Neue Perspektiven auf die Geschichte der RAF

40 Jahre danach

As part of the event "Historical Days 2019", 06.03.2019

„Selten ist so viel über so Wenige geschrieben worden“ – mit dieser ebenso lakonischen wie irritierten Feststellung hat der Historiker und Terrorismusexperte Walter Laqueur schon 1987 die Geschichte der Roten Armee Fraktion bilanziert. Seitdem ist die Flut von publizistischen und wissenschaftlichen, aber auch von im weitesten Sinne künstlerischen Beiträgen zur RAF mitnichten abgeebbt – im Gegenteil. Woran liegt das?

Nun, der deutsche Linksterrorismus ist im Kontext von mindestens drei Themenkomplexen zu sehen, um deren Deutung bis heute intensiv gestritten wird. Erstens war die RAF Teil der Nachgeschichte des Nationalsozialismus. Sowohl die Gewalttäter als auch staatliche Akteure und Medien deuteten das Geschehen vor dem Hintergrund der NS-Vergangenheit, die sich wie ein Wahrnehmungsfilter vor die Wirklichkeit schob. Zweitens war die RAF ein Ausläufer der weltweiten 68er-Bewegung mit ihren internationalistischen Ansprüchen sowie ihren grenzübergreifenden Vernetzungen und Transfers. Und drittens ist die von ihr ausgeübte Gewalt Teil einer längeren Geschichte des modernen Terrorismus, die vom 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart reicht.

Mit dem Soziologen Peter Waldmann verstehe ich unter Terrorismus eine bestimmte, destruktive Form der Kommunikationsstrategie. Für Waldmann bedeutet Terrorismus „planmäßig vorbereitete, schockierende Gewaltanschläge gegen eine politische Ordnung aus dem Untergrund, die vor allem Unsicherheit und Schrecken verbreiten, aber auch Sympathie und Unterstützungsbereitschaft erzeugen sollen.“ Nach dieser Definition ist die RAF spätestens seit den sechs Anschlägen der sogenannten Mai-Offensive im Frühjahr 1972 mit ihren vier Toten und 74 Verletzten als eine terroristische Organisation zu betrachten. In diesem Beitrag möchte ich in Form von vier Thesen die wichtigsten Aspekte meiner Interpretation dieser terroristischen Organisation erläutern, deren Geschichte viel zu oft nur eindimensional erzählt oder gar auf Kosten der Opfer zum Mythos verklärt wird. Die drei eingangs genannten Themenkomplexe werden dabei immer wieder explizit oder implizit aufgenommen.

 

I.

 

These: Für den Weg in die Gewalt, den eine kleine, sich als Avantgarde verstehende Fraktion der Studentenbewegung einschlug, waren weder eine bestimmte Ideologie noch psychische Dispositionen der Beteiligten allein ausschlaggebend. Vor dem Hintergrund der ambivalenten Sprache der antiautoritären Revolte von ´68 waren es vor allem interpersonale Dynamiken, die im Zusammenspiel mit den Medien und staatlichen Akteuren die Radikalisierung forcierten.

Die erste These ist nicht zufällig auch die längste und umständlichste. Denn die 1976 von Heinrich Albertz formulierte Frage, „wie es dazu hat kommen können, dass junge Menschen diesen Formats, aufgeschlossen, intelligent, engagiert, in Terror und Verbrechen abgetrieben werden konnten“, ist natürlich die Frage aller Fragen, zumal im Kontext einer Ende der 60er Jahre zwar sicherlich defizitären, aber doch vergleichsweise gut funktionierenden Demokratie. Völlig klar ist, dass dazu ein ganzes Bündel von Faktoren beigetragen hat, die weder von sozialwissenschaftlichen Strukturanalysen noch von biographischen Zugängen allein erfasst werden können. Die Suche nach den Wurzeln der Gewalt führt direkt in die Stadt, in der Albertz seinerzeit Oberbürgermeister war – nach West-Berlin.

In der durch einen virulenten Antikommunismus geprägten Frontstadt des Kalten Krieges befand sich nicht nur das Epizentrum der 68er-Bewegung, hier experimentierten auch die ersten Gruppen mit terroristischen Gewaltformen. Vorausgegangen war eine Inflation gewaltbetonter, aus dem exotischen Kontext der antikolonialen Befreiungsbewegungen importierter Reizworte und Appelle in der systemkritischen Studentenschaft. Ob diese tatsächlich wörtlich oder aber nur symbolisch bzw. satirisch zu interpretieren seien, war im Lauf der Zeit immer weniger eindeutig zu entscheiden. Vor allem nach dem skandalösen Verlauf der Anti-Schah-Proteste vom 2. Juni 1967, bei denen sich eine Woge der Polizeigewalt über die Demonstranten ergossen und unter den Studenten ein Todesopfer gefordert hatte, kam es zur verbalen Aufrüstung der Bewegung. An dieser rhetorischen Enttabuisierung der Gewalt, die nicht zuletzt durch die diffamierende und wahrheitswidrige Berichterstattung der Springer-Presse provoziert worden war, war auch Rudi Dutschke prominent beteiligt.

Dennoch spricht einiges dafür, dass ein anderer, heute wie damals zu wenig ernst genommener Mann für die Vorgeschichte des Linksterrorismus eine mindestens ebenso wichtige Rolle gespielt hat – der Polit-Provokateur Dieter Kunzelmann. Schon vor dem 2. Juni hatte der Spiritus Rector der skandalumwitterten Kommune 1 Flugblätter produziert, die einen verheerenden Kaufhausbrand in Brüssel mit der zynischen Aufforderung kommentierten, mit dem Anzünden von Kaufhäusern „das knisternde Vietnamgefühl“ nach Europa zu holen. Es waren vier Personen vom Rand des Umfelds der Kommune, die diese Idee ein knappes Jahr später in Frankfurt in die Tat umsetzen sollten, unter ihnen das ungleiche Paar Andreas Baader und Gudrun Ensslin.

Weniger bekannt, aber für das weitere Geschehen genauso wichtig war die Beziehungsdynamik zwischen Baader und Kunzelmann. Beide setzten in der Folge alles daran, den jeweils anderen mit neuen Grenzüberschreitungen zu überbieten. Dutschke wiederum ergänzte diese Konstellation um ein weiteres Element mit Radikalisierungspotential – die Internationalisierung. Im Herbst 1967 nahm er Kontakt zum Mailänder Verleger Giangiacomo Feltrinelli auf. Als glühende Verehrer des kubanischen Revolutionärs und Guerillatheoretikers Che Guevara hatten Dutschke und Feltrinelli einander gesucht und gefunden. Ihr mit apokalyptischen Krisendiagnosen einhergehender Tatendrang steckte auch andere an, darunter die gemeinsame Freundin Ulrike Meinhof. Im Herbst 1967 begannen beide Männer, für die Sabotage von NATO-Einrichtungen zu werben, darunter Angriffe auf US-amerikanische Schiffe, die von deutschen Häfen in Richtung Vietnam ausliefen.

Zunächst aber liefen alle Zuspitzungen auf den Internationalen Vietnamkongress zu, der, organisiert von Dutschke und finanziert von Feltrinelli, im Februar 1968 in West-Berlin stattfand. Die riesige Fahne des Vietcong und der Verbalradikalismus der Redner euphorisierten und mobilisierten nicht nur die Anwesenden, darunter alle späteren Gründungsmitglieder der RAF. Sie alarmierten auch die Behörden. Die rechtsstaatlich hochproblematische Konsequenz daraus lag in der verdeckten Bereitstellung von Sprengsätzen durch den Verfassungsschutz, um die Wortführer der Bewegung endgültig in die Illegalität zu drängen. Auch staatliche Regelverletzungen haben mithin dazu beigetragen, dass sich die in Teilen der 68er-Bewegung angelegte Gewalteskalation am Ende nicht mehr vollständig einhegen ließ.

Die Frankfurter Kaufhausbrandstifter hatten ihre Brandsätze allerdings selbstgebastelt. Ihre Motive hatte wohl der spätere Mitgründer der Bewegung 2. Juni, Bommi Baumann, am besten erfasst: „Die Brandstiftung ist natürlich auch eine Konkurrenzgeschichte, da wird schon versucht, über Praxis die Avantgardepositionen abzustecken. (…) Wer die knallhärtesten Taten bringt, der gibt die Richtung an.“ Nicht von ungefähr ähnelte der Auftritt der Brandstifter vor Gericht der Darbietung einer Künstlertruppe bei einem Happening, das dank der Berliner APO-Anwälte Horst Mahler und Otto Schily gleichwohl eine klare politische Richtung erhielt. Vor allem Ensslin wurde zur Hüterin einer höheren Moral aufgebaut, die sich aus Verzweiflung über die Verhältnisse förmlich zu einem Fanal gezwungen gefühlt habe. Die Tat sei, so Mahler in seinem Plädoyer, „Ausdruck der Rebellion gegen eine Generation, die in der NS-Zeit millionenfache Verbrechen geduldet und sich dadurch mitschuldig gemacht“ habe.

Auf diese Weise verschaffte Mahler den bisherigen Randfiguren der Berliner Szene eine ungeahnte Prominenz, die sich durch das härteste Urteil in der Geschichte der Protestbewegung – drei Jahre Haft – noch erhöhte. Schon während des Prozesses hatte Ulrike Meinhof, damals Redakteurin bei der Zeitschrift konkret, ein längeres Gespräch mit Ensslin geführt und in ihrer Kolumne den „Gesetzesbruch“ als den „progressiven Moment einer Warenhausbrandstiftung“ bezeichnet.

In West-Berlin rief derweil der aus der Kommune 1 ausgeschiedene Kunzelmann den von ihm so genannten Zentralrat der umherschweifenden Haschrebellen ins Leben, dessen Mitglieder nicht nur Drogen konsumierten, sondern einen äußerst militanten Anarchismus auslebten – regelmäßige gewaltsame Konfrontationen mit der Polizei eingeschlossen. Einige Haschrebellen folgten im Sommer 1969 dem Werben einer römischen Anarchistengruppe, die nach dem Attentat auf Dutschke nach Berlin gekommen war. Sie behauptete, im italienischen Süden gebe es eine Fülle potentiell revolutionärer Subjekte, mit denen man gemeinsam auf Rom marschieren könne. Die etwa 20 Deutschen, die sie über den Brenner begleiteten, überschritten nicht nur geographisch eine Grenze. Denn in Italien spitzten sich 1969 anders als in der Bundesrepublik die politischen Konflikte in Form gewaltiger Massenstreiks in der Arbeiterschaft weiter zu. In diesem Klima wurde die Idee geboren, statt nach Süditalien zur Al Fatah nach Palästina zu fahren, um dort das nötige Knowhow für Terrorakte zu erwerben. Finanziert wurde die spezielle Bildungsreise von Feltrinelli. Weitere Revolutionstouristen sollten ihnen auf dieser Route folgen – nicht nur, aber auch aus der Bundesrepublik.

Denn auch Baader und Ensslin setzten sich nach dem Scheitern ihres Revisionsantrags im Kaufhausbrandprozess in den Süden ab. Sie fanden bei dem früheren Kommune 1-Mitglied Ulrich Enzensberger in Rom Unterschlupf, der sie fortan als Dolmetscher durch die linke Intellektuellenszene seiner Wahlheimat begleitete. „Eigenartig, wie ernst wir überall genommen wurden“, erinnert sich Enzensberger. „Eine lange Reihe von Künstlern, Schriftstellern und Politikern wurde besucht (…). Die Sympathie, die den Brandstiftern entgegenschlug, war enorm.“

Dass der Schritt in die Militanz und die radikale Distanzierung von der eigenen Nationszugehörigkeit, die sie mit der Brandstiftung ausgedrückt hatten, ihnen ganz selbstverständlich Türen öffnete und selbst unter Intellektuellen Bewunderung hervorrief – das war wohl die wichtigste Erfahrung, die Ensslin und Baader aus Italien mitnahmen. Aber auch die scheinbar vorrevolutionäre Unruhe in Italien selbst hatte radikalisierende Wirkung. Für fast alle späteren Terroristen der ersten Generation gibt es Berichte darüber, welch tiefen Eindruck die Italienerfahrung auf sie machte, wo der Schulterschluss zwischen Studenten und Arbeiterschaft tatsächlich gelungen zu sein schien. Dass das in der Bundesrepublik nicht der Fall war, machte die Deutschen nicht bescheidener – im Gegenteil. Der Kontakt zu den italienischen Militanten, darunter den späteren Gründern der Roten Brigaden, verstärkte noch ihren Wunsch, auch und gerade als Deutsche ihre vielversprechende Identität als Revolutionäre zu behalten. Als Horst Mahler schließlich in Rom vorstellig wurde, um Baader und Ensslin seine Pläne zur Bildung einer bewaffneten Kadergruppe zu unterbreiten, die Kunzelmanns Tupamaros Konkurrenz machen sollte, begleiteten sie den Anwalt umgehend zurück nach West-Berlin. Bald darauf sollten sie ebenfalls über die von Feltrinelli gebahnte Route nach Jordanien aufbrechen, um sich von den Palästinensern militärisch ausbilden zu lassen. Auch Ulrike Meinhof war zu diesem Zeitpunkt schon dabei.

 

II.

 

These: Trotz und gerade wegen ihres engen Bezugs zur NS-Vergangenheit ist die Geschichte der RAF nur unter Berücksichtigung ihrer europäischen Dimension angemessen zu verstehen.

Während wir uns heute der Tatsache völlig bewusst sind, dass das Phänomen Terrorismus eine internationale Betrachtung erfordert, tun wir beim Reden über die RAF meist immer noch so, als handle es sich um eine rein deutsche Geschichte. Zu dieser Fehlwahrnehmung hat die ständige Beschwörung des Deutschen Herbstes sicherlich ihren Teil beigetragen. Es ist zwar richtig, dass der Linksterrorismus der 70er und 80er Jahre insofern ein nationaler Terrorismus war, als dass die Mitglieder der aktiven Gruppen mit wenigen Ausnahmen dieselbe Nationalität hatten und üblicherweise (wenn auch nicht immer) auf dem Territorium ihres eigenen Staates zuschlugen. Das ist heute anders.

Aber auch der damalige Terrorismus war Teil einer internationalen Welle, bei der Nachahmungs- und Ansteckungseffekte eine wichtige Rolle spielten. Die RAF nannte sich nicht von ungefähr Rote Armee Fraktion, um ihr Selbstverständnis deutlich zu machen. Sie bezog ihre Legitimation zu einem guten Teil aus internationalen Zusammenhängen – anfangs vor allem dem Vietnamkrieg, aber auch aus kolonialen und postkolonialen Herrschaftsverhältnissen, die als imperialistisch gedeuteten wurden. Ihre direkten Vorbilder waren antikoloniale Guerillabewegungen des Trikont – also Lateinamerikas, Afrikas und Asiens.

Die Kooperation mit den Palästinensern ist der bekannteste Aspekt dieser internationalen Dimension. Ohne die logistische und militärische Unterstützung der Palästinenser, da ist sich die Forschung längst einig, hätte die RAF niemals so lange existieren können. Aber erst die Dynamik zwischen europäischen Akteuren, die sich gegenseitig darin bestärkten, dass lateinamerikanische Guerilla-Theorien auch in Europa zur Anwendung kommen und das palästinensische Hilfsangebot angenommen werden sollten, hatte zur Überschreitung der Grenze zur organisierten Gewalt geführt.

Die widersprüchlichen Gefühle gegenseitiger Solidarität und Rivalität, die die radikalen, deutsch-italienischen Subkulturen von Anfang an kennzeichneten, begleiteten RAF und Rote Brigaden durch ihre gesamte Geschichte. Sie bildeten ein geheimes Band, das noch die wenige Monate auseinanderliegenden Entführungen des deutschen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer im Herbst 1977 und des mehrfachen Ministerpräsidenten Aldo Moro im Frühjahr 1978 miteinander verknüpfte. Ursprünglich war die politisch motivierte Personenentführung das Markenzeichen der Roten Brigaden gewesen, das die Bewegung 2. Juni nach intensiver Beratung durch die italienischen Genossen Anfang 1975 mit der Lorenz-Entführung in den deutschen Kontext transferiert hatte.

Mit der Entführung des von vier Personenschützern begleiteten Schleyer gelang der RAF jedoch ein militärischer Erfolg, der sie gegenüber der italienischen Konkurrenz schlagartig in einen Vorteil zu versetzen schien. Nicht ganz zu Unrecht fühlten sich die Italiener auf ihrem ureigensten Terrain überflügelt und ließen die beabsichtigte Verschleppung des italienischen Arbeitgeberpräsidenten Pirelli fallen – diesen Coup hatten die Deutschen ihnen sozusagen vor der Nase weggeschnappt. Stattdessen verfolgten sie die Planungen zur Entführung Aldo Moros umso verbissener weiter. Dass eine Stadtguerilla sich auch eines gut bewachten Opfers bemächtigen konnte, wenn sie nur skrupellos genug dabei vorging, hatte die RAF in Köln ja vorgemacht. Entsprechend ähnlich sehen sich die Bilder von den entsprechenden Tatorten in Köln und in Rom 5 Monate später.

In Rom waren es sogar fünf Menschen, die allein deswegen im Kugelhagel eines nach deutschem Muster durchgeführten Attentats starben, weil sie den Tätern im Weg waren. Die Konkurrenz der gewaltbereiten Gruppen und Personen, die bereits im nationalen Kontext die Eskalation befördert hatte, zeigte auch auf europäischer Ebene ihre Wirkung. Nicht zuletzt der Zwang zur Überbietung des jeweils vorausgegangenen Medienereignisses hatte die Gewaltspirale weitergedreht. Mit der „Entführungstragödie des Jahrhunderts“, so der Spiegel, hatten sich die Roten Brigaden genau dorthin geschossen, wo die RAF wenige Monate zuvor bereits gewesen war: In die Schlagzeilen der europäischen Massenmedien.

Tatsächlich hatten sich die Mitglieder der RAF stets als Akteure auf einer internationalen Bühne imaginiert. Vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit wenn nicht gar der ganzen Welt wollten sie sich bewähren und beweisen – als die vermeintlich besseren, antifaschistischen Deutschen, die sich erfolgreich vom Kainsmal Auschwitz befreit hatten. Dass sie Deutsche waren, war ihnen vor allem im Kontakt mit ausländischen Genossen bewusstgeworden. In diesem Sinne war der Besuch des in Stuttgart-Stammheim inhaftierten Baader durch den französischen Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre im Dezember 1974 ein besonders erfolgreicher Coup, da er sich sowohl im Ausland als auch in der deutschen Unterstützerszene als politischer Ritterschlag instrumentalisieren ließ.

Im Übrigen konnte man nicht nur in Frankreich, sondern auch in den Niederlanden angesichts der Behandlung des deutschen Linksterrorismus in den Medien den Eindruck gewinnen, „die RAF habe nur ein paar Flugblätter verteilt“, wie die niederländische Historikerin Janneke Martens resümiert. Auch 1977 war es nicht die Gewalt, die die zweite RAF-Generation und ihre palästinensischen Verbündeten gegen andere verübten, die im Ausland die höchsten medialen Wellen schlug. Es war die von vielen Medien so genannte „Todesnacht von Stammheim“.

Vor allem in denjenigen westeuropäischen Ländern, die im Zweiten Weltkrieg den deutschen Besatzungsterror erlebt und ihr Selbstverständnis stark am antifaschistischen Widerstand ausgerichtet hatten, provozierte der von eigener Hand herbeigeführte, aber als Staatsmord inszenierte Tod von Baader, Ensslin und Raspe drängende Fragen, die die Bundesregierung stark unter Druck setzten. Waren womöglich in einem deutschen Gefängnis einmal mehr wehrlose Häftlinge in staatlichem Auftrag exekutiert worden? Die offizielle Erklärung, den Gefangenen sei es gelungen, über eine Sicherheitslücke in der Anstalt Waffen in die Zellen zu schmuggeln, mit denen sie sich selbst getötet hätten, musste umso unglaubwürdiger klingen, nachdem die GSG 9 in derselben Nacht bei der Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine Landshut demonstriert hatte, dass die deutsche Unfehlbarkeit in militärischen Dingen immer noch weit mehr zu sein schien als ein Klischee aus längst vergangener Zeit.

Vor allem in Italien löste dieser Verdacht breites Entsetzen und sogar eine Welle der Gewalt gegen deutsche Einrichtungen aus – in vieler Hinsicht erlebte das Land einen ganz eigenen Deutschen Herbst. Denn auch die Roten Brigaden ließen es sich nicht nehmen, die vermeintlich ermordeten Genossen zu rächen – unter anderem durch den gezielten Mord am Vize-Direktor der Turiner Tageszeitung „La Stampa“, Carlo Casalegno. Bei dem Journalisten handelte es sich um ein prominentes Mitglied des antifaschistischen Widerstandes der Jahre 1943-45. Aufgrund seiner konsequenten Absage an eine Instrumentalisierung der historischen Resistenza zur Rechtfertigung von Gewalt war er auf die schwarze Liste der Roten Brigaden gekommen. Nachdem er in einem Leitartikel davor gewarnt hatte, die Ereignisse in Stammheim vorschnell als Mord zu bezeichnen, schoss man ihm nicht wie ursprünglich geplant in die Beine, sondern ins Gesicht. 14 Tage später erlag er seinen schweren Verletzungen.

Spätfolgen des Deutschen Herbstes waren aber nicht nur in Italien spürbar. Seit 1979 trat in Frankreich mit der Action Directe eine neue sozialrevolutionäre Formation auf den Plan, die der RAF allerdings nicht wie die Roten Brigaden auf Augenhöhe begegnete, sondern nur zum Juniorpartner der Deutschen avancierte. Seit jeher hatten sich deutsche Terroristen in Frankreich auf eine Unterstützerszene verlassen können, deren Mitglieder zwar nicht selbst das Vorbild der südamerikanischen Stadtguerillas adaptieren mochten, die aber keinerlei Skrupel hatten, den Genossen unter die Arme zu greifen, die das in den post-faschistischen Nachbarländern taten. Ende der 70er Jahre radikalisierten sich Teile dieses Milieus unter dem Eindruck der Ereignisse in der Bundesrepublik und Italien jedoch weiter, zumal eine wachsende Zahl deutscher und italienischer Gewalttäter vor dem steigenden Fahndungsdruck nach Frankreich auswich.

Im Bündnis mit der Action Directe, die einen aggressiven Antiamerikanismus, Antikapitalismus und Antizionismus mischte, beging die RAF Mitte der 80er Jahre den Doppelmord an René Audran und Ernst Zimmermann sowie den Anschlag auf die amerikanische Rhein-Main-Airbase, der zwei Tote und zahlreiche Schwerverletzte forderte. Zuvor war ein amerikanischer GI nur deshalb umgebracht worden, um sich mit Hilfe seiner ID-Card Zutritt zum Gelände zu verschaffen. In dieser Zeit bekamen die ausländischen Kontakte für die Deutschen mehr und mehr die Funktion, das Schrumpfen der von solchen Untaten zunehmend abgestoßenen Unterstützerszene im Inland logistisch und psychologisch zu kompensieren. Der ganz besonders im Ausland inzwischen etablierte Mythos RAF, zu dem seit 1977 die Märtyrologie von Stammheim gehörte, war dabei das wichtigste symbolische Startkapital der dritten Generation.

 

III.

 

Die Langlebigkeit der Gruppe war in erster Linie Ergebnis der erfolgreichen Selbststilisierung ihrer Gründer zu Opfern staatlicher Gewalt, an der einige Strafverteidiger erheblichen Anteil hatten.

Gerade der Fokus auf die europäische Dimension der RAF-Geschichte wirft ein Schlaglicht darauf, dass die effizienteste Kommunikationsstrategie der RAF mitnichten in ihren Taten, sondern in einer erfolgreichen propagandistischen Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses gelegen hat. Diese konnte ihre Verbrechen für nicht wenige Beobachter im In- und Ausland relativieren oder sogar fast zum Verschwinden bringen. Indem der westdeutsche Staat als faschistoide, seine Gegner erbarmungslos verfolgende Repressionsmaschinerie beschrieben wurde, entstand ein selbstreferentieller Opfer-Mythos, der schon aufgrund seiner beispiellosen Fixierung auf die Gründerpersönlichkeiten innerhalb des internationalen Terrorismus seinesgleichen sucht.

Nach den Fahndungserfolgen vom Sommer 1972 hatte für die meisten Beobachter eigentlich schon festgestanden, dass die RAF-Gründer ihre Wette mit der Geschichte verloren hatten. Aber die zuvor zu Staatsfeinden Nr. 1 avancierten Möchtegernrevolutionäre beharrten auch hinter Gittern mehrheitlich auf ihrem Krieg gegen das System. Dazu griffen sie wiederholt zur „Methode Mensch“. So bezeichnete Holger Meins die ab 1973 durchgeführten, hochgradig selbstzerstörerischen Hungerstreiks, die als Gegenmaßnahmen gegen  „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“ dargestellt wurden. Durch den Filter der deutschen Vergangenheit, aus dessen Sprach- und Bildfundus sich die Gruppe geschickt bediente, entwickelte diese Strategie der Selbst-Viktimisierung einen höchst suggestiven Sog.

Paradoxerweise liegt deshalb in der frühen polizeilichen Zerschlagung der Gruppe auch ihre Langlebigkeit begründet. Auch Sartre war unter dem Vorwand nach Stammheim gelockt worden, es gehe um nichts weniger als die Rettung eines Menschenlebens: „die bullen beabsichtigen, unseren hungerstreik dazu zu benutzen, andreas zu ermorden“, so Ulrike Meinhof in ihrer Einladung. Behauptungen wie diese verschleierten in Wirklichkeit nur die Tatsache, dass die Angehörigen die Inhaftierten immer noch im Gefängnis besuchen konnten, während die Familien und Freunde der von ihnen Getöteten zu diesem Zweck auf den Friedhof gehen mussten. Denn die Gewaltstrategie auf den Straßen sollte durch die „Methode Mensch“ in der Haft nur flankiert, nicht ersetzt werden.

Eine wichtige Voraussetzung für das Gelingen der Viktimisierungsstrategie der RAF war die Kooperations- und Identifikationsbereitschaft der beteiligten Anwälte, wie sie allen voran von Klaus Croissant verkörpert wurde. Obwohl dieser anders als seine Kollegen Mahler, Lang, Becker und Haag nicht selbst in den Untergrund ging, teilte er die Feindbilder seiner Klienten ebenso wie ihre Neigung zu Selbstdarstellung und Märtyrertum. Natürlich haben nicht alle Verteidiger so eindeutig den Schulterschluss mit den Gefangenen gesucht wie er. Aber die erste Generation der RAF hat doch zweifellos auch eine Generation stark politisierter Rechtsanwälte auf den Plan gerufen, die den Schwerpunkt ihres Engagements von der klassischen Strafverteidigung vor Gericht auf das Feld der Öffentlichkeitsarbeit verlegt hatten.

Sie übersetzten den schwer verdaulichen und ungebrochen gewaltstrotzenden Polit-Jargon ihrer Mandanten in medientaugliche Botschaften und rückten statt ihrer Verbrechen den angeblichen Verfolgungs-Furor des Staates ins Zentrum ihrer zahlreichen öffentlichen Interventionen im In- und Ausland. Dadurch leisteten die Anwälte einen immer noch zu wenig beachteten Beitrag zur Kontinuität des Linksterrorismus über die Verhaftung der ersten Generation hinaus. Zweifellos waren die beteiligten Anwälte ein extrem beanspruchtes Bindeglied zwischen dem Staat und den Staatsfeinden. Sie sahen sich nicht nur mit den Anfeindungen eines Teils der Medien und der Politik konfrontiert. Sie agierten auch innerhalb eines Justizwesens, in dem prominente Vertreter aus der Auffassung keinen Hehl machten, dass sie die Übernahme eines Mandats zugunsten eines Terrorismus-Verdächtigen per se für standeswidrig hielten.

So formulierte es 1972 der spätere Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Solche Bemerkungen mussten die Wahlverteidiger, die von den Angeklagten naturgemäß unter den um ´68 politisierten Anwälten aus dem Umfeld der Studentenbewegung rekrutiert worden waren, in ihrem Selbstverständnis als Antagonisten der bestehenden Rechtsordnung weiter bestärken. Überhaupt waren auch die Behörden keineswegs unschuldig daran, dass die RAF-Propaganda in Teilen der Bevölkerung verfing. Die fragwürdige Härte, die aus den überzogenen Anordnungen zur Sicherheitsverwahrung sprach, denen Ulrike Meinhof und Astrid Proll in der Frühzeit ihrer Haft in Köln-Ossendorf unterworfen waren, empörte nicht nur die Verteidiger. Sie zementierte in staatskritischen Milieus einen Generalverdacht, der auch durch die, wie wir heute wissen, eklatante Privilegierung der RAF-Häftlinge in den Folgejahren nicht mehr zu zerstreuen war.

Umso verhängnisvoller wirkte sich aus, dass einige Anwälte wider besseres Wissen die Legende von der „Vernichtungshaft“ auch jetzt noch aufrechterhielten. Besonders in den Anti-Folter-Komitees hielten sie mit ihren Aktivitäten die Sympathisantenszenen mit am Leben, in denen auch die Radikalisierungsprozesse neuer Terroristen ihren Anfang nahmen. Das gilt auch für Otto Schily, der seine juristische und rhetorische Brillanz ebenso in den Dienst der RAF wie den guten Ruf, der ihm lange auch in bürgerlichen Kreisen vorauseilte. Im Stammheimer Strafverfahren verglich er die Anschläge auf US-Einrichtungen in Frankfurt und Heidelberg mit Angriffen auf das Reichssicherheitshauptamt, um sie juristisch als Ausübung eines Nothilferechts begründen zu können.

Noch im Oktober 1975, als die Unterbringung der Gefangenen längst keinen Anlass zur Kritik mehr bot, hielt er in Amsterdam eine Rede, in der er die Haftbedingungen als „Folter“ und den deutschen Rechtsstaat als „Kulisse“ bezeichnete, hinter der sich „die nackte Klassenherrschaft“ verberge. Die Rede gipfelte in dem Appell, „härteren Widerstand gegen den Faschismus zu leisten, als es bisher der Fall war“. Damit stieß er ins selbe Horn wie seine Mandanten, die immer wieder darauf verwiesen, dass Knast und Vernichtungslager im Grunde ein und dasselbe seien, wie es Ulrike Meinhof formulierte. „unsere isolation jetzt und das konzentrationslager demnächst (…) kommt raus auf: vernichtungslager – reformtreblinka – reformbuchenwald – die ‚endlösung’. so sieht´s aus.“ – Der „politische begriff für toten trakt (…) sage ich ganz klar ist das gas. Meine auschwitzphantasien dadrin waren realistisch“.

Diese Botschaft suggerierte auch eine drastische Fotografie des ausgemergelten Leichnams von Holger Meins, der am 9. November 1974 im Hungerstreik gestorben war. Mit dem verstörenden Bild, das gezielt in die linke Szene eingespeist sowie an ausgewählte Auslandsmedien weitergereicht wurde, beförderten die Anwälte Groenewold und Croissant die Analogiebildung zwischen dem Schicksal ihrer Mandanten und den Opfern der Shoah. Tatsächlich war Meins’ selbstgewähltes Martyrium für „Baader-Meinhofs Kinder“ der 2. Generation, von denen viele in Klaus Croissants Kanzlei arbeiteten, ein Schlüsselereignis.

Viele fühlten sich „moralisch mitschuldig“, da sie durch ihre Aktivitäten die Tragödie nicht hatten verhindern können. Die medizinischen Versäumnisse in der JVA Wittlich, wo Meins bis zu seiner geplanten Verlegung nach Stammheim untergebracht gewesen war, galten in der Sympathisantenszene schlicht als Mord. Dass im Rahmen des dritten und längsten Hungerstreiks der RAF-Geschichte „typen kaputtgehen würden“ – so die Formulierung Andreas Baaders – war allerdings von vornherein einkalkuliert gewesen.

Im Grunde nahm die propagandistische Instrumentalisierung von Meins` und etwas später auch von Meinhofs Tod die Nacht des 18. auf den 19. Oktober 1977 vorweg, als Baader, Ensslin und Raspe ihren Suizid als vermeintlichen Staatsmord inszenierten. Dabei fungiert die einzige Überlebende Irmgard Möller bis heute als ihr Sprachrohr: Unbekannte – wahrscheinlich Geheimdienstleute –, so Möller, hätten Baader und Raspe erschossen, Ensslin erhängt und ihr selbst mehrmals mit einem Anstaltsmesser in die Brust gestochen; von einer Verabredung zum kollektiven Selbstmord könne keine Rede sein. In Wirklichkeit haben mehrere RAF-Mitglieder ausgesagt, von Brigitte Mohnhaupt erfahren zu haben, dass die Gefangenen sich selbst getötet hätten, „und zwar nicht aus Verzweiflung, sondern um die Politik der RAF voranzutreiben“ (Monika Helbing). „Wenn schon nichts anderes läuft, dann sollte diesem faschistischen Staat ihr Tod vor die Füße fallen“ (Peter-Jürgen Boock).

Schon zu einem frühen Zeitpunkt seiner Inhaftierung hatte Baader seine Umgebung wissen lassen, er werde sich erst entschließen „zu fallen, wenn mein fall ein erdbeben auslöst“. Auch an diesem Erdbeben waren, wie wir heute wissen, Strafverteidiger unmittelbar beteiligt gewesen. Mitarbeiter der Kanzlei Croissant hatten die Aktenordner der Anwälte Arndt Müller und Armin Newerla so präpariert, dass sich Gegenstände darin verstecken ließen. Auf diese Weise wurden ein Fotoapparat, zwei Pistolen, mehrere Stangen Sprengstoff und diverse elektronische Kleinteile an den unzureichenden Kontrollen vorbei in den Gerichtssaal geschmuggelt und von dort aus von den Gefangenen in ihre Zellen gebracht. Bis heute kann man nur spekulieren, ob es allein Unvermögen war, das den Selbstmord ermöglichte, oder ob die Verantwortlichen vor Ort den Suizid womöglich bewusst nicht verhinderten.

Stefan Aust hat früh mit guten Argumenten die These vom Selbstmord unter staatlicher Aufsicht vertreten. Ob in Stammheim zum fraglichen Zeitpunkt tatsächlich abgehört wurde und welche Schlüsse aus den dabei gewonnenen Erkenntnissen gezogen wurden, könnte nur durch eine Offenlegung sämtlicher Akten der in der Anstalt aktiven Geheimdienste nachgewiesen werden. Es wäre höchste Zeit, diesen letzten Nebel des Deutschen Herbstes zu vertreiben. Damit wäre hoffentlich auch den letzten Verschwörungstheoretikern, die auf Kosten der eigentlichen Opfer immer wieder die Täter zu Opfern machen, der Boden entzogen.

 

IV.

 

These: Auch als eine Folge dieser Selbst-Viktimisierung ist die Erinnerung an die RAF bis heute stark auf die Täter fixiert.

Die Faszination für die eben auch zum Selbstopfer bereiten Täter zieht sich als vielleicht breiteste Spur durch die Geschichte der RAF. Mit ihren selbstmörderischen Hungerstreiks und den als Staatsmorden ausgegebenen Suiziden steht die Gruppe in einer langen Reihe zwischen den frühen Terroristen, die – selbst wenn sie das jeweilige Attentat überlebten – stets ihre Hinrichtung riskierten, und den heutigen Dschihadisten, die den eigenen Körper zur tödlichen Waffe machen. „Es ist mein Schicksal, jung zu sterben. Ich werde unseren Sieg nicht erleben und keine Stunde unseres Triumphes genießen können. Aber mit meinem Tod habe ich meine Pflicht erfüllt“, schrieb schon 1881 einer der beiden Verantwortlichen für den Dynamitanschlag auf Zar Alexander II.

Der Abschiedsbrief des Studenten, dessen Sprengstoff nicht nur den Zaren, sondern auch ihn selbst tötete, erscheint wie ein historisches Echo heutiger Internetbotschaften, die die Attentäter von Madrid 2004 auf den Satz zuspitzten: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“. Offensichtlich ist der Drang nach Transzendenz, also nach Sinnstiftung jenseits des irdischen Hier und Jetzt, konstitutiv für jegliche Form des Terrorismus, ganz unabhängig davon, ob er explizit im Namen einer bestimmten Religion zu agieren beansprucht oder nicht. Trotz der Kontinuitäten wäre es allerdings ein Missverständnis, das Vermächtnis der Terroristen als zeitlos zu betrachten. Vielmehr intendiert es immer eine Wirkung auf potentielle Sympathisanten und die möglichst effektive Provokation der Macht in einem spezifischen historischen Kontext.

Seien es Meinhofs „Auschwitzphantasien“ aus der Haft oder das neben Aufnahmen aus Buchenwald durch die Straßen getragene Foto des Leichnams von Holger Meins: Die RAF war in vieler Hinsicht das Produkt einer auf den Trümmern des NS-Terrors wiederaufgebauten Gesellschaft. Das bedeutet dennoch nicht, dass die Gewalt, die mehr als 20 Jahre lang von der RAF ausging, als antifaschistischer Widerstand zu interpretieren ist, wie sie selbst es noch in ihrer Auflösungserklärung aus dem Jahre 1998 behauptete. Dass die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung verfehlt worden sei, schmälere nicht den Wert des Kampfes an sich, denn nur im Widerstand gegen den Kapitalismus könnten befreite Subjekte entstehen, hieß es dort. Mit keiner Silbe wurde dagegen der 37 Menschen gedacht, die RAF und die später mit ihr vereinigte Bewegung 2. Juni ermordet hatten. Das Leid derjenigen, die keine Antwort auf die Frage finden konnten, wer oder was durch den Tod ihres Mannes, Vaters oder Bruders eigentlich hatte befreit werden sollen, blieb tabu.

Aber auch wissenschaftliche Perspektiven für eine angemessene Einschreibung der Opfer – der Toten, Verletzten und Hinterbliebenen – in die Geschichte der RAF und des Terrorismus sind erst zu entwickeln. Vieles deutet darauf hin, dass es sich um eine Geschichte vielfacher, sich überlagernder Instrumentalisierungen handeln könnte. Denn nach dem Missbrauch durch die Terroristen, den Jürgen Pontos Tochter Corinna treffend als „Raubmord“ an der eigenen Geschichte bezeichnet hat, bedienten sich auch Medien und Politik auf ihre Weise der Opfer. Ihre eigenen Interessen mussten und müssen sie dagegen weitgehend selbst vertreten, wobei sich die bereits von der RAF etablierten Hierarchien teilweise reproduzieren. Die prominenten, gezielt angegriffenen Funktionsträger und ihre Familien avancierten üblicherweise zu Opfern erster, die Polizisten, Fahrer und zufällig Betroffene zu Opfern zweiter Klasse. Letzteren wurde nicht nur weniger Aufmerksamkeit und Anteilnahme zuteil, es ging ihren Angehörigen auch materiell meist deutlich schlechter.

„Selten ist so viel über so Wenige geschrieben worden“. Die Fülle der Worte und Bilder kann leicht darüber hinwegtäuschen, wie überschaubar die Bedrohung durch den Linksterrorismus in der Bundesrepublik faktisch gewesen ist. Rund 500 Personen sind wegen Mitgliedschaft in der RAF bestraft worden; die Zahl der verurteilten Unterstützer lag etwas weniger als doppelt so hoch. Im Untergrund aktiv waren sogar nur 60 bis 80 Personen – wohlgemerkt in allen drei Generationen zusammen. 26 von ihnen bekamen lebenslängliche Haftstrafen. Die Zahl ihrer Opfer entspricht einem Bruchteil dessen, was der islamistische Terrorismus der Gegenwart in einer Woche, manchmal in einem einzigen Attentat fordert, wenn auch bislang seltener im Westen als in den muslimischen Ländern selbst.

Fast ausschließlich Muslime hatten auch unter der jahrelang nicht als solcher erkannten Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) zu leiden. Sowohl die rechte wie die islamistische Szene beherbergt in Deutschland heute mehr Gefährder, als die RAF je Mitglieder hatte. Schon damals allerdings stand der rechte Terrorismus im Schatten des linken: Das verheerendste Attentat der deutschen Nachkriegsgeschichte war der rechtsterroristisch motivierte Anschlag auf das Oktoberfest von 1980 mit 13 Toten und 211 Verletzten.

Dennoch ist Linksterrorismus nach wie vor die Folie, vor der in der Bundesrepublik über Terrorismus gesprochen wird. Und tatsächlich kann der gute Kenntnisstand über die Geschichte des Linksterrorismus zumindest der 70er Jahre dazu beitragen, das Phänomen Terrorismus insgesamt besser zu verstehen. Die Hoffnung, daraus unmittelbare Handlungsanleitungen für die Gegenwart ableiten zu können, ist allerdings nicht nur wegen der grundlegend veränderten Rahmenbedingungen eine Illusion. Denn wie gesehen, lässt sich schon die Geschichte der RAF kaum in den Kategorien von Ursache und Wirkung beschreiben.

Die theoretischen Sinnsysteme jedenfalls, die die Terroristen konstruierten, um ihr Handeln vor sich und anderen zu legitimieren, waren nie konsistent. Sie dienten der Selbstermächtigung zur gewaltsamen Aktion, selbst um den Preis des eigenen Lebens. Das machte die RAF auch attraktiv für ihre klammheimlichen Freunde. In der riesigen Lücke zwischen Anspruch und Realität war der Raum für identitäre Projektionen und Imaginationen, für Sehnsüchte nach Bedeutsamkeit und Wiedergeburt. Möglicherweise liegt ja genau darin die Verbindung zwischen den Gewaltkonversionen der Vergangenheit und der Gegenwart.

 

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