Auf den ersten Blick birgt der Titel eine merkwürdige Frage, weil der Beruf einer Soldatin oder eines Soldaten ja genau damit zu tun hat, Bedrohungen entgegenzutreten, und das heißt in vielen Fällen auch: Feinde des Rechtsstaats – ob sie von innen oder von außen kommen – notfalls mit Gewalt zu bekämpfen. Deshalb würde man die einfache Antwort geben: Wer sich auf die so genannte Feindesliebe verpflichtet sieht, kann eben nicht Soldatin oder Soldat werden. Man könnte etwas spezifischer argumentieren und sagen: Das Gebot der Feindesliebe gilt ja nur für Christinnen und Christen. Also könnte es für jene, die sich dem Gebot verpflichtet wissen, verboten sein, als Soldatinnen und Soldaten zu arbeiten, zumindest wenn damit Gewaltausübung verbunden ist.
Im Erwachsenenkatechismus lesen wir: Feindesliebe ist eine „verbindliche Weisung für alle, die nach der Gottesherrschaft streben“. Wenn das Gebot freilich nur für jene gilt, die nach der Gottesherrschaft streben, wären diese Menschen die Dummen, weil sie sich offenbar alles gefallen lassen müssten – wir kommen auf diesen Sachverhalt noch zurück – oder sie wären die Schlauen, sofern es genügend andere gäbe, die das tun, was einem Menschen, der nach der Gottesherrschaft strebt, zu tun verboten ist, nämlich Feinden auch mit Gewalt entgegenzutreten.
Tatsächlich lehnte die Kirche in vorkonstantinischer Zeit den Eintritt eines Christen in die Armee ab, auch im 3. Jahrhundert, als viele Soldaten sich zum Christentum bekehrt hatten. In der nachkonstantinischen Zeit bahnte sich eine Wende an: Die Vertreter einer engen Auslegung des Gebots der Feindesliebe werden als Außenseiter betrachtet und sind in den Kreisen von Häretikern und Sekten zu finden.
Eine weite Auslegung zeigt sich dagegen etwa bei Augustinus. Er bezieht das Gebot auf die innere Haltung, nicht auf die Handlung, die in der Öffentlichkeit vollzogen wird. Er verwendet das Bild eines Vaters, der seinen Sohn bestrafen muss: Es gilt manchmal, auch Handlungen auszuführen, die dem Gebot der Feindesliebe zu widersprechen scheinen, wie das Führen eines Krieges oder das Vollstrecken einer Strafe bis hin zur Todesstrafe, doch sollen solche Handlungen, wenn es sich machen lässt, barmherzig ausgeführt werden.
Augustinus meint damit vermutlich: ohne unnötige Härte oder Grausamkeit. Das ist bis heute ein beachtenswerter Gedanke geblieben.
Trotzdem entsteht der Eindruck, dass man sich um die Verbindlichkeit des Gebots der Feindesliebe durch eine solche Deutung nur herumdrückt. Tatsächlich entwickelte sich katholischerseits mit der Zeit eine Zweistufenethik, die den Gebrauch von Waffen für Kleriker verbot. In der reformatorischen Tradition bildete sich dagegen, an Luther angelehnt, eine Zwei-Reiche-Lehre aus: Entscheidend ist hier, dass der Christ um des Nächsten willen darauf verzichten darf, Jesu Gebot des Gewaltverzichts zu praktizieren. Letztlich lebt ein Christ dann in zwei Reichen, vereinfacht gesagt: in seinem Glauben dem Ethos Jesu verpflichtet, in seinen Werken davon ausgenommen.
Immerhin sehen wir damit, anders als bei Augustinus, das spezifisch neuzeitliche Auseinandertreten von Moral und Recht. Der Schweizer Katechismus sieht den Realismus dieser Haltung, wenn er festhält: „Die Anweisungen in der Bergpredigt sind nicht wörtlich zu nehmen, weil das sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum zu unhaltbaren Zuständen führen würde“. Doch was heißt hier „nicht wörtlich nehmen“? Wir werden sehen, dass die biblischen Weisungen, die zu einem „Ethos der Feindesliebe“ zusammengenommen wurden, gerade wörtlich zu nehmen sind, um ihnen gerecht zu werden und unserer Zeit damit nicht Unrecht zu tun.
I.
Wenden wir uns einem ersten Beispiel zu. Bei Mt 5,41 lesen wir: „Und wenn dich einer zwingen will, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh zwei mit ihm“. Hintergrund dieser Bestimmung ist, dass die römische Besatzungsmacht das Recht hatte, von der einheimischen Bevölkerung Dienstleistungen wie die Bereitstellung von Transportmitteln, Unterkunft und Verpflegung in Anspruch zu nehmen. Der Ratschlag in Mt 5,41 ist eine Provokation des waffenmäßig überlegenen und rechtlich kaum zu belangenden Soldaten. Hier stoßen wir vermutlich auf Missionare, die länger unterwegs sind. Sie sind in diesem Fall nicht von Gewalt bedroht, sondern werden mit militärischer und rechtlicher Überlegenheit konfrontiert.
Der Spruch ist nicht an die überlegene militärische Macht gerichtet, von Gewalt abzulassen, sondern an die unterlegene Partei, sich nicht einschüchtern zu lassen, vielmehr selbstbewusst gewaltlosen Widerstand zu leisten und den Gegner, also den Feind, zu verblüffen. Letztlich wird hier kritisiert, dass es eine überlegene und eine unterlegene Position gibt. Das Ziel ist, die Stärke des Überlegenen zu brechen, nicht, sich in der Rolle des Unterlegenen einzurichten, aktiv zu werden, nicht passiv zu bleiben. Der Ratschlag lautet gerade: Lass dich nicht ausnutzen! Und damit wird das, was wir gewöhnlich mit dem Gebot der Feindesliebe verbinden, genau ins Gegenteil verkehrt. Man könnte natürlich erwidern, dass es dem Ethos der Feindesliebe darum geht, Gewalt zu verhindern. Ein Ratschlag zum Gewaltverzicht kann dieser Spruch freilich nicht sein, weil derjenige, an den der Spruch gerichtet ist, gar keine Gewalt hat, die er freiwillig begrenzen könnte.
Schauen wir uns den Spruch an, der für das Gebot der Feindesliebe sozusagen ikonisch wurde, obwohl auch dort von Feindesliebe nicht die Rede ist: „Ich aber sage euch: Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin“ (Mt 5,39). Auch dieser Spruch rät zu demonstrativer Wehrlosigkeit, und zwar angesichts einer öffentlichen Beleidigung und Demütigung, die durch den Schlag auf die Wange zum Ausdruck kommt.
Wenn wir auch hier Missionare annehmen, deutet der Spruch darauf hin, dass sie mit ihrer Botschaft und ihrem Friedenswunsch nicht immer auf wohlwollendes Echo stoßen. Sollten die Missionare es in dieser Situation wirklich fertigbringen, die andere Wange hinzuhalten, dann wäre nicht daran zu zweifeln, dass es die Friedensboten mit ihrer Botschaft ernst meinen. Im besten Fall wird derjenige, der sich auf diese Weise beleidigend artikuliert hat, beschämt, keinesfalls wird er ein weiteres Mal zuschlagen.
Blicken wir noch auf zwei weitere bekannte Sprüche. Der eine folgt gleich auf den Spruch mit der Wange: „Dem, der dir den Mantel wegnimmt, lass auch das Hemd“ (Lk 6,29). Hier ist an einen Raubüberfall gedacht, eine Situation, die wiederum Missionaren jederzeit drohen konnte. Wenn sich die Räuber an den Mantel machen, sollen sie das Untergewand gleich mit ausziehen, um zu zeigen: mehr ist nicht zu holen, auch keine kostbaren Kleider unter dem Mantel. Vielleicht werden die Täter dadurch verblüfft und lassen vom Opfer ab. Gegenwehr jedenfalls erreicht auch nicht mehr, eher weniger.
Ganz anders verfährt der Spruch: „Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel“ (Mt 5,40). Dieser Spruch ist erkennbar auf dem Hintergrund des biblischen Pfändungsrechts formuliert: Nimmt man von einem Armen den Mantel als Pfand, muss man ihn, so lautet die rechtliche Bestimmung, für die Nacht jeweils wieder zurückgeben, denn es ist die einzige Decke, mit der er seinen Leib im Schlaf bedecken kann. Hier geht es nicht um Gewalt, sondern um Recht. Der Reiche will sich das Letzte, was seinem Schuldner gehört, auf Dauer gerichtlich zuerkennen lassen. Gib ihm auch den Mantel, so lautet der Ratschlag, noch bevor es zum Prozess kommt. Vielleicht lässt der Gläubiger dann von seinem Vorhaben ab, auch wenn er sein Recht durchsetzen könnte.
Die Mahnsprüche von der Wange, vom Mantel und von der Meile raten, so lässt sich einstweilen bilanzieren, zu provokativen Reaktionen in lebensbedrohlichen oder entwürdigenden Situationen. Geraten wird, die jeweilige Situation nicht einfach passiv über sich ergehen zu lassen, sondern aktiv zu werden, mit einer verblüffenden und herausfordernden Reaktion die absichtliche Aktion des Gegners ins Leere laufen zu lassen. Um Liebe geht es bei keinem dieser Sprüche. Im Blick auf den Gegner geht es vielmehr um einen Schock, um Verblüffung. Es handelt sich sozusagen um eine besonders kluge, um eine besonders raffinierte Form von Notwehr. Wenn der Überlegene dadurch zur Vernunft gebracht wird, dann ist dem Unterlegenen geholfen. Feindesliebe ist für diese Sprüche die falsche Bezeichnung, Selbsterhaltung bzw. Selbstrechtfertigung wäre besser.
Tatsächlich gibt es im Lukasevangelium auch die unmittelbare Aufforderung zur Feindesliebe, doch verändert sich hier der Rahmen vollkommen. In Lk 6,35 heißt es: „Ihr aber sollt eure Feinde lieben und sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt. Dann wird euer Lohn groß sein und ihr werdet Söhne des Höchsten sein; denn auch er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.“ Hier ist davon die Rede, den Feinden Gutes zu tun und ihnen zu leihen. Im Klartext: Die Adressaten des Spruchs sind die Reichen und Wohlhabenden in der Gemeinde. Sie werden aufgefordert, gerade denen Gutes zu tun, die sich nicht revanchieren können, weil sie zu arm dafür sind, und auch denen zu leihen, die aller Wahrscheinlichkeit nach ihre Geldschuld nicht werden zurückzahlen können.
Offenbar hat Lukas das schon erwähnte Beispiel vom Raubüberfall übersetzt, wenn er schreibt: „Und von dem, der das Deine wegnimmt, fordere nicht zurück!“ (Lk 6,30). Im Blick ist der Räuber in der Gemeinde, konkret: der Arme, der sich etwas nimmt, weil er in Not ist, etwas, was ihm eigentlich gerechterweise zustünde. Der Reiche soll, wenn er Feindesliebe praktizieren will, keinen Prozess gegen ihn anstrengen. Es gibt also keinen Zweifel: Lukas aktualisiert die Feindesliebe im Sinn eines innergemeindlichen Ausgleichs. Adressaten der Weisung sind in diesem Fall die Reichen, Feinde der Reichen sind die Armen. Feindesliebe realisiert sich darin, dass nichts zurückerwartet wird, auch kein Dank. Der Dank wird als himmlischer Lohn denen versprochen, die nicht zurückfordern, genauso wie der Ehrentitel „Söhne Gottes“.
Bei Matthäus wird das Stichwort „Liebe“ erneut aufgegriffen: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Ihr sollt also vollkommen sein, wie es auch euer himmlischer Vater ist“ (Mt 5,43-48).
Gemeint sind hier Leute, die nur ihre eigenen Brüder grüßen. Die Adressaten werden also nicht von außen bedrängt, sondern verhalten sich abweisend nach innen, indem sie den Gruß verweigern, was zur damaligen Zeit einer Beleidigung entspricht. Man kann an jüdische Glaubensbrüder denken, die sich dem christlichen Weg nicht angeschlossen haben. Kritisiert wird die Haltung derer, die sich als die besseren Gläubigen gerieren und ihren religiösen Stolz zur Schau tragen. Gemeint ist die selbstgefällige Attitüde einer Sondergruppe von Christen, die sich als die besseren Gläubigen gerieren und in der Grußverweigerung ihren Gruppenstolz zur Schau tragen.
An dieser Stelle wird zwar das Wort „lieben“ gebraucht, und es geht tatsächlich um die Liebe zu Feinden. Aber diese Liebe ist, wenn man so will, eine spirituelle Liebe, denn sie konkretisiert sich im Gebet. Vielleicht ist an das fürbittende Gebet im Gottesdienst der Gemeinde gedacht. Und wer sind die Feinde? Ganz einfach das ablehnende Publikum. Für die Adressaten mag damit eine lebensentscheidende, existenzielle Situation verbunden sein. Darin ist diese Passage den Mahnworten von der Wange, vom Mantel und von der Meile an die Seite zu stellen. Allerdings ist die drohende Gefahr ungleich geringer. Es geht nicht um Situationen, in denen im schlimmsten Fall tatsächlich das Leben auf dem Spiel steht, sondern lediglich um die Verarbeitung von Misserfolg.
Feinde sind, so kann man zusammenfassen, die einseitig Schlechtergestellten: die Armen, denen, freilich auf Kosten der Reichen, mehr Wohlstand zustünde, als sie im Augenblick besitzen; Feinde mögen, je nach Deutung, auch die Bessergestellten sein, hartherzige Gläubiger, fühllose Soldaten – oder einfach die Adressaten einer Botschaft, die davon nichts hören wollen. Es wäre jedenfalls ein Missverständnis, im so genannten „Gebot der Feindesliebe“ (das, wie wir sahen, in situationsspezifische Klugheitsratschläge aufgefächert wird) die Aufforderung lesen zu wollen, sich systematisch und dauerhaft ausbeuten zu lassen. Ganz im Gegenteil werden alle, die andere bedrücken, ermahnt, zum Gleichgewicht von Geben und Nehmen zurückzukehren, und diejenigen, die ausgebeutet werden sollen, ermuntert, entwaffnenden Widerstand zu leisten, weil Gewalt entweder aussichtslos wäre oder zu noch schlechteren Folgen führen würde. Es geht letztlich darum, Reziprozitäten zu wahren oder da, wo sie aus dem Gleichgewicht gekommen sind, wieder zu etablieren.
II.
Wie können diese Einsichten modern re-formuliert werden? Nach einer weit verbreiteten Auffassung – auch vieler ethischer Theorien – hat jeder Mensch eine Reihe von Überzeugungen und Wünschen, die Ursachen seines Handelns sind. Eine andere Erklärung orientiert sich an Eigenschaften einer Person, die für eine bestimmte Handlung verantwortlich gemacht werden. Entscheidend ist, dass jede dieser Erklärungen die Ursache für das Verhalten in der Person sucht: Persönlichkeitstheorien konzentrieren sich auf Eigenschaften, kognitive Theorien auf Überzeugungen und Wünsche. Die Tendenz, menschliches Handeln ohne Berücksichtigung der Umwelt zu erklären, bezeichnet man als „fundamentalen Attributionsfehler“. Anders formuliert: Die Annahme von festen Eigenschaften, Überzeugungen oder Wünschen vernachlässigt die adaptive Natur des Menschen. Das heißt wiederum: Wer das Verhalten eines Akteurs verstehen will, muss herausfinden, was nach dessen Meinung die übrigen Akteure vorhaben und umgekehrt.
Wenn eine allseitige Kooperationsbereitschaft herrscht, kann das Ergebnis eine lange, harmonische Zusammenarbeit sein; wenn eine allseitige Defektionsbereitschaft herrscht, ist das Gegenteil der Fall. Das Verhalten von Akteuren ist nach diesem Verständnis nicht das Spiegelbild einer Eigenschaft, einer Überzeugung oder eines Wunsches, sondern eine adaptive Reaktion auf die Umwelt. Steht einseitiger Kooperationsbereitschaft einseitige Defektionsbereitschaft gegenüber, ist wahrscheinlich, dass Kooperation ab- und Defektion zunimmt. Deshalb stellt sich Reziprozität in anonymen Kontexten, die die moderne Gesellschaft charakterisieren, nicht automatisch ein.
Es mag zwar Verzögerung oder Stillstand des Sinnes geben, dass die Bereitschaft zur Kooperation nur allmählich nachlässt oder trotz massiver Erosion auf einem niedrigen Niveau verharrt. Dennoch dürfte es bei einseitiger Bereitschaft zu Kooperation bzw. Defektion eher eine Tendenz zum Ab- anstatt zum Aufbau von Kooperation, zu negativer statt zu positiver Reziprozität, geben, was für die Etablierung von Strukturen spricht, die geeignet sind, Defektion zu überwinden und Kooperation zu fördern. Innerhalb räumlich und zeitlich überschaubarer Interaktionen ist es wahrscheinlich, dass sich stabile positiv-reziproke Verhältnisse ausbilden. Innerhalb räumlich und zeitlich unüberschaubarer Interaktionen ist es hingegen wahrscheinlich, dass sich stabile negativ-reziproke Verhältnisse ausbilden. Vermutlich sind zudem asymmetrische Verhältnisse allgemein instabiler, irritierbarer und gefährdeter als symmetrische, also reziproke Verhältnisse.
Greifen wir zur Klärung der adaptiven Logik menschlichen Handelns auf eine spieltheoretische Analyse zurück. Wer das Verhalten von Akteur A verstehen will, muss herausfinden, was Akteur B tut und umgekehrt. Betrachten wir zunächst eine Regel, der man den Namen Tit for Tat, also „Wie du mir, so ich dir“ gegeben hat: „Sei zuerst freundlich, beschränke dein Gedächtnis auf die Größe eins, und ahme das zuletzt gezeigte Verhalten deines Partners nach!“ Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass nur das zuletzt gezeigte Verhalten (freundlich oder unfreundlich) erinnert und nachgeahmt wird. Nehmen wir an, Akteur A, der diese Faustregel unbewusst anwendet, löst zum ersten Mal eine Aufgabe gemeinsam mit Akteur B. Beide sind bei dieser ersten Gelegenheit freundlich zueinander. Beim nächsten Mal ahmt B das kooperative Verhalten von A nach, A ahmt das von B nach und so fort. Das Ergebnis kann eine lange, harmonische Zusammenarbeit sein. Wenn A jedoch einen Interaktionspartner hat, der grundsätzlich nach der Maxime handelt: „Sei stets unfreundlich!“, wird er sich umgekehrt genauso verhalten. Klar wird dabei noch einmal: Verhalten ist nicht das Spiegelbild einer Eigenschaft oder einer Einstellung, sondern eine adaptive Reaktion auf die Umwelt.
Variieren wir dieses Beispiel und nehmen an, A und B haben sich intuitiv auf Tit for Tat verlassen. Sie waren verlässliche Partner, doch A hat einmal etwas Feindseliges gesagt, und seither nehmen die Auseinandersetzungen kein Ende. Wie können die beiden dieses Handlungsmuster überwinden? Sie könnten, und das ist eine Erweiterung der zitierten Regel, die versöhnlichere Variante, nämlich Tit for two Tats, anwenden. Sie lautet: „Sei zuerst freundlich, beschränke dein Gedächtnis auf Größe zwei, und sei nur unfreundlich, wenn dein Partner es zweimal war; ansonsten sei freundlich!“
Hier bekommt A, wenn er B ungewollt beleidigt hat, eine zweite Chance. Nur wenn es zweimal hintereinander passiert, revanchiert B sich. Tit for two Tats ist das bessere Prinzip bei Interaktionspartnern, die sich etwas unberechenbar verhalten, ohne bösartig zu sein. Allerdings kann diese Nachsicht ausgenutzt werden. Stellen wir uns vor, A neige zu Jähzorn und beleidige B, bereue das jedoch am folgenden Tag tief und zeige sich dann wieder freundlich und rücksichtsvoll. Wenn beide das Prinzip Tit for two Tats befolgen, wird B gegenüber A freundlich bleiben. Ein gerissener Interaktionspartner könnte dieses Spiel allerdings – bewusst oder unbewusst – für lange Zeit fortsetzen und die Bereitschaft zu versöhnlichem Verhalten ausbeuten. Stiege B auf Tit for Tat um, könnte A ihn nicht mehr ausnutzen.
Der allmähliche Umschlag von Kooperation auf Defektion könnte somit durch eine geduldigere Strategie eines Akteurs oder eines Teils der Akteure aufgehalten werden: Man gesteht dem defektierenden Interaktionspartner eine weitere Gelegenheit zur Kooperation zu, um zu einer konstruktiven Beziehung zurückzufinden. Diese Verhältnisse begegneten uns in der Deutung des so genannten „Gebots der Feindesliebe“, also in den Empfehlungen demonstrativer Wehrlosigkeit, allerdings in einmaligen Situationen und asymmetrischen Beziehungen, in denen ein überraschender oder überwältigender Effekt erzielt werden kann, während die moderne Deutung auf wiederholte Situationen und symmetrische Beziehungen abzielt: Hier ist es, sobald die Nachsichtigkeit eines Akteurs ausgenutzt werden kann, rational und auch ethisch legitim, Defektion mit Defektion zu beantworten, auch auf die Gefahr hin, dass Kooperation unmöglich wird und sich somit alle Interaktionspartner schlechter stellen.
III.
Es gibt keine Garantie dafür, dass Feindesliebe funktioniert, der Täter sich also dauerhaft ändert. Die richtige Strategie ist somit kontextabhängig, das heißt relativ zu Eigenschaften oder Einstellungen der Interaktionspartner. Es gibt keine Empfehlung, die absolut gelten kann. Im von uns so genannten Gebot der Feindesliebe eine kontextlos-kategorische Forderung zu sehen, erweist sich damit als unbiblisch. Eine Feindesliebe, die nicht auf eine Gegengabe aus ist und sich ausbeuten lässt, könnte höchstens als freiwilliger Akt der Supererogation und somit als rein altruistisch gelten. Allerdings ist Kooperation dem reinen Altruismus überlegen, weil dadurch mehr Akteure bessergestellt werden. Wenn ethisch nicht gefordert werden kann, sich systematisch und dauerhaft ausbeuten zu lassen, muss unser Gefühl für Fairness oder Reziprozität durch die Vernunft präzisiert werden, wollen wir nicht bei ruinösen sozialen Beziehungen landen.
Es geht einer Ethik dieser Form um die Struktur menschlicher Interaktionen. Interaktionen funktionieren häufig unbewusst, weil wir ein Gefühl für das richtige Verhalten entwickelt haben. Wo sie nicht funktionieren, muss die Vernunft zu einer Situationsanalyse kommen. Deshalb kann die biblische Weisung, einen zweiten – und keinen weiteren – Versuch, Feindschaft zu überwinden, in Erwägung zu ziehen, modern in offenkundig bösartigen oder anonymen Kontexten nicht individualethisch, sondern nur sozialethisch, nämlich als Heuristik zur Überwindung Feindschaft begünstigender und zur Schaffung friedensstiftender Strukturen, die als Restriktionen des Handelns wirken können, gelesen werden.
Auffällig war ja, dass die Situation eines Raubüberfalls oder die Situation einer Pfändung, die beide die Existenz eines Menschen bedrohen, einmal illegal und einmal legal, einmalige Situationen darstellen, ebenso die Aufforderung, die Militärmacht logistisch zu unterstützen. Sie sind jedenfalls, so eigenartig es klingt, durchschaubar und deshalb in ihrer moralischen Qualität berechenbar, weshalb nicht zu befürchten ist, dass die Gutmütigkeit eines Menschen durch versteckte Bösartigkeit ausgenützt wird. Der gewaltlose Widerstand kann auch nur ein einziges Mal wirken: Es gibt nur eine zweite Wange; zum Hemd kommt der Mantel; von einer dritten Meile ist nicht die Rede. Es wird ein Widerstand empfohlen, der die Situation entschärfen hilft, nicht eskalieren lässt, den Gegner verblüffen, nicht zusätzlich reizen oder sogar zum Einlenken bringen soll.
Modern muss das, was wir als moralische Heuristik verstehen, durch die Restriktionen des Rechts umgesetzt werden. Diese Heuristik würde vorsehen, alles daranzusetzen, Defektion hin zu Kooperation zu überwinden, weil davon alle Seiten profitieren. Zuletzt sollen daraus einige Schlussfolgerungen gezogen werden.
(1) Was die Restriktionen des Rechts vorsehen, ist Recht. Solange also Soldatinnen und Soldaten Feinde nach den Regeln des Rechts bekämpfen, können sie nicht im Namen der Moral beschuldigt werden. Auch diejenigen, die diesen Dienst nicht verrichten wollen, profitieren davon. Moral darf im Rechtssystem nicht Akteure kritisieren, die die Regeln des Rechts achten, sondern höchstens die Regeln des Rechts selbst.
(2) Wenn Zweifel aufkommen, dass das, was als Recht gilt, nach Maßgabe der Moral auch Recht ist, gilt für die Ebene der Regeletablierung, dass Veränderungen des Rechts innerhalb demokratischer Verfahren angestoßen werden können. Für die Ebene der Regelbefolgung gilt nach wie vor, dass, solange Regeln des Rechts in Geltung sind, ihre Befolgung nicht moralisiert werden darf, das heißt, denjenigen, die rechtmäßig handeln, darf im Namen der Moral kein Vorwurf gemacht werden. Solange jedoch umstritten ist, ob eine Praxis tatsächlich Recht und nicht vielmehr Unrecht ist (und dies kann in einem Rechtsstaat notorisch sein), sollte niemand zu einer bestimmten Handlung, also etwa zum Kriegsdienst gezwungen werden. Allerdings darf die Gesellschaft unter Umständen Kompensationen fordern.
(3) Solange eine Person in der Ausübung einer Praxis an das Recht gebunden ist, muss sie diese Regeln auch befolgen, sie kann sich also nicht individuell und willkürlich davon dispensieren, etwa dadurch, dass sie Befehle verweigert. Vielmehr muss das Recht selbst solche Ausnahmen vorsehen, und ein kluges Rechtssystem wird diese differenzierten Möglichkeiten auch gewähren. Dabei kann der Einspruch gegen eine bestimmte Praxis prinzipiell zur Reform geltender
Regeln führen.