Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Mädchen!“, „Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Junge!“ – mit diesen kurzen Botschaften wird weitaus Bedeutenderes ausgesprochen als floskelhafte Glückwünsche. Denn in der Biographie eines Menschen gibt es kaum eine folgenreichere Festlegung als die seines Geschlechts kurz nach dem Eintritt in diese Welt.
I.
Je nach Erscheinungsbild der Genitalien wird ein Neugeborenes nach Möglichkeit einem bestimmten Geschlecht zugeordnet, und diese Zuordnung ist für das Selbstverständnis eines Menschen wie für seine Wahrnehmung durch andere von geradezu existenzieller Bedeutung. Das gesellschaftlich und kulturell dominante binäre Geschlechtermodell fördert und zementiert deshalb vielfältige Benachteiligungs-, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen für Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung – für Menschen also, die sich geschlechtlich jenseits der Kategorien „männlich“ und „weiblich“ verorten oder sich nicht bzw. nicht nur mit dem bei der Geburt verzeichneten Geschlecht identifizieren.
Als wissenschaftlicher Garant der Geschlechtsbestimmung sub utraque specie galt nicht zuletzt die Biologie. Gerade sie zeigt jedoch eindrucksvoll, wie atemberaubend vielfältig die geschlechtlichen Erscheinungs- und Ausdrucksformen „weiblicher“ und „männlicher“ Individuen und wie fließend die Übergänge zwischen beiden sein können. Der Gesetzgeber hat dieser wissenschaftlichen Erkenntnis, dass Geschlecht tatsächlich viel komplexer ist als im Alltagswissen angenommen und in gesellschaftlichen Konventionen verankert, Rechnung getragen, indem er zum 1. Januar 2019 im deutschen Personenstandsrecht neben „männlich“ und „weiblich“ einen dritten positiven Geschlechtseintrag eingeführt hat. Aber auch diese Regelung ändert nichts daran, dass die Geschlechtszugehörigkeit eines Menschen in erster Linie das Ergebnis einer Fremdzuschreibung durch Dritte aufgrund äußerer körperlicher Merkmale ist und bleibt. Hiergegen gilt es in aller Deutlichkeit darauf aufmerksam zu machen: Geschlecht ist nicht verfügbar, sondern Gegenstand der Selbstbestimmung jedes einzelnen Menschen, der – theologisch gesprochen – durch das Geschenk der rechtfertigenden Gnade zur Freiheit begabt und zu einem Leben in freier Verantwortung vor Gott und den Mitmenschen berufen ist.
II.
Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung sind für Kirche und Theologie bislang weitgehend ein blinder Fleck geblieben. In kirchlichen Stellungnahmen und theologischen Veröffentlichungen, in denen das binäre Geschlechtermodell eine selbstverständliche Grundvoraussetzung bildet, stellt ihre Existenz geradezu eine „irritierende Kontingenz“ dar, die gewohnte und etablierte Denkmuster aufbricht und zu einem Kurswechsel in der theologischen Auseinandersetzung mit Geschlecht und Geschlechtlichkeit herausfordert. Ein solcher Abschied von Althergebrachtem fällt schwer, aber es ist Aufgabe und Stärke theologischen Denkens, sich neueren außertheologischen Wissensbeständen nicht zu verschließen, auch und gerade dann, wenn diese im Widerspruch zu dogmatisch-theologischen Aussagen über den Menschen und seine Lebenswelt stehen.
Um Orientierung für die Auseinandersetzung mit Aufgaben und Herausforderungen der Gegenwart geben zu können, gilt es daher, die Traditionen des eigenen Glaubens im Kontext modernen Denkens und Handelns zu entfalten und in einer zunehmend von Komplexität und Differenzierung geprägten modernen Gesellschaft argumentativ zu verantworten. Die damit verbundene Neubewertung bisheriger Auslegungstraditionen einschlägiger Bibelstellen (man denke an Gen 1,27 mit seinen Bezügen in Gen 5,2 und Mt 19,4, aber auch an bemerkenswerte Erzählungen wie Apg 8,26–40 im Vergleich mit Dtn 23,2 einerseits, Jes 56,4–5, Weish 3,14 und Mt 19,12 andererseits) vor dem Hintergrund und unter Einbeziehung des aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstandes – gleichsam eine Rückkehr ad fontes unter veränderten Vorzeichen – erfordert eine ständige Bereitschaft zur Neubesinnung einschließlich der damit verbundenen Revisionen traditioneller „Richtigkeiten“.
Menschen mit Varianten der Geschlechtsentwicklung sind keine defizitären Abweichungen von einer als „natürlich“ oder „gottgewollt“ angesehenen „Norm“ der Zweigeschlechtlichkeit. Sie sind Ausdruck der Vielfältigkeit und Vielgestaltigkeit der Natur, die Gott geschaffen hat. Wenn so viele Menschen einer Norm nicht entsprechen, mit diesen Menschen insofern „etwas nicht stimmt“, könnte es dann nicht vielmehr die Norm sein, mit der „etwas nicht stimmt“? Oder um es mit den Worten Regina Ammicht Quinns zu sagen: „Warum verstört es uns so sehr, wenn Gott sich nicht an die von Menschen gemachten Gesetze hält?“ So gesehen erscheint jeder Versuch, Geschlecht normieren zu wollen, als menschliche Anmaßung, Gottes autonomes Schöpfungshandeln menschlicher Definitionsmacht zu unterwerfen und eine Schneise der Uniformität in die Vielfalt seiner Schöpfung zu schlagen.
III.
Das weite Spektrum, die Fülle menschlicher Wirklichkeit gilt es wertzuschätzen und gemäß dem biblisch-jüdisch-christlichen Liebesgebot mit allen verfügbaren Kräften zu schützen. Im Umgang mit Minderheiten zeigt sich, wie offen eine Gesellschaft – und auch jede kirchliche Gemeinschaft – ist und wofür sie wirklich steht und einsteht. Die Gemeinschaft der Christenmenschen steht vor der nicht zuletzt seelsorgerlichen Herausforderung, sich grundlegend neu zu definieren unter der Maxime, dass die von Gott geschenkte Vielfalt alle Menschen in ihrer je eigenen Individualität einschließt. Das bedeutet: Trennungen und Ausgrenzungen überwinden – Wertschätzung der Vielfalt zur gleichberechtigten Teilhabe aller ermöglichen. Es gilt, den Glauben als Befreiung durch Gott ernst zu nehmen, indem „Schöpfung“ und „Geschöpfe“ unter dem Primat Gottes gesehen werden, der nach 1 Joh 4,16 als die dem Menschen innewohnende Beziehungsstärke „Liebe“ charakterisiert ist.