Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche

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Wider Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Kirche

 

Immer schon waren die Sprache der Moral und die Emotionen, die sie zu wecken vermag, ein Mittel der Politik. Gegenwärtig greift die Moralisierung und Emotionalisierung in Politik und Gesellschaft jedoch in einem für die moderne Demokratie bedenklichen Ausmaß um sich. Der moralische Imperativ hat Hochkonjunktur, auch auf dem Büchermarkt. „Empört euch!“, „Entrüstet euch!“, „Entängstigt euch!“: Solche Buchtitel finden reißenden Absatz. Es lebe der moralische Imperativ! Sich aus hochmoralischen Gründen empören oder entrüsten zu dürfen, verschafft ein gutes Gefühl, enthält doch der moralische Imperativ die frohe Botschaft: Wir sind die Guten! Wer dagegen wie Max Weber für die Unterscheidung – nicht Trennung! – von Politik und Moral plädiert und Politik als nüchternes Handwerk, als beharrliches Bohren dicker Bretter versteht, hat in der moralisch aufgeladenen Gegenwartsstimmung einen schweren Stand.

Auch in den Kirchen lässt sich das Phänomen der Moralisierung beobachten. Verbreitet ist die These, das Christentum sei in der Moderne in sein ethisches Zeitalter eingetreten. Die Umformung dogmatischer Gehalte in eine Ethikotheologie begünstigt die Gleichsetzung von Religion und Moral beziehungsweise die Reduktion des neutestamentlichen Evangeliums auf moralische Handlungsanweisungen, die in erhöhtem Ton vorgetragen werden.

Wie es die Aufgabe der Ethik ist, vor zuviel Moral und ihren Ambivalenzen zu warnen, so ist die Aufgabe der Theologie, die Unterscheidung zwischen Religion und Moral in Gesellschaft, Politik und Kirche bewusst zu machen. In der Sprache der reformatorischen Tradition: die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Sie ist das Herzstück theologischer Vernunft und fördert die politische Vernunft. Ohne theologische und politische Vernunft ineinanderfallen zu lassen, sind doch beide in ein konstruktives Verhältnis zu setzen, um der Tyrannei des moralischen Imperativs in Politik und Kirche Einhalt zu gebieten.

 

Politische Vernunft

 

Unter politischer Vernunft wollen wir den Gebrauch der Vernunft im Bereich des Politischen verstehen. Der Begriff unterstellt, dass es nicht nur im Bereich der Wissenschaft, sondern auch in der Sphäre des Politischen Erkenntnis von Wahrheit gibt, wie man auch im Bereich des Moralischen von Wahrheitsfähigkeit sprechen muss. Beides ist allerdings höchst umstritten. Wer jedoch der Politik die Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis abspricht, stellt im Grunde das Modell der modernen Demokratie in Abrede, spielt doch in der Demokratie mehr als in jeder anderen Staatsform „der Austausch von Argumenten, der Rekurs auf gute Gründe“ (Julian Nida-Rümelin) eine tragende Rolle.

Eine Hermeneutik des Verdachts unterstellt, dass hinter vorgetragenen Argumenten grundsätzlich andere politische oder ökonomische Interessen stecken, die durch politische Rhetorik verschleiert werden sollen. Die westliche Menschenrechtspolitik wird dann zum Beispiel als Fortsetzung des Imperialismus mit anderen Mitteln verdächtigt. „Früher lautete die Parole: Sie lesen die Bibel und meinen Kattun! Verschärft klingt das heute so: Sie sprechen von Menschenrechten und meinen das Öl. Aber“, so der Philosoph Rüdiger Bubner, „die ideologiekritische Enthüllung hinter angeblich allgemeinen Prinzipien reicht gar nicht mehr aus. Die Sicherung der verbleibenden Ölreserven der Welt liegt ja im Interesse der ganzen Welt und nicht allein der Länder der westlichen Hemisphäre. Die äußerste Interpretation, die den blutigen Terrorismus auslöst, würde lauten: Sie predigen die Menschenrechte und vernichten unsere eigenständige Kultur!“

Nun ist die ideologiekritische Funktion einer Hermeneutik des Verdachts für den Bereich des Politischen, wie für andere Lebensbereiche auch, keineswegs gering zu schätzen. Auch der investigative Journalismus als Teil der vierten Gewalt – der Medien – in der modernen Demokratie hat eine unverzichtbare aufklärerische Aufgabe. In der Tat sind Interessen und ihre Verschleierung eine zentrale Kategorie der politischen Sphäre. Durch Interessenlagen werden nicht nur Irrtümer gefördert, bisweilen freilich auch aufgedeckt. Aus bestimmten Interessenlagen heraus wird auch eine gezielte Politik der Desinformation getrieben. Bekanntlich stirbt die Wahrheit im Krieg zuerst. „Aber“, so wendet Nida-Rümelin ein: „es bleiben Argumente. Hinter der Oberflächengrammatik des Arguments verbirgt sich nicht etwas anderes, das Argument ist nicht in Analogie zum Emotivismus in der Ethik bloßer Ausdruck einer Präferenz, eines Wunsches, eines Interesses, einer politischen Bindung etc. Es bleibt ein Argument, wie immer es motiviert sein mag.“

Demokratie lebt von der Zuversicht, dass es einen öffentlichen Vernunftgebrauch gibt, der den Deformationen der demokratischen Herrschaftsform nicht hilflos ausgeliefert ist, sondern dass sich Aufklärung und Wahrheit am Ende doch immer wieder Bahn brechen. Das ist, wenn man so will, eine Hoffnung und eine Frage der Zuversicht, nicht eine Angelegenheit von unumstößlichen Beweisen. Nida-Rümelin spricht von „epistemischem Optimismus“. Man kann auch sagen, es ist eine Glaubenssache; daher mag man an dieser Stelle eine Verbindung zur Vernunft des Glaubens sehen, von der noch eigens zu reden sein wird.

Politische Vernunft und Emotionen schließen sich nicht aus. Eine Politik der Gefühle sollte nicht nur die Emotionen als das Andere der Vernunft sehen, sondern die Emotionalität der Vernunft – platonisch gesprochen: den Vernunfteros – in Rechnung stellen und darauf die Hoffnung setzen, dass die Affektion durch Argumente eine ebenso starke Kraft entwickeln kann wie anders gelagerte Gefühle und Ressentiments, die zweifellos eine politische Macht entwickeln können.

Politische Vernunft ist nun nicht das Andere der politischen Macht, wie überhaupt die Vernunft nicht das Andere der Macht im Allgemeinen ist. Sie ist auch nicht als solche zu denunzieren, etwa als sündige Gestalt der Entfremdung. Es stimmt zwar, dass sich politische oder sonstige Macht mit Hilfe der Vernunft noch schrecklicher als ohne sie missbrauchen lässt, jedoch gehört es zum aufgeklärten Vernunftgebrauch, die Vernunft nicht mit der Wirklichkeit gleichzusetzen, zu die zwar ihren Teil beiträgt, ohne für sie aber als Ganzes verantwortlich zu sein. Wie der Philosoph Volker Gerhardt zutreffend schreibt, hilft gegen den Missbrauch von Macht und ihre Neigung totalitär zu werden letzten Endes nicht die Denunziation jeglicher Macht, sondern „nur eine andere Macht. Auch deshalb bedürfen wir einer Vernunft, die sich als Macht gegen konkurrierende Mächte behauptet.“ Dazu bietet die Demokratie immer noch die besten Voraussetzungen.

Zum Schutz gegen den Machtmissbrauch und den Missbrauch der Vernunft im Bereich des Politischen ist das Prinzip der Gewaltenteilung entwickelt worden. Neben der klassischen Unterscheidung von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion ist die Rolle der außerparlamentarischen Öffentlichkeit und der Zivilgesellschaft hervorzuheben, aber auch die Bedeutung der Unterscheidung zwischen Regierung und Opposition. Eine starke Opposition ist ein wirksames Instrument, um die politische Vernunft zu fördern, weil auf diese Weise der Tatsache Rechnung getragen wird, dass die Wahrheit und die Klugheit keineswegs immer auf der Seite der parlamentarischen Mehrheit stehen, auch wenn diese demokratisch durch Wahlen legitimiert ist. Die Oppositionsrolle kann freilich zu einer Position der reinen Obstruktionspolitik und der Destruktion verkommen. Es gibt politische Kräfte, die solche Politik nicht etwa deshalb betreiben, weil sie auf diese Weise an die Macht gelangen wollen, sondern die sich im Gegenteil parasitär in der bequemen Oppositionsrolle einrichten, in der man sein politisches und finanzielles Auskommen findet, ohne selbst Verantwortung für das Gemeinwesen tragen zu müssen.

Der Vernunftgebrauch in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen zeigt seine Stärke in der Anerkennung des Pluralismus, im toleranten Umgang mit divergierenden politischen Ansichten und in der Bereitschaft zum Kompromiss. Damit wird freilich einer postmodernen Depotenzierung der Vernunft und des vernünftigen Arguments das Wort geredet. Kennzeichen politischer Vernunft ist nicht die Behauptung unumstößlicher Wahrheiten, sondern die Bereitschaft zu gemeinsamer Wahrheitssuche, an der alle Subjekte zu beteiligen sind. Die Skepsis gegenüber den eigenen Überzeugungen und der Respekt gegenüber gegenteiligen Argumenten gehört nicht nur zum universalistischen Ideal moderner Wissenschaft, sondern auch zum demokratischen Verständnis politischer Vernunft. Der Unterschied zwischen Wissenschaft und Politik besteht allerdings darin, dass in den wissenschaftlichen Diskurs nur diejenigen einbezogen werden, die über eine entsprechende Ausbildung, Kenntnis wissenschaftlicher Methoden und Fachwissen verfügen, wohingegen in den politischen Diskurs prinzipiell alle mündigen Bürgerinnen und Bürger eingeschlossen sind. Wissenschaftliche Expertise in Gestalt von Politikberatung kann wiederum nur soweit politische Relevanz erlangen, als sie sich auf den öffentlichen Vernunftgebrauch einlässt, ohne sich willfährig politisch instrumentalisieren zu lassen.

Um ein Beispiel zu wählen: Die bioethische Diskussion in einer nationalen Ethikkommission bewegt sich an der Schnittstelle zwischen wissenschaftlichen Diskursen im universitären Bereich und der politischen Debatte im Parlament. Über ethische Fragen, so lautet ein häufig anzutreffendes Argument, kann man nicht abstimmen. Doch besteht die Herausforderung der wissenschaftlichen Politikberatung darin, dass eine politische Frage für eine gewisse Zeit aus der politischen Kommunikation und ihrer Semantik in die wissenschaftlich-ethische Diskurskultur mit ihrer normativen Unterscheidung zwischen wahr und falsch transformiert wird, um später wieder in den politischen Diskurs zurückgeführt und letztlich zu einer abstimmungsfähigen Frage umgewandelt zu werden, nämlich der Frage einer biopolitischen Gesetzgebung, über die dann im Code von Mehrheit und Minderheit verhandelt und entschieden wird. Das aber geht zumeist nicht ohne politische Kompromisse ab.

Kompromisse einzugehen, entspricht der Klugheitsvorschrift der Goldenen Regel. Diese findet sich in der biblischen Überlieferung ebenso wie in anderen religiösen und kulturellen Traditionen. In ihrer positiven Formulierung lautet sie: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Matthäus 7,12). Sie kann auch negativ formuliert werden: „Was du nicht willst, was man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“

An dieser Stelle möchte ich die theologische Vernunft ins Spiel bringen, von der anschließend noch eigens zu reden sein wird. Theologisch ist der Kompromiss keineswegs durch eine bloße Klugheitsregel legitimiert. Dietrich Bonhoeffer hat den Kompromiss aus theologischen Gründen sogar gänzlich verworfen. Aber man wird wohl zwischen Kompromisssucht bzw. Opportunismus und einer Kompromissbereitschaft unterscheiden müssen, die nicht als Gebot der Klugheit, sondern als Konsequenz der biblischen Rechtfertigungslehre begründet ist. Theologisch gesprochen resultiert nämlich die grundsätzliche Bereitschaft zum Kompromiss nicht nur aus der Einsicht in unsere Endlichkeit und die Begrenztheit unseres Erkenntnisvermögens, sondern auch und vor allem aus der Erkenntnis unserer Sündhaftigkeit wie unseres durch Gott dennoch gerechtfertigten Daseins. Die Lehre von der Rechtfertigung des Sünders besagt also, dass wir einander im ethischen Konflikt gelten lassen dürfen, auch wenn ein Konsens nicht zu erzielen ist. Sie impliziert die Absage an jeden ethischen Rigorismus, der letztlich wiederum nur eine Gestalt sündiger Selbstbehauptung wäre. Im Gleichnis des matthäischen Christus vom Unkraut unter dem Weizen (Matthäus 13,24ff) und in seiner Aufforderung, den anderen nicht zu verurteilen (Matthäus 7,1–5; Lukas 6,37–42), ihm vielmehr siebenundsiebzigmal zu vergeben (Matthäus 18,22; vgl. Matthäus 18,23–35), wird der theologische Sinn des Kompromisses anschaulich.

 

Theologische Vernunft

 

Wenn nun im Folgenden von theologischer Vernunft die Rede ist, deren Verhältnis zur politischen Vernunft geklärt werden soll, ist zunächst das Verhältnis von Vernunft und Glaube in den Blick zu nehmen. Viele Menschen sehen zwischen beiden einen Konflikt, wonach Glaube ein Ausdruck von Unvernunft und die Berufung auf die Vernunft ein Ausdruck von Unglaube ist. Der Konflikt zwischen Glaube und Unglaube kann auch als Gegensatz von Glauben und Wissen formuliert werden. Atheistische Polemik formuliert griffig: „Wer nichts weiß, muss alles glauben.“

Aber es handelt sich bei diesen Gegenüberstellungen doch nur um Scheinkonflikte, die daher rühren, dass ein positivistisches Glaubensverständnis – Glauben heißt, übernatürliche Tatsachen oder unbewiesene Behauptungen für wahr zu halten – mit einem positivistischen Vernunftbegriff korrespondiert. Tatsächlich hat der Glaube, verstanden als Gottvertrauen und unbedingte Gewissheit eines letzten, in Gott gründenden Sinns der eigenen Existenz wie der Welt im Ganzen, eine eigene Rationalität. Wohl ist der Gedanke der Menschwerdung Gottes, wie ihn das Christentum vertritt, ein gedankliches Paradox. Paradox ist auch der Glaube an die Heilsbedeutung des Kreuzestodes Jesu von Nazareth. Aber ein Paradox ist nicht mit Unvernunft gleichzusetzen, sondern hat seine eigene Logik. Es stellt gängige Annahmen über Gott und die Welt in Frage, ohne darum die Vernunft außer Kraft zu setzen.

Nicht der Glaube, sondern die Unvernunft bedroht beständig die Vernunft, wie auch der Unglaube und nicht etwa die Vernunft den Glauben bedroht. Das Beieinander von Glaube und Vernunft gerät dadurch in Gefahr, dass die Vernunft in den das Gewissen des Menschen betreffenden Glauben hineinredet und ihn dadurch nicht selten in Verwirrung stürzt. Theologisch gesprochen ist es die Macht der Sünde, die das Verhältnis von Vernunft und Glaube verwirrt, indem die „Vernunft als die höchste Möglichkeit der Selbstbetätigung des Menschen“ sich dem Glauben widersetzt, „der das Sündersein des Menschen anerkennt und sein schlechthinniges Abhängigsein von der Gnade bejaht“ (Gerhard Ebeling).

Dem christlichen Gedanken der Menschwerdung Gottes – genauer gesagt des göttlichen Logos (vgl. Johannes 1,14) – korrespondiert in anthropologischer Hinsicht der Gedanke der inkarnierten oder leiblichen Vernunft, der in der Phänomenologie des französischen Philosophen Maurice Merleau-Ponty eine tragende Rolle spielt. Die Inkarnation Gottes, der Fleisch und Blut annimmt, setzt sich fort in der Kommunikation des Evangeliums vom menschgewordenen Gott.

Leib und Leben des Menschen sind nun auch von Gefühlen, Emotionen und Leidenschaften bestimmt. Sie sind unserem Dasein derart eingeschrieben, dass der evangelische Theologe Ingolf U. Dalferth sagen kann: „Wir haben nicht nur Gefühle, sondern wir sind, wie wir fühlen.“ Auch der Glaube ist nicht ohne Gefühle denkbar. Freilich lässt sich sein Vorhandensein nicht am Auftreten bestimmter Gefühle oder Emotionen festmachen. „Nicht die Leidenschaften sind christlich oder nicht christlich, sondern der Umgang mit ihnen“ (Dalferth). Dieser ist aber eine Frage des Vernunftgebrauchs. Die Vernunft des Glaubens ist eine vom Geist der Liebe geleitete Vernunft. Sie ist somit eine spezifische Form der engagierten Vernunft, die Leidenschaft und Empathie mit Nüchternheit und Klarsicht verbindet.

Theologische Vernunft ist vom Glauben in Gebrauch genommene Vernunft, die zum kritischen Umgang auch mit Gefühlen und Emotionen anleitet. Ihre Logik ist die des Paradoxes von Inkarnation, Kreuz und Auferstehung. Sie besteht in der fundamentalen Unterscheidung von Gott und Mensch wie ihrem gleichzeitigen Zusammensein. Sie bedenkt die radikale Transzendenz Gottes am Ort seiner Immanenz. Das geschieht in Form einer Reihe von Fundamentalunterscheidungen, welche der Glaube als gedanklichen Nachvollzug von Unterscheidungen versteht, die Gott selbst vollzieht. Neben der Unterscheidung von Gott und Mensch ist dies zunächst diejenige zwischen Glaube und Unglaube. Martin Luther und die Reformation haben sodann die Unterscheidung zwischen der tätigen und der empfangenden Seite des Glaubens herausgearbeitet – in der Sprache des 16. Jahrhunderts die Unterscheidung zwischen Glaube und Werken. Der glaubende und durch seinen Glauben gerechtfertigte Sünder ist aber nach Luther Gerechtfertigter und Sünder zugleich. Die Kunst der Unterscheidung ist ferner auf das Wort Gottes anzuwenden, nämlich als Unterscheidung zwischen forderndem und richtendem Gesetz und freisprechendem Evangelium. Wer beides gut zu unterscheiden weiß, der ist nach Luther ein rechter Theologe.

Eine weitere Fundamentalunterscheidung Luthers ist diejenige zwischen den beiden Regierweisen („Regimenten“) Gottes, nämlich zwischen dem Bereich, in dem Gott allein durch das Wort regiert („Reich Gottes zur Rechten“) – gemeint ist die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden –, und dem weltlichen Bereich, in dem Gott die staatliche Herrschaft und Gewaltausübung angeordnet hat („Reich Gottes zur Linken“). Man nennt dies die Zweireichelehre oder genauer Zwei-Regimenten-Lehre. Ihre Rekonstruktion unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen und ihre Gegenwartsbedeutung werden noch gesondert zur Sprache kommen. An dieser Stelle sei zunächst festgehalten, dass die Lehre von den beiden Regierweisen nicht nur für die Ethik des Politischen, sondern für die theologische Vernunft im Ganzen relevant ist. Sie ist als Anleitung zum rechten Gebrauch der Vernunft zu lesen, aber auch zu ihrem Gebrauch für die gedankliche Rechenschaft und Entfaltung des christlichen Glaubens.

Die Zwei-Regimenten-Lehre leitet außerdem zur Unterscheidung unterschiedlicher Begriffe des Guten an. Auch außerhalb der Theologie sprechen wir vom Guten auf unterschiedliche Weise. Ganz allgemein ist unter dem Guten das Vorzugswürdige zu verstehen, wobei die Maßstäbe für das, was gegenüber anderem als vorzugswürdig erscheint, variieren. Wir unterscheiden das technisch Gute und Zweckmäßige vom Guten im Sinne des Angenehmen. Schließlich gibt es das sittlich Gute. Theologisch ist aber nochmals zwischen dem innerweltlich Guten und dem vollendet Guten im Reich Gottes zu unterscheiden, oder – um mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen – zwischen dem Guten im Bereich des Vorletzten und dem Guten im Bereich des Letzten. Das letztgültig Gute unterscheidet sich vom vorläufig Guten darin, dass das ultimative Gute vom Menschen niemals hervorzubringen, sondern allein Gottes Möglichkeit ist.

Diesseits des Sündenfalls, d.h. diesseits von Gut und Böse, ist nicht so sehr mit der Evidenz als vielmehr mit der Verborgenheit des Guten zu rechnen, welche die ethische Entscheidung im Einzelfall schwermacht. Das Böse kann sich unter der Maske des vermeintlich Guten verbergen, und das gut Gemeinte entpuppt sich nicht selten als das Gegenteil des Guten. Darum kritisiert Bonhoeffer die „Abstraktion des isolierten einzelnen Menschen, der sich nach einem ihm zu Verfügung stehenden absoluten Maßstab unaufhörlich und ausschließlich zwischen einem klar erkannten Guten und einem klar erkannten Bösen zu entscheiden hat“. Jede konkrete ethische Entscheidung ist für Bonhoeffer ein Glaubenswagnis. Sie „fällt nicht mehr zwischen dem klar erkannten Guten und dem klar erkannten Bösen, sondern sie wird im Glauben gewagt angesichts der Verhüllung des Guten und des Bösen in der konkreten geschichtlichen Situation“.

Die konkrete geschichtliche Situation war für Bonhoeffer durch den Kirchenkampf im NS-Staat und seine eigene Beteiligung am Widerstand gegen Hitler geprägt. Bonhoeffer charakterisiert die nationalsozialistische Ideologie und Gewaltherrschaft als die „große Maskerade des Bösen“, die „alle ethischen Begriffe durcheinandergewirbelt“ hat. „Daß das Böse in der Gestalt des Lichts, der Wohltat, des geschichtlich Notwendigen, des sozial Gerechten erscheint, ist für den aus unserer tradierten ethischen Begriffswelt Kommenden schlechthin verwirrend; für den Christen, der aus der Bibel lebt, ist es gerade die Bestätigung der abgründigen Bosheit des Bösen.“

Verantwortungsethisch begründetes Handeln versucht der konkreten geschichtlichen Situation gerecht zu werden. Es liegt, wie Bonhoeffer schreibt, nicht von vornherein und ein für allemal fest, sondern es wird in der gegebenen Situation geboren.“ Das aber bedeutet: „Es muß beobachtet, abgewogen, gewertet werden, alles in der gefährlichen Freiheit des eigenen Selbst. Es muß durchaus in den Bereich der Relativitäten eingetreten werden, in das Zwielicht, das die geschichtliche Situation über Gut und Böse breitet. Das Bessere dem weniger Guten vorzuziehen, weil das ‚absolut Gute‘ gerade das Böse um so mehr hervorrufen kann, ist die oft notwendige Selbstbescheidung des verantwortlich Handelnden.“

Während eine allgemeine Ethik fragt, worin das Tun des Guten besteht, gibt die theologische Ethik eine spezifische Antwort auf die Frage, warum wir faktisch oftmals nicht tun, was wir als richtig und gut erkennen. Ihre Antwort lautet hierauf einerseits, dass der Mensch Sünder ist, der sich seiner Bestimmung als verantwortlichem Handlungssubjekt in einer letztlich widersinnigen Weise verweigert, andererseits, dass ihm seine Sünde unverdienterweise vergeben wird. Gerade durch dieses Widerfahrnis, das die paulinische bzw. reformatorische Rechtfertigungslehre beschreibt, wird der konkrete Mensch als verantwortungsfähiges Subjekt neu konstituiert.

Die Unterscheidung zwischen dem Guten im Bereich des Vorletzten und demjenigen im Bereich des Letzten hat ihren Grund in der Gotteslehre. Wenn es in der Bibel heißt, Gott allein sei wahrhaft gut (vgl. Lukas 18,19), so wird zugleich gesagt, dass er nicht nach den Maßstäben des moralisch Guten zu messen ist, das doch in sich stets ambivalent bleibt. Wie die Unterscheidung von Gesetz und Evangelium hat somit auch die Zwei-Regimenten- oder Zweireichelehre, recht verstanden, eine Pointe in der Entmoralisierung der Religion.

Dieser Gedanke mag zunächst überraschen, scheint es doch vordergründig so zu sein, als sei einzig die Religion die Garantin für die der Gesellschaft transzendenten Normen und Werte der Moral. Traditionelle Hochkulturen sind in der Tat moralisch integrierte Gesellschaften, in denen Religion und Moral miteinander verquickt sind. Unter Berufung auf religionswissenschaftliche Forschungen geht der Soziologe Niklas Luhmann jedoch davon aus, dass die „Fusionierung von Religion und Moral […] ein relativ spätes Resultat der gesellschaftlichen Evolution“ gewesen ist. Sie ist im weiteren Verlauf der Religionsgeschichte, jedenfalls im Bereich des Christentums, nicht nur für die Moral, sondern auch für die Religion selbst zum Problem geworden. Für die Ethik ergab sich mit dem Entstehen der modernen Gesellschaft das Problem, das Prinzip der Autonomie gegenüber einer heteronomen, nämlich religiös bestimmten Moral durchzusetzen. Für die Religion aber hatte dies zur Folge, seit der europäischen Aufklärung selbst dem moralischen Urteil unterworfen zu werden. Es wird daher schließlich in der Sicht Luhmanns für die Religion zur Überlebensfrage, dass sie von der Moral abgekoppelt wird, wie er an der neuzeitlichen Entwicklung der Soteriologie sowie des Theodizeeproblems aufzeigt.

Es entspricht durchaus den Impulsen reformatorischer Theologie und ihrer an Paulus anschließenden Rechtfertigungslehre, den Sinn von Religion bzw. die Lebensdienlichkeit, Struktur und Inhalt des christlichen Glaubens gerade nicht über die Moral als solche, sondern über die Unterscheidung zwischen Moral und Religion, dogmatisch gesprochen zwischen Gott und Mensch, Handeln Gottes und Handeln des Menschen, oder nochmals anders formuliert: zwischen Evangelium und Gesetz einsichtig zu machen. Die ethische Konsequenz dieser Unterscheidung wie auch der Lehre von der Rechtfertigung des sündigen Menschen allein aus Gnade und vor allem allein durch den Glauben besteht einerseits in der Entmoralisierung der christlichen Religion, andererseits in der Begrenzung der Moral in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft.

In diesem Verständnis des Evangeliums ist auch ein Korrektiv gegenüber dem heute verbreiteten Ruf nach einer Erneuerung der Ethik oder gar einer neuen Ethik zu sehen, in welchem sich der Protest gegen die moderne technische und ökonomische Rationalität bzw. ein allgemeines Unbehagen an der Kultur zu Wort meldet. Wenn heute Theologie und Kirche von unterschiedlichen Seiten aufgefordert werden, zu den drängenden ethischen Konflikten Stellung zu nehmen, scheint sich damit die Möglichkeit zu eröffnen, auf ethischem Gebiet jene Relevanz wiederzugewinnen, welche Theologie und Kirche im Gefolge immer neuer Modernisierungsschübe verloren haben. Tatsächlich aber sind beide der Gefahr ausgesetzt, ideologisch funktionalisiert und missbraucht zu werden. Die negative Folge ist nicht nur eine Theologisierung des Sittlichen, sondern auch eine Moralisierung des Theologischen.

Zweifellos haben Kirche und Theologie die Aufgabe, zur Lösung der drängenden Fragen unserer Zeit beizutragen. Aber sie werden nur dann einen substantiellen Beitrag leisten können, wenn sie den heute zur Selbstverständlichkeit gewordenen Ruf nach einem Mehr an Ethik der theologischen Kritik unterziehen. Ethik und Theologie sind heute vor allem gefragt, wenn festgestellt werden soll, was verboten ist. Die Kirchen sind z.B. schnell bei der Hand, wenn es darum geht, bioethische Grenzziehungen mittels des Strafrechts zu fordern. Theologisch gesprochen verbirgt sich im Ruf nach einer neuen Ethik die Forderung nach dem Gesetz. Problematisch ist an ihr, dass nach einer Predigt des Gesetzes verlangt wird, die nicht vom Evangelium zu reden weiß.

Eine theologische Ethik, die sich gegenüber der Forderung nach vermehrter ethischer Reflexion nicht kritisch verhält, bleibt unserer Gesellschaft den wichtigsten Beitrag schuldig, den sie ihr vielleicht leisten kann, nämlich in den ethischen Konflikten von heute das zur Sprache zu bringen, was formelhaft als Evangelium bezeichnet wird. Wenn dies nicht gelingt, verkommt die theologische Ethik zum dezisionistischen Appell, der das Stimmengewirr der bloßen Meinungen und Interessen lediglich um einige weitere, in leicht erhöhtem Ton vorgetragene Behauptungen vermehrt.

Theologisch lässt sich die gesellschaftliche Verantwortung von Theologie und Kirche mit den Worten aus Jeremia 29,7 beschreiben: „Suchet der Stadt Bestes.“ Auch die Theologie befindet sich auf der Suche, weil sie keineswegs im Besitz fertiger Antworten auf die ethischen Fragen unserer Gegenwart ist. Wohl lebt der Glaube aus einer letzten Gewissheit des Heils. Doch darf diese Heilsgewissheit des Glaubens nicht mit der Sicherheit und Eindeutigkeit ethischen Urteilens und moralischer Handlungsanweisungen verwechselt werden. Der Moralisierung des Evangeliums gilt es zu wehren. Gerade um der Heilsbotschaft des Glaubens willen besteht die Aufgabe theologischer Ethik in der pluralistischen Gesellschaft von heute nicht zuletzt darin, vor zuviel Moral und ihren Ambivalenzen zu warnen.

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