Wie würde Eckhart den Satz „Bilden ist sich bilden“ lesen?
Bildung ist sich bilden. Dieser schlichte Satz erscheint zunächst uneingeschränkt zustimmungswürdig und (selbst)verständlich. Ihm kann jedoch auf mehrfache Weise Sinn gegeben werden. Wer versucht, diesen Satz für sich zu erschließen, dem eröffnet sich ein ganzes Panorama von Fragen. Bildung meint sowohl einen Prozess als auch ein Ergebnis. Bilden kann dann als eine wie auch immer geartete formende Tätigkeit verstanden werden. Es stellen sich dann aber die Fragen: Wer bildet und wer wird gebildet? Bedeutet der Satz, dass Subjekt und Objekt des Bildens dasselbe ist und Bildung als Einheit von Subjekt, Objekt und Methode verstanden wird? Damit zusammenhängend entstehen weitere Fragen: Woran wird sich gebildet und welche Rolle spielt ‚die Welt‘ bei Bildung? Womit wir bei der Frage sind, ob Bildung eher ein aktiver oder eher ein passiver Prozess ist. Dazu auch noch: Wer oder was verursacht die Bildung? Die Frage der Kausalität wird im ‚didaktischen Dreieck‘, d.h. in Lehr- und Lernkontexten von Lehrendem, Lernendem und Gegenstand relevant, denn es ist die Frage, wer auf welche Weise am Bildungsprozess beteiligt ist und in welcher Weise das Ergebnis angezielt oder bewirkt werden kann. Diese Fragen eröffnen einen ersten Horizont der notwendigen Klärung, wenn nach dem Sinn dieses einfachen Satzes gefragt wird: Bilden ist sich bilden.
Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Bildung in der Gegenwart wird gern und regelmäßig auf den spätmittelalterlichen Dominikaner Eckhart von Hochheim Bezug genommen. In diesem Beitrag möchte ich mich darauf beschränken, die spezifische Perspektive des dominikanischen Meisters auf Bildung am Beispiel dieses einfachen Satzes zu rekonstruieren. Also herauszufinden, mit welchen philosophischen Mitteln, die Eckhart verwendet, dieser einfache Satz verstehbar wird. Ich arbeite also die Rahmenbedingung heraus, die es Eckhart erlauben, bildunge, bilde, bilden, ein-, ent- und überbilden, sowie Bild (imago), Vorbild (exemplar) und Form (forma) in einen Zusammenhang zu bringen. Dieses Instrumentarium kann als eine – heute wenig vertraute – Teleologie und damit als eine bestimmte Form einer Seinslehre (Ontologie) rekonstruiert werden.
Einige biographische Hinweise zu Beginn: Eckhart ist vermutlich um 1260 in Thüringen geboren und war nach Kurt Ruh ein „Hochbegabter mit einer steilen Gelehrten- und Ämterlaufbahn“. Er wurde Dominikaner und war damit Angehöriger des Predigerordens, zu dem auch Albertus Magnus (1200–1280) und Thomas von Aquin (1225–1274) gehörten. Zu seinen Aufgaben gehörten die Seelsorge und das philosophische und theologische Lehren in Paris und Köln. Zudem übernahm er leitende Aufgaben in seinem Orden.
Eckhart lehrte in einer Zeit, die aufgrund der Wiederentdeckung der Schriften des Aristoteles als ein zweiter Anfang der Metaphysik (Ludger Honnefelder) bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang der ontologischen Diskussion wurden auch muslimische Philosophen wie Averroes (1126–1198) und Avicenna (980–1037) und jüdische Philosophen wie Maimonides (1135–1204) rezipiert. Aber auch neuplatonisch geprägte Quellen, wie der Liber de Causis, waren für Eckhart feste Bezugsgrößen. Die Ontologie Eckharts und die konkurrierenden Ontologien franziskanischer Provenienz (Hispanus Gonsalvus und Duns Scotus) reagierten auf eine bestimmte Form eines radikalen Averroismus, in dem Gott nicht mehr unmittelbar in die Schöpfung eingreift. Eckhart und seine franziskanischen Gesprächspartner gehen freilich zwei verschiedene Wege in der Seinslehre.
Eckhart hinterließ ein zweisprachiges Werk: einerseits mittelhochdeutsche Predigten und anderseits ein unvollendetes, lateinisches Werk (Opus tripartitum), das dreiteilig konzipiert war. Er verstarb vermutlich auf dem Weg nach oder in Avignon im Jahre 1328, wo seine Lehre durch den Papst geprüft wurde und letztlich – nach seinem Tod – 28 Sätze verurteilt wurden. Aufgrund dieser Verurteilung war die Rezeption von Eckhart stark eingeschränkt.
Bildung im Horizont einer holistisch-teleologischen Ontologie
Das mittelhochdeutsche Wort bildunge kommt bei Eckhart nur einmal vor, gehört aber zum vielfach gebrauchten Wortfeld von bilde und bilden. bildunge hat bereits einen zweifachen Sinn: Es bezeichnet einerseits eine Tätigkeit bzw. einen Prozess und andererseits das Ergebnis dieser Tätigkeit. Eckhart beschreibt einen solchen Bildungsprozess am Beispiel des Bildhauers, das sich bis zu Plotin zurückverfolgen lässt und auch Michelangelo verwendet: „Ein Beispiel sehen wir, wenn ein Bild aus dem Holz oder dem Stein herausgeholt wird, wobei nichts verändert, vielmehr nur gereinigt, herausgehauen und herausgeholt wird. Ist dies alles durch die Hand des Künstlers herausgeholt, erscheint und erstrahlt das Bild.“ (Ioh. n. 575) Bilden umfasst bei Eckhart zweierlei Formungsprozesse: Zum ersten das Formen einer Materie zu einer Gestalt, wobei es sich um bereits geformte Materie handelt, die aber noch weiter formbar ist. Zum zweiten formt ein solcher Künstler ebenfalls nach einem (äußeren) Vorbild ein Konzept im Geist, nachdem er beispielsweise dann eine Statue gestaltet.
Das Eckhart‘sche Verständnis für diese künstlerischen Bildungs- und Formungsprozesse gewinnen wir aber erst, wenn erkennbar wird, was Eckhart unter Schöpfung versteht. Erst im Kontext seiner spezifischen Schöpfungstheologie werden die Bildungsprozesse im Bereich von Kunst (ars) und Wissenschaft (scientia) verstehbar. Die Kontextualisierung der Kunst wird in der Auslegung von Kol 1,15 („Er ist das Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung.“) durch einen Vergleich einsichtig: „‚Erstgeborener aller Geschöpfe‘, das heißt der allen Geschöpfen als Vorbild Vorgesetzte, dem sie [die Geschöpfe] ähnlich werden sollen, wie auch ein Maler seinem Schüler ein Bild vorsetzt, nachdem er ein ähnliches arbeiten soll.“ (Sermo 49 n. 505) Der Erstgeborene wird sowohl als Bild (imago) des unsichtbaren Gottes als auch als Vorbild (exemplar) der gesamten Schöpfung verstanden. Der künstlerische Formungsprozess – hier am Beispiel des Malens – orientiert sich am Modell der Schöpfung, die wiederum an die trinitarische Geburt des Sohnes aus dem Vater rückgebunden ist.
Damit ist ein zweiter Horizont abgesteckt, den es im Folgenden abzuschreiten gilt: In einem ersten Schritt (2.1.) wird darum herausgearbeitet, wie Eckhart die Schöpfung des Universums als Seinsakt und damit teleologisch denkt. Die Teleologie besteht aus drei miteinander verbundenen Elementen: Das Denken der Partizipation, das Akt-Potenz-Denken und das Denken des Einen. Erst damit wird einsichtig, was Eckhart unter Form und Formungsprozessen versteht. In einem zweiten Schritt (2.2.) wird herausgearbeitet, wie Eckhart diese Schöpfungsteleologie auf den Menschen anwendet und die Besonderheit des geschaffenen Menschen ebenfalls teleologisch mit dem Bildbegriff fasst. Der Mensch ist für Eckhart qua Bild ein Mikrokosmos (Welt im Kleinen), der die Aufgabe hat, der Schöpfungsteleologie in seinem Sein, Leben und Denken zu entsprechen. Erst durch diesen unerlässlichen ‚Umweg‘ über die Schöpfungstheologie und die Anthropologie entsteht der Rahmen, der die angeführten Formungs- und Bildungsprozesse eines Bildhauers mit Hilfe der Teleologie verstehbar werden lässt. Die Formungs- und Bildungsprozesse in Kunst und Wissenschaft werden also erst im Kontext einer Schöpfungstheologie und Anthropologie verständlich. Bildung wird bei Eckhart darum (2.3.) nach dem Prinzip der Gottebenbildlichkeit verstanden, d. h. der Mensch steht vor der paradoxalen Aufgabe, ein Bild zu werden desjenigen Gottes, von dem man sich kein Bild machen kann und der nicht darstellbar ist.
Die Schöpfung des Universums als Seinsakt
Zum ersten Element der Teleologie: In seiner Schöpfungslehre entwickelt Eckhart ein Prinzip der Wirklichkeit (esse ipsum); dieses eine Prinzip kann als Wirk-, Form- und Finalursache der Vorstellung nach unterschieden werden. In der Weise, wie sich Gott als Schöpfer zu seiner Schöpfung verhält, unterscheidet Eckhart drei Aspekte. Sie lassen sich der Vorstellung nach unterscheiden, sind aber drei Aspekte eines Schöpfungsaktes: Gott setzt die Geschöpfe ins Sein (Wirkursache), er unterscheidet sie voneinander innerhalb des geordneten Zusammenhangs des Universums (Formursache) und er erhält sie im Sein und führt sie zu ihrem Ziel und ihrer Vollendung (Zielursache).
Eckhart entwickelt im Prolog seines Hauptwerkes eine Transzendentalienlehre. Transzendentalien sind allgemeine Begriffe, die allen Dingen vorgängig zukommen und früher als alle Dinge sind. Damit reflektiert er die Vorannahmen seines Denkens. Zu den Transzendentalien gehören für ihn das Sein, das Gute und das Wahre. Bereits sein älterer Ordensbruder Thomas hob hervor, dass die Transzendentalien untereinander austauschbar sind. In seinem Prolog konzentriert sich Eckhart auf die Transzendentalie des Seins. Sie wird für ihn zum Ausgangspunkt der Wirklichkeit und mit Gott identifiziert: „Das Sein ist Gott.“ (Esse est deus) Und bei Gott sind Sein (esse) und Wesen (essentia) eins, d. h., sein Wesen ist Sein.
Damit entsteht eine Schwierigkeit: Wie kann irgendetwas anderes außerhalb von Gott existieren, der das Sein in seiner Vollkommenheit ist? Eckhart (und vor ihm Thomas) löst diese Schwierigkeit über den neuplatonischen Begriff der Teilhabe oder Partizipation. Mit dem Begriff der Partizipation können gleichzeitig die Ursache aller Dinge und die Wesensunterschiede zwischen den Dingen gedacht werden. Die Geschöpfe partizipieren am Sein selbst, und zwar auf eine begrenzte und endliche Weise. Sie sind, insofern sie am Sein selbst teilhaben. Die Geschöpfe haben keine selbständige Existenz. Vielmehr sind sie „zwischen Sein und Nichts aufgehängt“, wie es der systematische Theologe Johannes Hoff formuliert. Das heißt, sie existieren nur insofern, als sie in verschiedenen Graden an der Fülle des göttlichen Seins teilhaben. Gott schafft also nicht so, dass er ‚etwas‘ aus sich heraussetzt wie der Architekt, sondern er schafft Weisen der Teilhabe. Um sich im Sein zu halten, müssen die Geschöpfe mit ihrem Schöpfer verbunden sein.
Die erste Ursache (das Sein selbst) negiert also in jeder Wirkung auf bestimmte Weise ihre Einheit von Sein und Wesen. Das lässt sich auch umgekehrt formulieren: In jeder Wirkung wird auf bestimmte Weise die Einheit von Sein und Wesen der ersten Ursache negiert. D. h. die Geschöpfe sind Mängelwesen. Rainer Manstetten drückt es so aus: „Ein Seiendes ist Geschöpf, insofern ihm irgendetwas mangelt. Indem es nämlich als ein ‚Dieses‘ von einem ‚Jenes‘ unterschieden ist, mangelt es ihm, jenes zu sein. Zu Kreatur gehört das ‚nicht‘ und das ‚Nichts‘.“ Der Unterschied der Geschöpfe liegt deshalb innerhalb ihrer gemeinsamen Beziehung zum Schöpfer, der das Prinzip allen Seins ist.
Zum zweiten Element der Teleologie: Diese Partizipation von allem am Sein wird – und das ist der entscheidende Punkt bei Eckhart (wie bei Thomas) – mit den aristotelischen Begriffen von Akt und Potenz gedacht. Eckhart sagt es im Prolog so: „Denn das Sein als solches (esse ipsum) verhält sich zu allem anderen wie dessen Verwirklichung (actus) und Vollendung, ja es ist die Wirklichkeit aller Formen. Deshalb sagt Avicenna: das, was jedes Ding verlangt, ist das Sein und die Vollkommenheit des Seins.“ Um sich dem Sein als solchem zu nähern, sind wir nach Eckhart auf die Form (= das Wesen) verwiesen, die er als Potenz definiert. Die Form ist ‚schon immer‘ verwirklicht und hat Teil am Sein selbst, aber in ihrer Potentialität. D. h. eine Blüte ist ein Apfel, indem sich die Potenz Apfel-zu-sein bereits in der Blüte verwirklicht. Der ‚nächste‘ Seinsakt führt dann zu einem höheren Grad der Teilhabe. Es ist also graduell gedacht. Alles strebt für Eckhart auf die größere Verwirklichung seiner Wesenspotentiale hin, und zwar als Akt. Daher hat jedes Geschöpf innerhalb seiner Grenzen eine natürliche Neigung, zu Gott zurückzukehren, d. h. mit ihm vereinigt zu sein. In der Aktualisierung der Potenz kommt das Wesen an sein Ziel (telos): es hat qua Seinsakt Teil am Sein selbst.
Zum dritten Element der Teleologie: Es entsteht nämlich die Frage, wie das Verhältnis zwischen der göttlichen Wirkung im Geschöpf und der Wirkung des Geschöpfes selbst gedacht wird. Es geht also um das Verhältnis zwischen Erst- und Zweitursache. Dazu der Thomas-Forscher Rudi te Velde: „Die Wirkung Gottes in der Natur darf nicht so gedacht werden, daß Gott das Wirken der Natur sozusagen übernimmt, sondern gerade so, daß Gott die Natur in ihr eigenes Wirken setzt, indem er den Dingen Formen und Vermögen gibt und diese zu ihrer Wirkung bringt. Gerade darin zeigt sich die Seinsmacht des Schöpfers. Gott wirkt in der Wirkung der Natur, indem er als transzendentale Ursache des Seins jede kategoriale Form und Kraft in der Natur von innen heraus mit dem Sein ‚vermittelt‘.“
Das Eine und das Viele verhalten sich dabei ebenfalls nicht wie in einer hierarchisierenden, zweigliedrigen Stufenordnung. Das Eine ist gerade nicht ‚oben‘, sondern es ist als transzendentales Prinzip die Bedingung der Möglichkeit gradueller Verschiedenheit innerhalb einer Seinsordnung: „Denn im Wesen des Ersten und Oberen liegt es, da es von ‚Natur reich‘ ist, das Niedere mit seinen Eigentümlichkeiten zu beeinflussen und zu berühren, zwischen denen Einheit und Ungeteiltheit besteht.“ (Prologus generalis n. 10) Dabei verwirklicht sich in der gestuften Seinsordnung jeweils ein höherer Grad von Einheit und Vollkommenheit: „Immer ist das im Niederen Geteilte eins und ungeteilt im Oberen. Daraus erhellt, daß das Obere in keiner Weise im Niederen geteilt wird, sondern es bleibt ungeteilt und bindet und eint das im Niederen Geteilte.“ (Prologus generalis n. 10)
Es ist nun nicht so, dass bei Eckhart der Mensch vor Gott wie vor einem schwarzen Quadrat in Ratlosigkeit verfällt. Für Eckhart steht das Denken und das Sprechen Gott nicht auf ratlose Weise gegenüber, sondern es hat immer schon auf rätselhafte Weise an ihm teil. Die Welt hat nämlich theophanischen Charakter: Sie offenbart ihren Schöpfer, und zwar in unterschiedlichen Graden und entsprechend der Teilhabe. Johannes Hoff sagt es so: „Die Schöpfung hat den Charakter eines theophanischen Bildes, das in hierarchisch abgestuften Intensitäten an seinem göttlichen Wesen teilhat. Ein theophanisches Bild ist nicht identisch mit dem, was es abbildet. Dennoch enthält es, im Gegensatz zu einem Gemälde, nichts, was nicht in seinem Urbild enthalten ist.“ Eckhart unterscheidet drei Seinsstufen, durch die sich das erste Prinzip jeweils in vollkommenerer Weise offenbart: Seiendes, Lebendes und Denkendes.
Abschließend lässt sich festhalten, dass Eckhart Schöpfung teleologisch als einen Seinsakt denkt: Schöpfung bezeichnet die Beziehung der Welt in ihrer Gesamtheit zur transzendentalen Seinsursache. Dazu noch einmal Rudi te Velde: „Schöpfung ist kein Werdeprozeß, in dem das, was wird oder entsteht, eine Bewegung zu einem Endpunkt macht. […] Schöpfung erfolgt ohne Bewegung (motus) oder Wechsel (mutatio): das Ganze des Geschöpfs […] wird ins Sein gesetzt; es wird nicht in der Zeit geschaffen (in einem bestimmten Augenblick), sondern zusammen mit der Zeit. […] Schöpfung bedeutet nicht Veränderung in der Welt; sie bezeichnet die Beziehung der Welt in der Gesamtheit ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge zur transzendentalen Seinsursache, die selbst außerhalb von Natur und Zeit steht.“
Der Mensch als Einheit von Leib, Geist und Seele in der Gottesgeburt
Dieses teleologische Denken wendet Eckhart auch auf seine Anthropologie an. Wobei der Ausgangspunkt die Besonderheit der vernünftigen und geistigen Geschöpfe ist. Zu jeder Materie (wie bei der Statue) und zu jedem Geist gehören unterschiedliche Weisen der Bildsamkeit, also die Empfänglichkeit für neue Formen. Ein fundamentaler Unterschied der Bildsamkeit wird in der Auslegung zu Gen 1,26 („Lasst uns den Menschen machen nach unserem Ebenbild und Gleichnis“) klar benannt: „Für jetzt muss man aber wissen, worin die vernünftigen oder geistigen Geschöpfe sich von allen unter ihnen stehenden unterscheiden. Letztere sind nach dem Gleichnis von etwas, was in Gott ist, hervorgebracht worden und haben ihre eigenen Ideen in Gott, nach denen sie […] geschaffen sind, nach Ideen, die auf die in der Natur voneinander unterschiedenen Arten eingeschränkt sind. Der Vorzug der geistigen Natur besteht darin, dass sie Gott selbst zum Gleichnis hat, nicht etwas, was in ihm in der Art einer Idee ist.“ (Gen. I n. 115) Während alle anderen Geschöpfe nach Ideen in Gott geschaffen und die Empfänglichkeit der Form auf eine Art (species) beschränkt sind, kommt allen geistigen Geschöpfen eine Ähnlichkeit mit Gott selbst zu, und zwar qua Verstand (intellectus). Der Verstand (intellectus) hat – so die aristotelische Definition – die Möglichkeit, alles zu werden und ist gerade nicht auf bestimmte Formen beschränkt. Der Gegenstand des Verstandes ist die Gesamtheit des Seienden (universitas entium) und nicht nur dieses oder jenes (Seiende).
Der Mensch hat also darum für Eckhart die Aufgabe, seine vernünftige Seele (anima rationale) zu vollenden, indem sie zu einer „geistigen Welt“ (saeculum intelligibile) wird. Dies gelingt ihr, wenn sich in der vernünftigen Seele die Form des Ganzen (forma totius) abzeichnet. Im Kommentar zu Gen 1,26 heißt es: „Und Avicenna […] sagt: ‚die Vollendung der vernünftigen Seele besteht darin, dass sie zu einer geistigen Welt wird und die Form des Alls (forma totius) sich in ihr abzeichnet‘, ‚bis sich in ihr die Ordnung des gesamten Seins (dispositio esse universitatis) vollendet und sie so zu einer geistigen Welt, dem Abbild des Seins des Weltalls wird‘. Der Mensch geht also so von Gott aus, dass er ‚zum Abbild des göttlichen Wesens‘ wird.“ (Gen. I n. 115) Der Mensch hat also die Aufgabe, zu einem Mikrokosmos („Welt im Kleinen“) zu werden, der mit der Schöpfung des ganzen Universums korrespondiert. Kriterium dieser Korrespondenz ist eine Ähnlichkeit zwischen der Ordnung des gesamten Seins und der geistigen Welt der Seele.
Wie wird aber die vernünftige Seele zu einer geistigen und dazu noch geordneten kleinen Welt? Dazu ist ein Blick in die Eckhart´sche Psychologie erhellend. Er formuliert zunächst: „Mein Leib ist mehr in meiner Seele, als daß meine Seele in meinem Leib sei.“ (Pr. 10) Die Seele ist für ihn (mit Aristoteles) die einheitsstiftende Form des Körpers mit seinen Teilen: „Die Seele wird in ihnen [den Teilen des Lebewesens] nicht geteilt, sondern bleibt ungeteilt und eint die einzelnen Teile in sich, so daß sie eine Seele, ein Leben, ein Sein und ein Lebendigsein haben.“ (Prologus generalis n. 10) Den Leib zu formen, ist eine nicht unwichtige, aber untergeordnete Aufgabe der Seele. Denn die Seele ist auch Geist (anima rationale), und darin hat sie eine höhere Existenzweise.
Die Seele wird also zu einer geistigen Welt, indem sie sich selbst aufbaut und zugleich die leiblichen Kräfte ordnet. Für den Aufbau der Seele ist verschiedenes ‚Material‘ notwendig. Alle Bereiche der Seele werden versorgt und müssen ausgebildet werden. D. h. indem die leiblichen und seelischen Kräfte auf ihre Weise, d. h. gemäß der Ordnung, geübt werden. Die Vernunft ist Geber dieser Ordnung, die der Ordnung der äußeren Welt entspringt. In einer harmonischen Einheit von Leib, Geist und Seele realisiert sich die Ordnung des gesamten Seins.
Wir haben gesehen, wie die Seinslehre von Eckhart zum einen an einem Prinzip partizipiert und zum anderen wie die Vielheit gestuft gedacht und dennoch auf ein einheitsstiftendes Prinzip verwiesen bleibt. Die Seele als Mikrokosmos wird also analog gedacht, wobei eben das einheits- und vielheitsstiftende Prinzip der Seele (als leibseelische Einheit gedacht) mit dem Begriff der Gottesgeburt ausgedrückt wird und an die innertrinitarische Geburt zurückgebunden ist.
Eckhart unterscheidet verschiedene Vermögen der Seele: Verstand, Wille, Gedächtnis. Das Wesen der Seele verortet Eckhart im Unterschied zu ihren Potenzen am Grund der Seele. Der Mensch (als Wesen) mit Leib, Geist und Seele muss also im Verhältnis zum Sein, das sie von Gott empfängt, in Potenz sein. Jenes empfangene Sein ist in der Weise des Aktes. D. h. alle Potenzen der Seele – die oberste Vernunft am Seelengrund mit einbegriffen – partizipieren ontologisch am ersten Prinzip, indem sie in verschiedene Graden ihre Potentialität aktualisieren. Der höchste Grad der Teilhabe am göttlichen Wesen beschreibt Eckhart mit der Sohnesgeburt. „Fürwahr, in der gleichen Geburt, da der Vater seinen eingeborenen Sohn gebiert und ihm die Wurzel und seine Ganze Gottheit und seine ganze Seligkeit gibt und sich selbst zurückbehält, in dieser selben Geburt nennt er uns seine Freunde. Wenngleich du von diesem Sprechen nichts hörst oder verstehst, so gibt es doch eine Kraft in der Seele […], die ist ganz abgelöst und ganz lauter in sich selbst und göttlicher Natur eng verwandt: in dieser Kraft wird es verstanden.“ (Pr. 27) Mit diesem Akt des Seins und der Einheit am Grund der Seele hat der Mensch Anteil am Sein selbst. Die Gottesgeburt ist also die Vollendung der Gottebenbildlichkeit. Mit der Metapher der Gottesgeburt, die Eckhart von Origenes übernimmt, ist eine fundamentale Wandlung der Seele gemeint, eine Transformation ihrer selbst. Die Seele wird und ist eins, wenn sie am Schöpfungsakt teilhat. „Gott und ich, wir sind eins in solchem Wirken; er wirkt und ich werde.“ (Pr. 6)
Bildung als die gnadenhafte Freilegung einer leib-geistig-seelischen Einheit
Der Seinsakt drückt sich darin aus, dass der Mensch nach dem Bild des Mikrokosmos eine geistige Welt aufbaut, in der sich die teleologische Ordnung der ganzen Schöpfung widerspiegelt und so eine leib-geistig-seelische Einheit freigelegt wird. Bildung wird bei Eckhart nach dem Prinzip der Gottebenbildlichkeit verstanden, d. h. der Mensch steht vor der paradoxalen Aufgabe, analog zur Schöpfung ein Bild zu werden desjenigen Gottes, von dem man sich kein Bild machen kann und der nicht darstellbar ist.
Nun können wir zum Bild des Bildhauers des Anfangs zurückkehren, das zweifach angewendet werden kann: Zum einen mit Blick auf das Sein des Menschen als Bild und zum anderen mit Blick auf das Tun des Menschen. Eckhart in seinem Johanneskommentar: „Wir bitten also Gott, er zeige in Werk und Wirkung, dass er ‚Vater der Erbarmung‘ ist, der sich unser erbarmt, damit das, was wir von Natur aus sind ‚dem Ebenbild gemäß‘ (ad imaginem), durch die Gnade ‚der Ähnlichkeit gemäß‘ (Gen 1,26) zum Vorschein kommt.“ (Ioh. n. 575) Erst durch die vorübergehend erscheinende Gnade zeigt sich die Natur des Bildes. Erst durch Gnade erscheint die Natur des Bildes und offenbart dessen aktuellen Grad an Vollkommenheit. Die gebrochene, durch die Sünde überschriebene Schöpfung wird durch den Künstler – der Sohn Gottes – gereinigt und erstrahlt in neuem Glanz.
Die keimhafte Anlage im Wesen des Menschen muss freigelegt und entfaltet werden, weil sie überlagert und durch die Sünde verdunkelt ist. Teleologie meint nicht Determination, sondern eine Bestimmtheit, die in der Aktualisierung eines Telos liegt, das erst noch freigelegt werden muss. Das ist die konkrete Aufgabe des Menschen: die keimhafte Anlage im Wesen des Menschen zur Entfaltung kommen zu lassen. Der Lehrende ist dann analog zum Künstler für Eckhart jemand, der (wie der Lernende auch) im konkreten Werk eine Form aufgehen und eine frühere Form vergehen lässt. Im menschlichen Schöpfungsakt, der Gelassenheit als Haltung voraussetzt, wird eine abgestufte Teilhabe als leiblich-geistig-seelische Einheit am Schöpfungsakt selbst gedacht. Bildungsprozesse sind also darum bei Eckhart immer schöpferisch und mimetisch. Bildung meint also die (graduelle) Vollendung der Gottebenbildlichkeit in der Gottesgeburt, die mit einer Ent-bildung einhergeht, so dass offenbar wird, was der Mensch qua Schöpfung immer schon ist. Bildung bleibt so eine Unverfügbarkeit und eine Bedingtheit eingeschrieben.
Bildung ist für Eckhart also zuerst ein Transformationsprozess, der den Menschen auf das erste Prinzip ausrichtet und damit eine Form kontemplativer Betrachtung. Die höchste Form der zweckfreien Betrachtung (Leben ohne warum) ist nach Johannes Hoff das „einsehende Verstehen“ (intellectus). „Vernunft, die sucht und Vernunft, die nicht mehr sucht, die vielmehr in sich selbst ein lauteres Licht ist.“ (Pr. 37). In der betrachtenden Erschließung des Seinaktes kommt der Betrachter zur Ruhe (reductio ad mysterium) und tritt in ein Schwingungsverhältnis ein. Dieses Phänomen beschreiben gegenwärtige Forscher mit Resonanz oder Responsivität. Das ist die Grundlage für Kunst und Wissenschaft.
Bildung ist sich bilden. Diesen einfachen Satz mit den philosophischen Instrumentarium Eckharts zu verstehen, war die Aufgabe. Im Sinne Eckharts müsste dieser Satz wohl in folgender Weise modifiziert werden: Kein sich bilden ohne sich selbst bilden, doch keine Selbstbildung ohne Gottbewusstsein, aber auch kein Gottbewusstsein ohne Selbstvergessen und Selbstentbilden. Der Fokus auf das Selbst will die Reduktion der Bildung auf eine bildende Tätigkeit ausschließen. Wenn es aber um Selbstbildung geht, dann kann das Selbst zweifach verstanden werden: Einerseits kann es als das Subjekt des freien Willens und andererseits als eine leiblich-geistig-seelische Einheit verstanden werden: kurz als Person. Für Eckhart ist letzteres der Fall, auch wenn er den Person-Begriff nur sporadisch verwendet. Das entzieht jeglichen Selbstbegründungstheorien den Boden. Erst das Prinzip des Seins als Erstursache bedingt Bildungs- und Entbildungsprozesse, in denen sich das vorgängige Prinzip innerhalb der Seins- und Erkenntnisordnung offenbart.
Zur Reflexion der Vorannahmen von Bildungstheorien
Am Schluss soll die Ebene der Vorannahmen von Bildungstheorien in den Blick kommen. Eckhart konzeptualisiert mit der Teleologie eine bestimmte Form der Seinslehre. Im Unterschied zu dieser hier rekonstruierten Teleologie sei kurz angedeutet, welche andere Vorannahmen bei Eckhart gesehen werden können und welchen Einfluss diese auf das Bildungsdenken haben. So sieht der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin im Bildungsdenken eine Kontinuität zwischen Spätmittelalter und Gegenwart und formuliert mit Blick auf Eckhart: „Die ‚imago-dei‘-Theorie will Herkunft und damit Würde des Menschen erklären, seinem Leben ein Ziel geben und dem Handelnden eine Aufgabe. Der Mensch ist (1) Werk Gottes und soll (2) Gottes Abbild werden; dazu muss er sich (3) bemühen. Damit sind drei für die Bildungstheorie bis heute gültige Aspekte benannt: (1) Die Eingebundenheit des Menschen in eine für den Menschen sinnhaft zu erfahrende oder gestaltende Welt, (2) die Formulierung eines Ziels des menschlichen Handelns und (3) der Hinweis darauf, dass dieses Ziel nur durch Bemühen erreicht werden kann.“ Mit Blick auf die Vorannahmen ist zweierlei an dieser Bestimmung hervorzuheben: zum einen eine Trennung zwischen Sein (1) und Sollen (2+3) und zum anderen die Auffassung des Werdens. Denn Werden wird als – quasi naturgesetzlicher – Prozess verstanden, in dem das, was wird oder entsteht, eine Bewegung zu einem Endpunkt oder einem Ergebnis darstellt. Vor dem Hintergrund der obigen Eckhart-Interpretation wird klar, dass hier Bildung nicht teleologisch gedacht wird. Die Teleologie verwandelt sich hier in eine mechanistische Wirkursächlichkeit unter Absehung von Form- und Zielursache. Eine Output-gesteuerte Kompetenzorientierung scheint ebenfalls von dieser Art der Kausalität geprägt. Mit einem solchen Verständnis von Kausalität kommt es dann zu einer Stufung ad infinitum von Mittel-Zweck-Relationen: Mittel zu einem Zweck, das wiederum Mittel zu einem höheren Zweck ist („Zweck der Zwecke“).
Manche ordnen Eckhart als einen Vorläufer moderner Bildungs- und Subjekttheorien ein. Meine Überlegungen bestätigen aber die Einschätzung von Dietmar Mieth, dass eine „Anwendung des uns vertrauten Bildungsbegriffes – in der Tradition von Humboldt – auf Meister Eckhart eine retrospektive Projektion ist“. Das zeigt: Es ist – nicht nur bei Eckhart – aufschlussreich zu untersuchen, mit welchem Hintergrund der einfache Satz „Bilden ist sich bilden“ gelesen wird.