ökologische Ethik, sondern auch eine kreative Spiritualität begründet. Paulus führt sie im Römerbrief aus, wenn er schreibt, dass diejenigen, die Kraft des Geistes „Abba“ rufen, also das Vaterunser beten können, stellvertretend den stummen Schrei aller Kreatur nach Erlösung zum Ausdruck bringen (Röm 8,14-27).
Mit der Bibel wird in „Gott und die Würde des Menschen“ ökumenisch gemeinsam von der Sünde wie der Not der Menschen gesprochen, die sie jenseits von Eden erleiden müssen, ohne sie verleugnen, verdrängen oder verbrämen zu müssen (Gen 3,14-19). So geschieht dem Neuen Testament zufolge die Erlösung nicht an der Schuld und Not der Menschen vorbei, sondern mitten durch sie hindurch: weil Jesus aus reiner Liebe den verfluchten Tod am Kreuz stirbt, aber von den Toten auferweckt wird, um den Segen Gottes allen Völkern zu spenden (Gal 3,13f.). In dieser Frohen Botschaft ist eine Kultur des Mitleids mit einer Aufwertung der Opfer ins Recht gesetzt, die weit über die kirchlichen Kreise hinaus Beachtung findet.
Ihrer theozentrischen Perspektive folgend, skizziert die Studie „Gott und die Würde des Menschen“ als genuin christliches Glaubenszeugnis die Hoffnung auf Erlösung, die in Kreuz und Auferstehung Jesu begründet ist. Der Glaube führt über die Schwelle dieser Hoffnung – ist aber nicht exklusiv zu verstehen, sondern proaktiv für den universalen Heilswillen Gottes (Nr. 138; vgl. 190).
Im Blick auf ethische Dissense, die jüngst aufgebrochen sind, folgt eine kurze Reflexion über Anfang und Ende des Lebens – nicht, weil die medizinischen Fortschritte biblisch affirmiert oder konterkariert werden sollten, sondern weil die Grundlinie biblischer Anthropologie verfolgt wird: dass Menschsein nicht an körperliche oder geistige Stärken geknüpft ist, sondern von der Zeugung und Empfängnis bis zum letzten Atemzug in Gottes Hand liegt.
Systematische Perspektiven
In der systematischen Reflexion des biblischen Zeugnisses wird zuerst geklärt, dass die christliche Tradition keinen Monopolanspruch auf die Kategorie der Menschenwürde erheben kann, sondern aus dem dauernden Dialog mit der Philosophie großen Nutzen für die Klärung der eigenen Begrifflichkeit zieht. Aus theologischer Sicht wird die These abgelehnt, dass es einen gestuften Schutz der Menschenwürde geben solle (Nr. 164).
Mit Rekurs auf die biblische und die systematische Theologie heute wird sodann der kontroverstheologische Gegensatz bezüglich des Verlustes oder der Verwundung der Menschenwürde durch die Erbsünde aufgeklärt; im selben Zuge wird eine dialektische Bestimmung der Korrelation von Gnade und Freiheit vorgenommen. In beiden Teilen wird nicht der Eindruck erweckt, die spezifisch evangelisch-lutherischen oder katholischen Akzente seien Überzeichnungen, die besser unterblieben wären. Vielmehr dürfen auch Katholiken von der im Protestantismus betonten Einsicht beeindruckt sein, dass kein Mensch aus sich selbst heraus des Heiles gewiss sein kann, während Lutheraner nicht zu leugnen brauchen, dass Gott nicht nur an den Menschen, sondern auch in und mit ihnen handelt. Ebenso sollte es Katholiken im Dialog mit Protestanten leichter fallen, nicht ständig gegen den Individualismus der Moderne zu polemisieren, da doch die Freiheit des Glaubens nicht nur eine biblische Mitgift, sondern auch ein großes Thema des tridentinischen Reformkatholizismus ist, während Lutheraner im Dialog mit Katholiken besser sehen können, dass die kirchliche Vermittlung des Evangeliums keine Fremd-, sondern eine Selbstbestimmung der Gläubigen ist, wie auch in den reformatorischen Bekenntnisschriften gesagt ist.
Diese Aufarbeitung überkommener Gegensätze erlaubt es der bilateralen Studie, eine theologische Begründung der Menschenwürde vorzulegen, die nicht auf ein bestimmtes Konzept festgelegt ist, sondern verschiedene Begründungen differenzieren und korrelieren kann: eine schöpfungstheologische bei der Gottesebenbildlichkeit, eine christologische bei der Inkarnation, eine rechtfertigungstheologische in der gnädigen Berufung Gottes und eine eschatologische in der Bestimmung für das Reich Gottes. Jede dieser Begründungen liefert dem offenen, vieldeutigen und deshalb oft folgenlosen Konzept der Menschenwürde Substanz und Perspektive: Mit Rekurs auf die Schöpfung wird die Universalität der Menschenwürde deutlich, mit Rekurs auf die Christologie die Verletzlichkeit – man hätte hinzufügen können: und die verheißene Verherrlichung – der Menschen, mit Rekurs auf die Rechtfertigungslehre das Angenommenwerden derer, die sich und andere nur verurteilen müssten, wenn es nach ihrem Wollen und Handeln ginge, mit Rekurs auf die Eschatologie die Aussicht auf eine Vollendung durch Gottes Liebe, die durch die gegenwärtige Unvollkommenheit, Endlichkeit und Sterblichkeit nicht konterkariert wird.
Ethische Konsequenzen
Die Studie der bilateralen Arbeitsgemeinschaft kritisiert die Erwartung, aus einer biblischen und systematischen Theologie der Menschenwürde direkt, d.h. ohne Berücksichtigung geschichtlicher, kultureller, sozialer, medizinischer, psychologischer, politischer Faktoren eine ethische Maxime, einen rechtlichen Grundsatz oder einen politischen Imperativ abzuleiten. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass Differenzen in ethischen, juristischen und politischen Fragen nicht sofort auf Verwerfungen im theologischen Fundament schließen lassen, sondern andere Gründe haben können, z.B. Unterschiede im Verhältnis von Kirche und Staat, Norm und Gewissen, Prinzip und Ausnahme.
Die Studie leistet freilich nicht nur einer Entideologisierung der moralischen, politischen und juristischen Kontroversen Vorschub. Im Kapitel, das der Anthropologie gewidmet ist, wird deutlich, was in oecumenicis ein differenzierter Konsens ist: eine Verständigung nicht nur über Gemeinsamkeiten, sondern auch über Unterschiede, eine Bereitschaft, eigene Traditionen auf den Prüfstand zu stellen und neu zu formulieren, vor allem eine Fähigkeit, die Intention, die Kompetenz und das Recht der Anderen wahrzunehmen – all dies auf der Basis einer hermeneutisch reflektierten Schriftexegese und im ständigen Dialog mit der Welt der Wissenschaften. Sowohl die Entideologisierung als auch die Konsensbildung sind ein theologisches Plädoyer für tiefe Differenzierung, reflektierte Pluralität und permanenten Dialog in der Ethik wie in der Politik und im Recht.
„Gott und die Würde des Menschen“ ist ein Thema, das transmoralisch angelegt ist und auf diese Weise der ethischen Orientierung dient. Es ist im vorpolitischen Raum angesiedelt und entfaltet von dort aus seine politischen Wirkungen. Es ist ein Thema, das jene Grundlagen des Rechts legt, die Artikel 1 des Grundgesetzes auf den Punkt bringt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Im Artikel fehlt zu Recht jeder religiöse Bezug, der vielmehr in die Präambel gehört; es wird auch nicht von einer Begründung, sondern von einer Achtung und dem Schutz der Menschenwürde gesprochen, die „unantastbar“ ist, werde sie auch mit Füßen getreten. Der Gesetzgeber definiert nicht, was Menschenwürde ist, sondern setzt ein Grundverständnis voraus – weil er es selbst nicht bilden kann.
Das Christentum, mit dem Judentum verschwistert und mit dem Islam immerhin verwandt, liefert eine spezifisch religiöse Begründung und Bestimmung, ohne andere Begründungen und Bestimmungen auszuschließen. Mit der Bibel zeigen die Kirchen gegen starke Versuchungen und Belastungen in ihrer eigenen Geschichte, wie kostbar und verletzlich das Leben von Menschen ist. Sie plädieren für die Freiheit und Verantwortung der Menschen. Sie begründen die einmalige Bedeutung des irdischen Lebens, weil sie an das ewige Leben glauben.
Vor allem zeigen die Kirchen – die evangelisch-lutherischen Kirchen und die römisch-katholische Kirche gehen mit ihrer Studie stellvertretend voran – in der globalisierten Welt von heute mit ihren starken kulturellen und sozialen Spannungen, dass die Würde des Menschen nicht eine Folge seines Prestiges, seines Erfolges, seiner Anerkennung, auch nicht eine Konsequenz seiner Moralität, seiner Rationalität oder seine Religiosität ist, sondern in allen Irrungen und Wirrungen gerade umgekehrt der Grund, weshalb Lebens- und Persönlichkeitsrecht, Religions- und Gewissensfreiheit gewährt werden müssen. Die spezifisch theologische Begründung liegt darin, dass alle Menschen, Regierende wie Regierte, Gesetzgeber wie Bürgerinnen und Bürger, Täter wie Opfer, Kranke wie Gesunde, Erfolgreiche wie Erfolglose ein und denselben Gott über sich und hoffentlich auch in sich haben, so die Menschenwürde keinen Idealismus voraussetzt, der letztlich in die Diktatur führt, sondern einen Realismus fördert, der das Gemeinwohl mit der Freiheit der Einzelnen vermittelt. Die abschließende Auslegung der Seligpreisungen zeigt jene „Optionen für Menschlichkeit“, die eine ethische, juristische und politische Konkretisierung nicht ersetzen, aber orientieren und transzendieren. In einer erweiterten Optik der Ökumene ist zu schauen, ob diese lutherisch-katholische Perspektive eine Engführung ist oder eine Verbindung zur Orthodoxie wie zur freikirchlichen Bewegung finden kann.