On the situation of the Orthodox Church in Ukraine

Hintergründe, Ursachen und Folgen des ukrainischen Kirchenkonflikts

Im Rahmen der Veranstaltung "Ukraine: The Orthodox Church facing a schism", 07.02.2020

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Die Ukraine taucht derzeit in den Schlagzeilen der Medien kaum noch auf – zu Unrecht. Denn sie ist das einzige europäische Land, in dem Krieg herrscht, auch wenn in der Politik euphemistisch von einem „eingefrorenen“ militärischen Konflikt die Rede ist. Und sie ist ein Land, von dem ein kirchlicher Konflikt ausgeht, der weltweite Dimensionen anzunehmen droht. Beides hängt damit zusammen, dass die Ukraine ein „Land an der Grenze“ ist, so die Bedeutung der slawischen Wortwurzel ihres Namens. Die Ukraine ist ein Grenzland zwischen Konstantinopel, Moskau und Rom. Das verdeutlicht schon ein kurzer Blick auf die Geschichte des Landes.

 

Die Ukraine – Grenzland zwischen Konstantinopel, Moskau und Rom

Im Jahr 988 ließ der Kiewer Großfürst Wolodymyr sich und sein Volk taufen. Sie übernahmen damals Glauben und Ritus aus Konstantinopel, der Hauptstadt des Byzantinischen Reiches. Als 1240 die Mongolen Kiew eroberten, zogen sich die orthodoxen Metropoliten nach Norden zurück, wo sie zunächst in Wladimir, später in Moskau residierten. Vom 14. bis 17. Jahrhundert gehörten Kiew und weite Teile der heutigen Ukraine zum Polnisch-Litauischen Reich, das sich damals von der Ostsee bis fast ans Schwarze Meer erstreckte. Die orthodoxen Bischöfe in diesem Reich schlossen 1596 eine Union mit Rom ab, wodurch eine mit Rom unierte Ostkirche, die heutige Ukrainische Griechisch-katholische Kirche, entstand. Ein Teil der Orthodoxen war damit nicht einverstanden und erreichte 1620 die Wiedererrichtung der Kiewer Metropolie durch das Patriarchat von Konstantinopel.

1648 befreiten sich die Ukrainer in einem Volksaufstand unter Führung der Kosaken von der polnischen Herrschaft, mussten sich aber nur sechs Jahre später russischer Oberhoheit unterstellen. Angesichts der neuen politischen Gegebenheiten übertrug Konstantinopel im Jahr 1686 das Recht der Weihe des Metropoliten von Kiew an den Patriarchen von Moskau. Mehr als 300 Jahre gehörten daraufhin alle Orthodoxen in der Ukraine zum Patriarchat von Moskau. Politisch war die Ukraine in dieser Zeit Teil des russischen Zarenreiches und später Teil der Sowjetunion. Erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 gibt es die Ukraine als eigenständigen Staat. Und erst seit 2019 gibt es in der Ukraine eine eigenständige Orthodoxe Kirche – wiederum begründet vom Patriarchat von Konstantinopel.

 

Ukrainische Unabhängigkeit – ein Wunsch seit 100 Jahren

In den letzten 100 Jahren der langen Vorgeschichte dieses jungen Staates brach der Wunsch der Ukrainer nach Unabhängigkeit immer stärker auf. Schon nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches wurde kurzfristig eine unabhängige „Ukrainische Volksrepublik“ ausgerufen, die dann jedoch bald in der „Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik“ aufging – und damit praktisch wieder von der Landkarte verschwand. Schon in der kurzen Epoche politischer Souveränität nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurde eine „Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche“ begründet, die sich vom Moskauer Patriarchat lossagte, während der Sowjetzeit nur in der Diaspora überlebte und ab 1989 wieder mit dem Aufbau eigener Gemeinden in der Ukraine begann. Trotz Verbots durch die Sowjets bildete die mit Rom unierte Griechisch-katholische Kirche, die nicht nur im Exil, sondern auch im Untergrund aktiv war, einen wichtigen Nährboden für den ukrainischen Nationalgedanken in der Zeit der Sowjetunion.

Nach Erlangung der staatlichen Souveränität 1991 regte sich auch in der orthodoxen Hierarchie der Wunsch nach Unabhängigkeit von Moskau. Ein entsprechender Antrag des ukrainischen Episkopats wurde 1992 von einer Bischofssynode in Moskau abgelehnt. Daraufhin versuchte Metropolit Filaret, bis dahin der höchste Repräsentant des Moskauer Patriarchats in Kiew, die nach Unabhängigkeit strebenden Bischöfe des Moskauer Patriarchats und die Vertreter der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche hinter sich zu vereinen – was jedoch misslang und zur Gründung einer dritten orthodoxen Kirche in der Ukraine führte, dem sogenannten „Kiewer Patriarchat“. Seit 1993 existierten daher drei orthodoxe Kirchen in der Ukraine nebeneinander. Nämlich

  • die „Ukrainische Orthodoxe Kirche“ (UOK), die weiterhin in Verbindung mit dem Patriarchat von Moskau stand, der aber eine weitgehende Autonomie vom Patriarchat zugestanden wurde;
  • die auf die 1920-er Jahre zurückgehende „Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche“ (UAOK) und
  • die neu begründete „Ukrainische Orthodoxe Kirche – Kiewer Patriarchat“ (UOK-KP), an deren Spitze ab 1995 der selbsternannte „Patriarch“ Filaret stand.

Nur die erstgenannte wurde von den anderen orthodoxen Kirchen als „kanonisch“, also legitim anerkannt; die beiden letztgenannten galten als „unkanonisch“, ihre Amtsträger als illegitim und die von ihnen gespendeten Sakramente als ungültig. An dieser Situation änderte sich 25 Jahre lang – bis 2018 – praktisch nichts. Doch dann überstürzten sich die Ereignisse.

 

Der Weg zur kirchlichen „Unabhängigkeit“ (Autokephalie)

Im April 2018 reiste der ukrainische Präsident Petro Poroschenko nach Istanbul, um beim Ökumenischen Patriarchat die Gewährung der Autokephalie, der kirchlichen Selbstständigkeit, für die Orthodoxe Kirche in der Ukraine zu erbitten. Das hatten schon andere ukrainische Präsidenten vor ihm getan. Im Unterschied zu ihnen konnte Poroschenko sich auch auf einen entsprechenden Parlamentsbeschluss berufen. Das machte offenbar Eindruck im Phanar, dem Amtssitz des Ökumenischen Patriarchen. Jedenfalls begann man dort im Frühjahr 2018 ernsthaft über Wege nachzudenken, wie dieses Ziel erreicht werden könne.

Als Grundvoraussetzung erschien zunächst einmal die Wiederherstellung der Einheit unter den Orthodoxen in der Ukraine. Um dieses Ziel zu erreichen, entsandte das Ökumenische Patriarchat Anfang September 2018 zwei seiner Bischöfe, die aus der ukrainischen Diaspora in den USA und Kanada stammten, als „Exarchen“ (bevollmächtigte Gesandte) in die Ukraine. Fünf Wochen später, am 11. Oktober 2018, nahm das Ökumenische Patriarchat per Synodalbeschluss alle Bischöfe, Priester und Diakone der beiden bis dahin unkanonischen Kirchen in die Gemeinschaft der Orthodoxen Kirche auf und erklärte den Synodalbeschluss aus dem Jahr 1686, der bislang als Übertragung der Kiewer Metropolie an Moskau gedeutet worden war, für ungültig.

Auf diesen Schritt reagierte das Moskauer Patriarchat mit der Aufkündigung der Kommuniongemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat. Ob man deshalb bereits von einem „Schisma“ innerhalb der Orthodoxen Kirche sprechen kann, ist umstritten, weil es sich um einen einseitigen Schritt Moskaus handelt, der von Konstantinopel nicht in gleicher Weise beantwortet wurde. Jedenfalls begann man nun damit, ein „Vereinigungskonzil“ aller orthodoxen Bischöfe in der Ukraine vorzubereiten, um die Grundvoraussetzung für die Gewährung der Autokephalie zu schaffen. Weil dieser Prozess in der Ukraine selbst nicht recht vorankam, nahm das Ökumenische Patriarchat das Heft in die Hand, erarbeitete ein Statut für die ukrainische Kirche und versandte Einladungen zum Konzil an alle orthodoxen Bischöfe in der Ukraine. Dem Vernehmen nach hat der größte Teil des zum Moskauer Patriarchat zählenden Episkopats diese Einladungsschreiben ungeöffnet zurückgeschickt.

Am 15. Dezember 2018 trat das Konzil in der altehrwürdigen Kiewer Sophienkathedrale zusammen. Erschienen waren 64 Bischöfe und eine jeweils gleich große Anzahl von Klerikern und Laien. Alle Bischöfe aus den beiden bis Oktober als unkanonisch geltenden Kirchen nahmen teil, aber nur zwei, die vorher der kanonischen „Ukrainischen Orthodoxen Kirche“ angehörten. Der erst 39-jährige Metropolit Epiphanij, bis dahin die „rechte Hand“ Patriarch Filarets, wurde zum Oberhaupt der neuen Kirche gewählt. Die neu gegründete Kirche erhielt den Namen „Orthodoxe Kirche der Ukraine“, was noch einmal ihren Anspruch unterstrich, die Kirche aller Orthodoxen in der Ukraine zu sein. Am 6. Januar 2019, dem Epiphaniefest in Konstantinopel und dem Heiligen Abend nach ukrainischem Kirchenkalender, erhielt Metropolit Epiphanij von Patriarch Bartholomaios in Konstantinopel den „Tomos“, die Urkunde zur Verleihung der Autokephalie überreicht.

Nur neun Monate nach der Reise Poroschenkos war damit die gewünschte kirchliche Unabhängigkeit der Ukraine erreicht. Für ein Menschenkind reichen neun Monate, um im Schoß der Mutter zu reifen. Aber reichen neun Monate auch, um eine Kirche so reifen zu lassen, dass sie als gleichberechtigte Tochter in den Kreis der autokephalen Kirchen aufgenommen werden kann? Viele Beobachter hatten den Eindruck, dass es sich doch eher um eine „Sturzgeburt“ handelt – mit all den Risiken, die mit einem solchen unkontrollierbaren Prozess verbunden sind.

 

Beteiligte Personen und ihre Motive

Um die Dynamik des Prozesses zu verstehen, ist es wichtig, einen Blick auf die „Väter“ dieser Kirche zu werfen und nach den Motiven hinter ihrem Handeln zu fragen.

Beginnen wir mit dem selbsternannten „Patriarchen“ Filaret. Der heute 91-jährige stand seit 1966 an der Spitze der orthodoxen Hierarchie in der Ukraine. Nach dem Bruch mit dem Moskauer Patriarchat 1992 war er an der Gründung des „Kiewer Patriarchats“ beteiligt, dessen Oberhaupt er 1995 wurde. Seit Jahren strebte er nach internationaler Anerkennung, die ihm jedoch aufgrund des Moskauer Kirchenbanns verwehrt blieb. Mit der Gründung der „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ schien sein Ziel erreicht. Doch schon im Frühjahr 2019 zerstritt er sich mit seinem Ziehkind Metropolit Epiphanij, den er bei den Wahlen zum Oberhaupt der neuen Kirche noch protegiert hatte. Heute ist Filaret ein isolierter Mann, der weiterhin „sein“ Kiewer Patriarchat verteidigt, aber nur noch wenige Anhänger findet.

Unter den Gegnern der Autokephalie spielt Metropolit Onufriy, das Oberhaupt der „Ukrainischen Orthodoxen Kirche“, die weiterhin in Verbindung mit dem Moskauer Patriarchat steht, eine zentrale Rolle. Er steht seit August 2014 an der Spitze seiner Kirche. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Metropolit Wolodymyr, der sich für eine weitreichende Autonomie seiner Kirche von Moskau stark gemacht hatte und der bei vielen Ukrainern in hohem Ansehen stand, blieb Metropolit Onufriy eher farblos und wurde als treuer Verwalter der Moskauer Interessen in Kiew wahrgenommen. Wenn er und die Bischöfe seiner Kirche zum „Vereinigungskonzil“ in der Sophienkathedrale gekommen wären, hätten die Chancen nicht schlecht gestanden, dass er zum Oberhaupt der neuen Kirche gewählt worden wäre. Aber ein solcher „Machtpoker“ entsprach weder seinem Naturell noch seinem Amtsverständnis.

Wenn wir unseren Blick über die Ukraine hinaus richten, so spielt natürlich Patriarch Bartholomaios von Konstantinopel eine entscheidende Rolle. Als Ökumenischer Patriarch genießt er einen Ehrenvorrang innerhalb der orthodoxen Patriarchen. Seine Berater in Sachen Ukraine hatten ihn offenbar überzeugt, dass die Verleihung der Autokephalie an die Orthodoxe Kirche in der Ukraine eine solche Sogwirkung auf alle Ukrainer entfalten würde, dass die jahrzehntelange Spaltung der Orthodoxen in der Ukraine dadurch überwunden werden könne.

Immer wieder benannte er die pastorale Sorge um die sich millionenfach im Schisma befindenden Gläubigen in der Ukraine als das Hauptmotiv seines Handelns. Im Blick auf die Frage, warum er seine Hirtenpflicht gerade im Jahr 2018 so ernst genommen hat (und nicht schon einige Jahre früher), verweisen viele Beobachter auf einen Bruch in den Beziehungen zwischen Patriarch Bartholomaios und dem russischen Patriarchen Kirill, nach dem Letzterer 2016 die Teilnahme der russischen Kirche am geplanten „Panorthodoxen Konzil“ auf Kreta abgesagt hatte.

Damit kommen wir zum Patriarchen von Moskau und der ganzen Rus‘. Seit 2009 steht Patriarch Kirill an der Spitze dieser zahlenmäßig größten Orthodoxen Kirche in der Welt. Unter seiner Führung wurden zahlreiche neue Diözesen und Metropolitankreise gegründet und die synodalen Beratungsgremien ausgebaut, aber zugleich der persönliche Einfluss des Patriarchen auf alle Entscheidungsprozesse massiv verstärkt. Kirill hat immer unterstrichen, dass das Moskauer Patriarchat eine multinationale Kirche ist. Er hat darauf geachtet, dass auf Fotos mit ihm neben der russischen stets auch die ukrainische und weißrussische Flagge zu sehen sind, und dafür gesorgt, dass erstmals seit der Oktoberrevolution wieder Sitzungen des Heiligen Synods der russischen Kirche in Kiew stattfanden. Auf der anderen Seite gilt er als geistiger Vater des neoimperialen Konzepts der „russischen Welt“, das ein unauflösbares historisches und kulturelles Band zwischen allen ostslawischen Nationen (Russen, Ukrainer, Weißrussen) propagiert und damit dem großrussischen Gedankengut russischer Patrioten in die Hände spielt.

Letzteres weiß auch Wladimir Putin für sich zu nutzen, der nun seit mehr als 20 Jahren der unangefochtene Herrscher im Russischen Reich ist. Die von ihm veranlasste Annexion der Krim im März 2014 und der sich anschließende Krieg im Osten der Ukraine sollten die Stützpunkte der russischen Schwarzmeerflotte und den russischen Einfluss auf die Industrieregion Donbass sichern. Das Motiv seines Handelns war, langfristig die Bindung der Ukraine an Russland zu sichern. De facto hat er das Gegenteil erreicht: Erst durch die kriegerischen Auseinandersetzungen ist bei vielen Ukrainern das Nationalbewusstsein erwacht und ein „antirussischer Affekt“ geweckt worden, der die engen Verbindungen in vielen russisch-ukrainischen Familien nachhaltig zerstört hat.

Last, but not least, müssen wir auf Petro Poroschenko schauen, der von 2014 bis 2019 Präsident der Ukraine war. Er war die entscheidende politische Kraft hinter dem Autokephalie-Streben der ukrainischen Kirche. Er brauchte diesen Erfolg, um bei den Präsidentschaftswahlen eine Chance auf Wiederwahl zu haben, und mischte sich daher immer wieder in innerkirchliche Prozesse ein. Er drängte auf die medienwirksame Unterzeichnung eines Kooperationsabkommens mit dem Ökumenischen Patriarchat, nahm selbst im Präsidium des „Vereinigungskonzils“ Platz und verkündete dem wartenden Volk die Wahl des neuen Kirchenoberhaupts. Zusammen mit Metropolit Epiphanij reiste er nach Istanbul, um die Urkunde zur Verleihung der Autokephalie in Empfang zu nehmen und organisierte anschließend die Präsentation des Tomos in verschiedenen ukrainischen Städten. Doch sein politisches Kalkül ging nicht auf: Zwar schaffte er es in die Stichwahl, aber im zweiten Wahlgang unterlag er haushoch dem heutigen ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.

Zusammenfassend lassen sich also im Wesentlichen drei Motive benennen, die dazu beigetragen haben, dass die Autokephalie-Erklärung der ukrainischen Kirche in einer solch kurzen Zeit erfolgt ist: pastorale Verantwortung, politische Ambitionen und psychologische Gründe. Während Konstantinopel vor allem den ersten Aspekt, seine pastorale Verantwortung, unterstreicht, betont Moskau die mit dem Prozess unlösbar verquickten politischen Ambitionen – bis hin zu dem Vorwurf, die amerikanische Regierung stecke hinter der ganzen Sache. Doch auch die psychologischen Faktoren sollten nicht vernachlässigt werden: Die tiefe Enttäuschung, die die kurzfristige Absage aus Moskau bezüglich der Teilnahme an der Panorthodoxen Synode auf Kreta bei ­Patriarch Bartholomaios hervorrief, hat offenbar Spuren hinterlassen, die bis heute nachwirken. Letztlich dürften alle drei Faktoren (Pastoral, Politik und Psychologie) dazu beigetragen haben, dass die Dinge sich so entwickelt haben, wie es am Beginn des Prozesses eigentlich niemand wollte. Denn statt zu einer Vereinigung aller Orthodoxen beizutragen hat die Verleihung der Autokephalie zu einer Verfestigung der Spaltung in der Ukraine geführt.

 

Tieferliegende Ursachen

Es gibt aber darüber hinaus noch tieferliegende Ursachen für den ukrainischen Kirchenkonflikt, die mit bestimmten theologischen und kanonischen, also kirchenrechtlichen Fragen zusammenhängen, die innerhalb der Orthodoxen Kirche seit Jahren umstritten sind: (1) dem Verständnis von Autokephalie, (2) der Bedeutung des kanonischem Territoriums und (3) den Vollmachten, die dem Patriarchen von Konstantinopel zukommen.

Zum ersten Punkt: Die Frage, wie der Status der Autokephalie verliehen wird, stand seit Jahrzehnten auf der Agenda des sogenannten „Panorthodoxen Konzils“. Nachdem man sich im Vorfeld nicht auf eine Beschlussvorlage hatte verständigen können, war dieser Punkt von der Tagesordnung der „Heiligen und Großen Synode“ gestrichen und 2016 auf Kreta auch nicht behandelt worden. Es war also klar, dass es diesbezüglich einen Dissens unter den Orthodoxen gab. Wenn Konstantinopel zwei Jahre nach dem Konzil von Kreta einen solchen Prozess initiierte, stand also von vornherein fest, dass es darüber zum Konflikt kommen würde. Kritiker der Entscheidungen Konstantinopels verweisen zudem darauf, dass der Tomos, mit dem der Orthodoxen Kirche in der Ukraine die Autokephalie verliehen wurde, viele einschränkende Bestimmungen enthält, durch die die neue Kirche an Konstantinopel gebunden bleibt. Es handele sich eher um eine „Autokephalie light“ als um die Anerkennung einer selbstständigen und gleichberechtigten Kirche.

Ein zweiter Punkt betrifft die Bedeutung des „kanonischen Territoriums“: In der Orthodoxen Kirche gilt ursprünglich das sogenannte „Territorialprinzip“ (in einer Region sollte es nur eine orthodoxe Kirche geben, nicht mehrere). Auch wenn dieses Prinzip in der Diaspora seit Jahren nicht mehr beachtet wird (dort folgt man dem „ethnischen Prinzip“: eine Nation – eine Kirche), hat man bislang das „kanonische Territorium“ der jeweils anderen Patriarchate respektiert. Im Blick auf die Ukraine erheben nun sowohl Konstantinopel als auch Moskau den Anspruch, dass es sich dabei um „ihr“ kanonisches Territorium handelt und sie allein die „Mutterkirche“ der Ukraine seien.

Konstantinopel beruft sich darauf, dass die Kiewer Metropolie ursprünglich von dort aus gegründet wurde, Moskau verweist darauf, dass es seit mehr als 300 Jahren die pastorale Sorge für die Gläubigen in der Ukraine übernommen habe. Der Streit um den Synodalbeschluss von 1686, der von Konstantinopel erst als historischer Beleg angeführt und dann plötzlich für nichtig erklärt wurde, rief besonders große Irritationen hervor. Denn zum einen stellt die Aufhebung eines 300 Jahre alten Dekrets die Verlässlichkeit aller Synodalbeschlüsse der Kirche von Konstantinopel infrage. Zum anderen zeugt der Streit von einer verzerrten Sicht der Geschichte (übrigens auf beiden Seiten!), die nicht beachtet, dass die damalige Kiewer Metropolie ein weitaus kleineres Territorium als der heutige ukrainische Staat umfasste.

Der dritte Punkt ist die Frage, welche Vollmachten dem Patriarchen von Konstantinopel innerhalb der Orthodoxen Kirche zukommen. Moskau und die meisten anderen orthodoxen Kirchen haben dessen Aufgabe bislang als einen Ehrenprimat verstanden, der ihm aufgrund der historischen Bedeutung der Reichshauptstadt Konstantinopel zukommt und es ihm erlaubt, Versammlungen und andere Initiativen auf panorthodoxer Ebene anzustoßen, zu koordinieren und ihnen vorzustehen. Der Prozess um die ukrainische Autokephalie hat gezeigt, dass das Ökumenische Patriarchat sich darüber hinaus als übergeordnete Appellationsinstanz in kirchenrechtlichen Streitfragen und als die einzige Autorität versteht, der das Recht zur Verleihung der Autokephalie zukommt.

Aufgrund dieser exklusiven Primatsansprüche erhebt Moskau gegenüber Konstantinopel den Vorwurf des „Papalismus“, während Vertreter Konstantinopels der russischen Seite ein protestantisch beeinflusstes Verständnis der Kirche als einer „Konföderation unabhängiger Lokalkirchen“ vorwerfen. Alte kontroverstheologische Vorurteile feiern hier fröhlich Urständ und werden zur Polemik gegenüber den Gegnern benutzt, ohne darüber nachzudenken, welchen Eindruck das auf die ökumenischen Partner macht.

 

Ein Jahr „Autokephalie“ der Ukraine: Was hat sich seit Januar 2019 getan?

Zum Abschluss möchte ich noch kurz auf die weitere Entwicklung seit der Verleihung der Autokephalie an die Orthodoxe Kirche der Ukraine im Januar 2019 eingehen. Schauen wir zunächst auf die Ukraine selbst: Hier haben seit dem Vereinigungskonzil im Dezember 2018 insgesamt 550 Gemeinden ihren Übertritt von der „Ukrainischen Orthodoxen Kirche“ (UOK) zur „Orthodoxen Kirche der Ukraine“ (OKU) erklärt. Gemessen an der Gesamtzahl der Pfarreien der UOK sind das rund 5 Prozent aller Gemeinden. Die meisten Gemeinden traten von Januar bis März 2019 zur neuen Kirche über – in einer Zeit, als ein solcher Wechsel von der Poroschenko-Administration noch deutlich unterstützt wurde. Es gibt aus dieser Zeit Berichte über Gemeindeversammlungen, zu denen viele Menschen kamen, die sonst nie in der Kirche waren und die dafür sorgten, dass es eine Stimmenmehrheit für den Wechsel zur neuen Kirche gab.

Das Kirchengebäude wurde daraufhin der OKU übertragen, während der Priester und die regelmäßigen Kirchgänger, die der UOK verbunden blieben, ihre Gottesdienste in der Wohnung des Priesters oder einer Garage feiern mussten. Das Moskauer Patriarchat griff solche Fälle natürlich auf, sprach von einer „Verfolgung“ seiner Priester und Gläubigen in der Ukraine und appellierte an internationale Institutionen, weil es die Religionsfreiheit in der Ukraine gefährdet sah. Seit den Präsidentschaftswahlen im Frühjahr 2019 und dem Wegfall der politischen Unterstützung für die neue Kirche gibt es allerdings kaum noch entsprechende Vorfälle.

Im Dezember 2019 haben beide ukrainischen Kirchen aktuelle Statistiken vorgelegt. Wenn man die Angaben vergleicht, zeigt sich, dass die mit Moskau verbundene Ukrainische Orthodoxe Kirche nach wie vor die institutionell stärkere Kirche ist. Sie umfasst 53 Diözesen im Vergleich zu 44 bei der Orthodoxen Kirche der ­Ukraine. 99 Bischöfe und 12.411 Priester und Diakone zählen zur UOK, während die OKU 62 Bischöfe und 4.500 Kleriker aufführt. Die Zahl der Gemeinden liegt bei 12.338 im Vergleich zu gut 7.000, die Zahl der Klöster bei 254 im Vergleich zu 77. Interessant an der Statistik ist vor allem, dass die Zahl der Gemeinden der UOK trotz des erwähnten Wechsels von 550 Gemeinden zur neuen Kirche sich im Laufe des Jahres 2019 um 246 erhöht hat. Das deutet darauf hin, dass dort, wo ein Wechsel erfolgt ist, sich dennoch eine Gemeinde der UOK hat registrieren lassen. Damit verfestigt sich das Nebeneinander zweier orthodoxer Kirchen auf demselben Territorium.

Die Statistik der Gemeinden sagt noch nichts darüber aus, wie viele Gläubige sich der jeweiligen Kirche zugehörig fühlen. Entsprechende Umfragen deuten darauf hin, dass die Zahl derjenigen, die sich mit der UOK identifizieren, in den letzten zehn Jahren deutlich rückläufig ist. Der Krieg mit Russland führt dazu, dass man sich lieber von der Kirche distanziert, die mit Russland in Verbindung steht. Demgegenüber stieg die Zahl derjenigen, die mit dem Kiewer Patriarchat sympathisierten. Bemerkenswert an der jüngsten Umfrage ist, dass sich nur etwa ein Drittel der Gläubigen mit der neuen autokephalen Kirche identifizieren. Dagegen ist der Anteil derjenigen, die sich als „einfach orthodox“ (ohne nähere Angabe) verstehen, auf fast 50 Prozent gestiegen.

Das deutet darauf hin, dass die Gläubigen sich von den Streitigkeiten zwischen Konstantinopel und Moskau distanzieren. Diesen Eindruck habe ich auch selbst bei einem Besuch in Kiew im September 2019 gewonnen. So wurde mir von Bekannten erzählt, dass sie zwar weiterhin im Chor der Gemeinde mitsingen, die zum Moskauer Patriarchat gehört, aber zur Beichte und zur Kommunion bei einem Priester der OKU gehen. „Die Mauern zwischen den Kirchen reichen nicht bis zum Himmel“, hat ein ukrainischer Bischof einmal gesagt – und sie sind offenbar auch auf Erden recht durchlässig.

Die von Konstantinopel erhoffte Sogwirkung der Autokephalie-Erklärung auf die orthodoxen Gläubigen in der Ukraine ist also ausgeblieben. Auch die Anerkennung der Entscheidung Konstantinopels durch die anderen orthodoxen autokephalen Kirchen verläuft bislang recht zäh. Es dauerte ganze neun Monate, bis sich im Oktober 2019 die Kirche von Griechenland als erste zur Anerkennung der neuen Kirche entschied; ihr folgte im November 2019 das Patriarchat von Alexandrien. In beiden Kirchen war diese Entscheidung nicht unumstritten, weshalb das Moskauer Patriarchat nicht die Kommuniongemeinschaft mit diesen Kirchen insgesamt aufgekündigt hat, sondern nur mit jenen Bischöfen, die sich der Entscheidung des Kirchenoberhaupts anschließen. Hier scheint Moskau nach dem Motto divide et impera einen Keil in den jeweiligen Episkopat treiben zu wollen.

Andere orthodoxe Kirchen erkennen die ukrainische Autokephalie bislang nicht an und versuchen, sich neutral zu verhalten. Unerwartete Kritik an den Entscheidungen Konstantinopels kam von Erzbischof Anastasios von Albanien, der eigentlich als ein treuer Weggefährte von Patriarch Batholomaios gilt. Er stellte vor allen Dingen die Anerkennung der Weihen in den unkanonischen Kirchen und damit die Legitimität der Hierarchie der neuen Kirche in Frage. Versuche des Erzbischofs von Zypern und des Patriarchen von Jerusalem, eine Vermittlerrolle zu übernehmen, scheiterten jeweils am Einspruch Konstantinopels. Der Orthodoxen Kirche fehlt derzeit eine Institution, die in diesem innerorthodoxen Konflikt vermitteln könnte. Traditionell kommt diese Rolle eigentlich dem Patriarchat von Konstantinopel zu, aber weil es in diesem Streit Partei ist, hat das Ökumenische Patriarchat seine einheitsstiftende Autorität ­leider verloren.

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