“Blicke mich nicht an! Ich bin der Papst!”

Die Serie The Young Pope als Provokation des katholischen Fühlens

Im Rahmen der Veranstaltung "Rückkehr der Religion – passé?", 21.11.2022

©tilialucida, canva

Als wir uns im Jahr 2021 an die Planung der Tagung zur katholischen Literatur- und Mediengeschichte machten, gab ich, als wir das Programm mit den Vorträgen zu konstruieren begannen, die Zusage, über die Serie The Young Pope zu sprechen, die 2016 unter der Regie des italienischen Regisseurs Paolo Sorrentino zuerst im Rahmen der 73. Filmfestspiele in Venedig gezeigt wurde. Zwar hatte ich die zehn Folgen von The Young Pope genauso wie die zehn Folgen der zweiten Staffel unter dem Titel The New Pope gesehen und war mir deshalb sicher, dass man genug ‚katholische‘ Themen aus dem Bilder- und Handlungsgeflecht der Serie isolieren kann, um einen fruchtbaren Beitrag zu leisten: Welch produktives Medienbeispiel ist doch The Young Pope, ein aufs engste mit der Kirche, mit der vatikanischen Glaubenspolitik und mit allen möglichen christlichen und unchristlichen Belangen verschränktes Medienbeispiel.

Doch hatte ich, wie ich nun bei der jüngsten Wiederbeschäftigung bemerkte, außer Acht gelassen, was für eine ausgesprochen komplexe katholische Serie The Young Pope ist, da es vielmehr sogar zur Struktur dieser Serie gehört, mit allergrößter Bildsensibilität, Nähe und katholischem Bewusstsein die kirchlichen Belange aufzugreifen und auf sie zu antworten, außer Acht gelassen aber auch, dass ihre Verschlungenheit, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit es systematischen Überlegungen sehr schwer ma-
chen. Aufgrund dieser Sachlage und dieses Befundes möchte ich allerdings eine erste These formulieren: Die Komplexität, das Zeichengeflecht von The Young Pope, die ausgesprochen dominante Visualität sind unter anderem Merkmale, die das Wesen der Kirche zum Ausdruck bringen, ja die Kirche in ihrer Paradoxie, in ihren Gegensätzen und in ihrer Sinnhaftigkeit und Sinnverschleierung paradigmatisch beschreiben. Wie die Kirche selbst widersprüchlich ist, so widersprüchlich, gebrochen, auch dogmatisch, antidogmatisch, klar und verunklarend ist The Young Pope.

Ich werde daher im Folgenden auch als erstes Plädoyer für weitergehende medienkulturwissenschaftliche Forschung zu diesem Musterbeispiel der katholischen Mediengeschichte der letzten Jahre The Young Pope in Grundzügen vorstellen, die Schwerpunkte der Serie sortieren und innerhalb des Tagungstitels deuten: The Young Pope ist eine Rückkehr der Religion ins populäre und publikumswirksame Serienformat, ist aber gezwungen aufgrund seines ausufernden Gegenstandes, aufgrund dieser Dichotomie einer traditionellen vs. einer modernen/liberalen Kirche seine Zeichenstruktur unaufhörlich zu überdrehen, Zusammenhänge zu verrücken, erste Verständniserfolge wieder zu brechen, zu verwirren und auch religiöse und damit moralische Eindeutigkeiten einem klaren Verständnis wieder zu entziehen. The Young Pope ist, und dies ist meine zweite These, ein handlungsüberschießender und bildgewaltiger Ausdruck dessen, was ich das katholische Fühlen nenne, nicht um dieses katholische Fühlen, wenn es zu sich selbst kommen und ausruhen kann, sofort wieder zu erschüttern und zu provozieren.

Lenny Belardo (Jude Law), der erste Amerikaner auf dem Stuhle Petri, ist zu einer Zeit, die ungefähr unserer Gegenwart entspricht, zum Pontifex gewählt worden und hat sich den Namen Pius XIII. gegeben. Damit schließt Belardo – auf eigentümliche und widersprüchliche Weise ist er ein Traditionalist – explizit an das Pontifikat Pius’ X. an, des Papstes, der vielen der Reaktion nahestehenden Katholiken noch heute leuchtendes Beispiel der katholischen Führungsstrenge ist. Und Sedisvakantisten beziehen sich ja explizit auf die gültigen Päpste zwischen Petrus dem Ersten und Pius dem Letzten. Letzter Pius ist nun Pius XIII., enigmatischer und deutlich sexualisierter Raucher, trinkt in der Früh nur eine Cherry Coke, dessen gültige Wahl von niemandem angezweifelt wird, der allerdings alle möglichen Zumutungen seiner erschlafften Kirche auferlegen wird.

Ein Papst wie aus dem Bilderbuch – Folge eins

Der Vorspann der ersten Folge ist zu einem surrealen Serienbeginn geworden. Der neue Papst erwacht nach einem Sextraum und hält auf der bekannten Loggia am Petersdom seine erste Ansprache an die Gläubigen. Es fällt strömender Regen. Was wir sehen, ist die Reformulierung der bekannten Bilder, der Diener, der dem Papst das Mikrophon hält, der entrollte Teppich mit dem Papstwappen, die begeisterte Menge auf dem Petersplatz. Alles haben wir so und ähnlich schon unzählige Male gesehen, vermittelt von Medien. Hier setzt bereits das katholische Fühlen ein, um das es mir gehen wird. Es ist das katholische Spektakel, das zu sehen ist, von dem man sich ergreifen und begeistern oder abstoßen lassen kann, aber es ist das katholische Fühlen, das sich auf die Inszenierung der päpstlichen Persönlichkeit als Stillung der Massensehnsüchte bezieht.

Was nun in der ersten Papstrede ans Volk den Gläubigen gesagt wird, hat das Potential nach den liberalen Maßstäben der deutschen Kirchenberichterstattung in den üblichen Qualitätsmedien zu einer Sensation und Revolution zu werden. Papst Pius XIII. breitet die Arme aus, Begrüßungsgeste und Geste des Empfangs höherer Wahrheiten gleichermaßen, da stoppt unter dem erstaunten Raunen der Gläubigen der Regen, Schirme werden eingeklappt und Kapuzen zurückgezogen, nachdem sich die Sonne Bahn bricht. Ein Zeichen: Auch die Wetter- und Lichtverhältnisse legitimieren den Stellvertreter Christi auf Erden. Pius XIII. verkündet, was wir alles vergessen haben: die Armen, die Schwachen, die Homosexuellen, die Abtreibungswilligen. Die Kardinäle sind schockiert, auch die Gläubigen sind nicht begeistert, wissen sie doch nichts so recht mit diesem neuen liberalen Wind anzufangen.

Dabei ist doch alles anders, und Lenny erwacht – zwar als neu gewählter Papst, aber ohne sich bisher den Gläubigen gezeigt zu haben – in seinem Bett. Ein guter Beleg für die widersprüchliche Kippfigur, zu der alle scheinbar stabilen Aussagen und Ontologien in diesem Serienbeispiel schnell werden und damit das katholische Fühlen verwirren und chaotisieren.

Dabei ist Lenny Belardo als Papst ganz das Gegenteil der „telegene[n] Puppe“, für die ihn die älteren Kardinäle im Gespräch halten, denn das genaue Gegenteil ist wahr: „er [kann] manipuliert werden kann. Es war ein Meisterstück von Voiellos diplomatischer Raffinesse.“ Kardinal Voiello, der vermeintlich die Fäden zieht, weil er Belardo in einem geschickten Spiel zum Papst gemacht hat, wird schnell einsehen müssen, dass dieser keineswegs seinen Vorstellungen folgt. „Entgegen den Erwartungen seiner Steigbügelhalter erweist er sich nicht als manipulierbare Marionette auf dem Heiligen Stuhl, sondern als religiöser Hardliner in der Tradition seiner Namensvettern als Bischof von Rom.“

Eine Einstellung zeigt ihn vor dem Bild Papst Pius X., in dessen Folgelinie ihn die Bilder positionieren. Dabei zeichnen ihn allerlei Schrullen und Exzentrizitäten aus. Statt einem Treffen mit Voiello über die nächsten Planungen, seine erwartete Ansprache und die Ausrichtung seines Pontifikats zuzustimmen, wartet er am Hubschrauberlandeplatz auf die Ankunft von Schwester Mary (Diane Keeton), in deren Kinderheim Lenny aufgewachsen ist und von der er früh als „Heiliger“ identifiziert wurde. Als Voiello feststellt, dass Schwester Mary für Papst Pius XIII. eine herausgehobene Rolle zugewiesen werden soll, ist er Feuer und Flamme: „Wir könnte so eine Art Sonderstellung für sie kreieren. In solchen Fällen mangelt es uns nicht an Phantasie.“

Er will dem Papst eigentlich seine Ideen für dessen Rede vor dem Kardinalskollegium vortragen, eventuell erste Ideen für eine Enzyklika besprechen. Da weiß er noch nicht, dass Pius XIII. Schwester Mary anstelle von Voiello einsetzen wird. Waren die bisherigen Schilderungen Nachempfindungen und/oder Karikaturen von Abläufen im Kirchenstaat, kommen wir dem katholischen Fühlen schon näher, wenn The Young Pope auch die Sakramente thematisiert und diese als Projektionsfläche für Erinnerungen von Rezipient*innen funktionalisiert. So gibt die Serie Einblicke in die erste Beichte von Belardo, seit er neuer Papst ist, mit dem Bekenntnis, dass er nicht an Gott glaube. Auch dieser Sprechakt ist deutlich in seiner Ambivalenz und schwankenden Ontologie markiert: Das anschließende Entsetzen seines Beichtvaters relativiert Pius XIII. gleich darauf, dass dies ein Scherz gewesen sei. Trotzdem wird dieser Gotteszweifel des Papstes noch öfter thematisiert, nicht um ihn auch als intensiv Betenden zu zeigen, dessen Flehen Erhörung findet.

Philosophie für Katholik*innen trotz allem

Nach diesem Resümee der ersten Folge sind wir nun beim Untertitel des Vortrags angekommen, der mit dem Terminus des „katholischen Fühlens“ ja schon markiert, dass The Young Pope eine Herausforderung dafür ist. Das Buch, das für den Untertitel als Inspirationsquelle Pate gestanden hat, stammt von dem italienischen Philosophen Mario Perniola: Vom katholischen Fühlen. Die kulturelle Form einer universellen Religion.

Der erste Teil des Buches heißt: Warum ich mich nicht anders als „Katholik“ nennen kann und formuliert im ersten Kapitel Ein Katholizismus ohne Orthodoxie einen auch für The Young Pope entscheidenden Gedanken: „Kann man sich als Katholik fühlen, ohne an den sakramentalen Charakter der Ehe zu glauben? Oder sich als Katholik fühlen, ohne Glauben an die Unfehlbarkeit des Papstes? Oder sich als Katholik fühlen, ohne an die Göttlichkeit von Jesus Christus zu glauben? Diese Fragen sind nur solange unsinnig, als man von vornherein eine unauflösliche Beziehung zwischen Katholizismus und dem Einverständnis mit den Doktrinen voraussetzt“. (11)

Weiter fragt er: „Lässt sich nun aber der Katholizismus schlechthin mit dem identifizieren, was die Kirche über sich selbst aussagt? Ist diese Konzeption nicht zu dürftig, nicht zu beschränkt für ein immenses kulturelles und geistiges Erbe, das auf das Mittelalter zurückgeht und in der Antike wurzelt?“ (11) So wie man auch die universelle Bilder- und Motivsprache von The Young Pope als universell bezeichnen könnte mit dessen ausgesprochen gemäldeähnlichen Lichtführungen und Figurenstaffelungen, so rekurriert die Serie auf einen stark archaischen und ritualaffinen Lebenshintergrund. Bei Perniola heißt es hierzu, er neige „doch eher dazu, den Wesenskern der Katholizität weniger im Glauben, als vielmehr im Fühlen, nicht im Einverständnis mit der Doktrin, sondern in der Möglichkeit einer spezifischen, durchaus universalisierbaren Erfahrung auszumachen.“ (12)

Diesen Katholizismus ohne Orthodoxie kombiniert Perniola mit einem im zweiten Kapitel entfalteten Ein Glaube ohne Dogma: „Wer auf Dogmen und Predigten allergisch reagiert, weil er sie für einen Ausdruck von Unlauterkeit und Heuchelei hält, dem wendet sich dieses Buch ganz besonders zu. Verordnetermaßen an etwas Bestimmtes glauben und sich in einer bestimmten Weise verhalten zu sollen, steht in scharfem Gegensetz zur feierlichen hoheitlichen Bedeutsamkeit einer Institution und beleidigt die religiöse Sensibilität zutiefst, die mehr noch als Philosophie und Kunst allein in einem Klima aus Freiheitlichkeit und Großmut gedeiht. Eben diese besonderen Charakterzüge sind es, denen sich die Anziehungskraft der orientalischen Religion verdankt und die ehemals auch dem Katholizismus angehörten. Bleibt zu verstehen, wie es hat geschehen können, dass sich der Katholizismus im Verlauf eines halben Jahrtausends zu einer ideologisch politischen Apparatur wandelt, die in einem ständig weiter reichenden dogmatischen Fundament gegründet ist, für das der Schlüsselbegriff Glaube steht.“ (27) Vielleicht sind in The Young Pope aber noch viele Rudimente dieser Faszinationskraft enthalten, für die das katholische Fühlen mehr als anfällig ist.

Nur der Vollständigkeit halber: Die anderen Kapitel dieser philosophischen Studie heißen:

III Hoffnung ohne Aberglauben

IV Nächstenliebe ohne Demütigung

V Katholizismus, Humanismus und Differenz

VI Das rituelle Fühlen

Auf Letzteres werde ich final noch kurz eingehen.

Die Forderung des Bildverbots

Besonders kommt es mir nun auf die zweite Folge an, die mit der ersten öffentlichen Ansprache des Papstes, auf die ja schon lange alle warten, einen ersten Höhepunkt im Handlungsgefüge darstellt. Die Widersprüche, die Papst Pius XIII. erzeugt, durchziehen gerade diese zweite Folge und lassen sich auch hier durchdeklinieren. Die Audienz, die Pius XIII. seinen Mitarbeiter*innen gewährt, zeigt einen erratischen, enigmatischen Papst. Das Papstbild, das The Young Pope erzeugt, lässt nicht hinter Intention und Meinung blicken, aber unentwegt danach fragen. Provozierend ist also die medial generierte Frage: Was möchte der Papst für das Katholische und für die Kirche? – so als würde man von einem wirklichen Menschen sprechen –, um im nächsten Moment diese Antwort durch die widersprüchliche Zeichenstruktur des Textes zu entziehen.

Die Pressereferentin des Vatikans, Sofia Dubois, möchte neue Werbeteller für den Papsttourismus anfertigen lassen. Aber der Papst ist vom Bild-Unwillen gezeichnet. Blicke mich nicht an, ich bin der Papst sozusagen! Den einzig möglichen Papst-Porträt-Teller, den Pius XIII. autorisieren wird, ist ein leerer Teller, was die Pressechefin in dieser Ambivalenz auch sogleich überinterpretiert zur Botschaft, dass also offenbar ausgesagt werden solle, dass nur Christus zählt. Aber dem Pontifex ist es ernst mit dem eigentümlichen Bilderverbot, von dem man den Eindruck hat, dass er es in diesem Moment gerade selbst erst hervorbringt: Der Photograph des Papstes wird entlassen. Pius XIII. wolle bei seiner ersten Ansprache unsichtbar sein.

Schwester Marys Diktum, der Papst habe kein Interesse an Diplomatie, bewahrheitet sich mehr als deutlich, und diesen eigentümlichen Umstand, dass er nicht dargestellt und gezeigt werden wolle, aber auch nicht vorhabe, sich selbst den Gläubigen zu präsentieren, verdeutlicht der neugewählte Papst mit einer beispielhaften Illustration aus der Kulturgeschichte. Er fragt die Pressereferentin: „Der bedeutendste Autor?“ Sie antwortet, Philip Roth, was der Papst sofort zu Salinger korrigiert. „Der bedeutendste Filmregisseur?“ lautet die nächste Frage. Spielberg, sagt sie. Nein Kubrick, sagt der Papst. „Der bedeutendste zeitgenössische Künstler?“ Sie lässt es sich offen Jeff Koons oder Marina Abramovic, doch es ist gemäß dem Unfehlbaren: Banksy. Die wichtigste elektronische Musikgruppe ist schließlich laut dem Papst Daft Punk. Was haben all die Genannten gemeinsam, bzw. kommt vielleicht eine bestimmte Facette des katholischen Fühlens zum Ausdruck, wenn man das Numinose und Geheimnisvolle zur Anwendung bringt, das diese Personen umrankt? Richtig, und so unterstreicht es auch der Papst: Keiner von ihnen hat sich öffentlich gezeigt. Kaum einer von ihnen hat sich fotografieren lassen.

Mit dieser ersten Stoßrichtung will Lenny Belardo die erste Homilie ankündigen lassen. Der Verweis auf die Kulturbeispiele ist also auch eine Antizipation des ausgesprochen sonderbaren Inhalts der ersten Papst-Rede, des donnernden Befehls: Seht mich nicht an, in welchem dem katholischen Fühlen einerseits widersprochen wird, in dem es sich aber andererseits wie nirgends sonst in seiner traditionalistischen Dimension ausdrückt: Die Hierarchie hat nicht verfügbar zu sein. Der Papst ist bei seiner ersten Ansprache nachts über dem Petersplatz in Dunkelheit getaucht und darf nicht beleuchtet werden. Brutal rechnet er den Gläubigen vor, dass sie Gott vergessen haben. Dass sich hinter diesem arrogant-souveränen Gestus in Wahrheit auch größte Unsicherheit, ja Unfähigkeit verbirgt, bekommen nur die Zuschauer*innen in privaten Einblicken mit: Hier empfindet das katholische Fühlen mit dem Oberhaupt der Kirche mit und sieht hinter den sonst verbergenden Schleier: Papst Pius ist zu Besuch bei Kardinal Spencer, seinem erzkonservativen Mentor, der allerdings mit seinem Schützling Lenny nichts mehr zu tun haben will. Lenny habe durch die Wahl zum Papst Spencers Leben zerstört, der sich als sicher geglaubter Kandidat gesehen hat. Trotzdem bittet Lenny ihn bei diesem Besuch, ihm anlässlich seiner ersten öffentlichen Rede doch zu helfen: „Schreib die Rede mit mir; ich schaffe es allein nicht.“

Mit dieser vor Spencer seltsamen Offenheit zieht The Young Pope wieder eine bereits hier bekannte Ambivalenz ein. Wie ist es wirklich? Ist die scheinbar eindeutige Haltung von Pius XIII. gebrochen? Stand überhaupt schon fest, dass er sich der Menge auf dem Petersplatz nicht zeigen möchte und ist dies also nur eine Ausflucht, weil er zu einer Rede nicht fähig ist? Oder ist er überzeugter als es anlässlich des Eingeständnisses seiner Unfähigkeit wirkt und testet er in Wahrheit nur Spencers Bereitschaft? Ein anderer, ausgesprochen seltsamer Beschluss, in dessen Folge Pius XIII. sein Pontifikat offenbar mit einem Kreuzzug eröffnen möchte, zeigt sich im Gespräch mit dem Präfekten der Kongregation für den Klerus, den Pius XIII. zum Vieraugengespräch einbestellt hat.

Auf Nachfrage, wie er ihn finde, erklärt der Präfekt, Belardo sei ein Schüler von Kardinal Spencer, der im Ruf stehe, ein Konservativer zu sein, und auch der Papstname Pius biete Anlass zur Sorge. Er selbst sei nämlich kein Konservativer. Die Fragen, die Papst XIII. ihm im Anschluss stellt, sind eindeutig privater Natur, erstere steht sogar unter dem Schutz des Geheimnisses des Konklaves: Haben Sie im Kardinalskollegium für mich gestimmt? Sind Sie homosexuell? Die Antworten lauten nein und ja. Der Plan des Papstes wird in den nächsten Folgen der sein, die Homosexuellen aus der Leitungsebene der Kirche zu entfernen. Auch solcher, einer seltsamen Morallehre verpflichteter Aktionismus ist in seiner rigiden und kalten Eindeutigkeit Bestandteil der Serie.

Besonders zwei Punkte von Perniolas Studie zum katholischen Fühlen werden in der zweiten Folge der ersten Staffel adressiert: Ein Katholizismus ohne Orthodoxie und ein Glaube ohne Dogma. Zu beidem formuliert The Young Pope eigentlich einen Antagonismus und eine Provokation: Der gezeigte Katholizismus ist keineswegs ohne Orthodoxie-Bestrebungen, ja lebt eigentlich aus dem von Sorrentino bewusst gesetzten Spannungsverhältnis zwischen Orthodoxie-Bewahrung und deren Zerbrechen; die tradierte Dogmatik, in deren Kontext Pius XIII. die Leitung der Kirche übernimmt, die er aber auch selbst setzt, ist ebenfalls ein unauflösbares Paradoxon. Erinnert sei nur an das Rauchverbot im Apostolischen Palast, das, wie ihm gesagt wird, Johannes Paul II. – also der Papst erlassen habe –, das Pius XIII. auch traditionsbewahrend unangetastet für alle gültig sein lässt, es aber durch einen Beschluss aufgrund seiner päpstlichen Würde nur für sich selbst aufhebt.

Das rituelle Fühlen und die Requisiten in The Young Pope

Nur kurz andeuten will ich noch das von Perniola beschriebene rituelle Fühlen, welches das katholische Fühlen insgesamt besonders auszeichne. In Abgrenzung zu protestantischen Vorwürfen gegenüber dem Katholischen heißt es: Hinter dieser Anschuldigung verberge sich eine tiefsitzende Verständnislosigkeit gegenüber dem katholischen Fühlen, das rituell und keineswegs subjektiv noch idiologisch sei. (66) Dazu finden sich in der Serie The Young Pope alle möglichen Szenen, die auf rituellen Formationen gründen, rituelle Ornamentik, Zeremoniell oder die heilige Messe selbst visualisieren.

Perniola schreibt: „Was heißt aber nun rituelles Fühlen? Auf den ersten Blick scheint der Ausdruck ein Oxymoron zu sein, also eine Verbindung aus zwei untereinander vermutlich gegensätzlichen Begriffen. So wird vom Fühlen in geläufiger Auffassung angenommen, es sei wesentlich subjektiv, spontan, unmittelbar und unformalistisch, während dem Ritus die Kennzeichen von Formalität, Konventionalität, Stereotypie und Strenge zugesprochen werden. Der in dieser Untersuchung vertretene Standpunkt stellt diese geläufige Sichtweise auf den Kopf, die sich an einem fest in der Moderne verwurzelten antirituellen Vorurteils [sic] nährt, das allem Spirituellen gegenüber dem Körperlichen, allem Inneren gegenüber dem Äußeren, dem Leben gegenüber der Form, der Absicht gegenüber dem Tätigsein den Vorrang gibt. Auf diesem Vorurteil beruht größtenteils der ‚antirömische Komplex‘, also die Kritik am Katholizismus, die ihm Mangel an Wahrhaftigkeit, Redlichkeit und Authentizität vorwirft.“ (66)

Das katholische Fühlen aber macht den Katholizismus sehr wahrhaft, redlich und authentisch und verschränkt untrennbar die scheinbar paradoxen Pole. Trotzdem werden die dem rituellen Fühlen verwandten Werkzeuge in The Young Pope oft zu überholten Requisiten… Nach Wiedererwerb der Tiara, der päpstlichen Krone, lässt sich der Papst auf der Sedia gestatoria in den Empfangssaal tragen und hat auch die seine Würde betonenden Pfauenwedel wieder zum Einsatz gebracht. Im Umkehrschluss von den liturgisch traditionalistischen Essays von Martin Mosebach gesprochen „Häresie der Formhaftigkeit“: Wie ein Relikt aus der Kostümkiste ragen die überkommenen Statussymbole als bedeutungstragende Zeichen in unsere Interpretation und verwirren das rituelle katholische Fühlen.

Katholische Visionen

Im weiteren Verlauf der Handlung, also als katholische Vision, wie es mit der vatikanischen Welt weitergeht, kommt in der zweiten Staffel, als Papst Pius XIII. in ein mysteriöses Koma gefallen ist, nach der kurzen, durch einen plötzlichen Unfalltod beendeten Amtszeit von Franziskus II. ein neuer Papst an die Macht: der enigmatische englische Adlige Johannes Paul III. (John Malokovich). Auch in dieser Welt gibt es also zwei Päpste nebeneinander, die ja seit der Ausgestaltung von Anthony McCarten, schon ein deutlicher Verweis auf den 2023 verstorbenen emeritierten Papst Benedikt XVI. sind und den amtierenden Papst Franziskus I., wie überhaupt das Namensspiel der Päpste bei Sorrentino über und über bedeutungstragend ist.

Die Zukunft der katholizismusaffinen Kunst ist aufgrund der Serie The Young Pope und dem Sequel The New Pope gesichert. Auch Perniola sieht den Erhalt des katholischen Fühlens über „ideologische[ ] Sintfluten“ hinweg durch Künstler gewährleistet. „Daraus ist die widersprüchliche Situation entstanden, dass sich das katholische Fühlen außerhalb und unabhängig von der katholischen Kirche fortentwickelt hat, während die Kirche selbst als Reaktion auf das von Aufklärung und Positivismus geschaffene, kulturell allgemein feindliche Klima stattdessen gezwungen war, sich in einen erstickenden dogmatischen und ideologischen Panzer zu verschießen.“ (143) Diesbezüglich bedient Sorrentinos Serie ein bekanntes Modell „zwischen religiöser und ästhetischer Erfahrung“: das Numinose (144), das Perniola unter dem katholischen Fühlen subsumiert. „Das Wunder, das ‚mysterium tremendum‘, der ‚absolut andere‘ Charakter Gottes im Alten Testament stellen die Voraussetzung her, in die sich die ästhetische Erfahrung des Erhabenen aufpfropft, verstanden als das Gefühl des eigenen Nichts angesichts der Übermacht und der Kraft der Natur.“ (145)

Die faszinierende Wucht der Themenfülle und der unauflösbaren Komplexität der Motivverzahnungen in The Young Pope sind Beleg für dieses katholische Numinose. Boris Klemkow schreibt in einem Aufsatz, veröffentlicht im Release der Blu-ray-Box als Resümee der filmischen Leistung dieser Serie: „Neben seinem Stamm-Director-of-Photography Luca Bigazzi, dessen Kameraarbeit sowohl zur Bebilderung eines Lehrbuchs für Bildgestaltung und Kameraführung taugt als auch in einem Kunstmuseum ausgestellt werden könnte, haben der maßgeschneiderte, mit klassischen wie aktuellen Songs angereicherte Soundtrack von Lele Marchitelli und die gleichermaßen elegante wie pointierte Montage von Christiano Travaglioli ihren Anteil daran, dass THE YOUNG POPE zu einer verführerischen, sinnlichen Erfahrung im Sinne von Prof. Dr. Marcus Stigleggers Seduktionstheorie geworden ist.“

Ob Seduktion, ob Faszinationserhöhung durch rätselhafte Deutungsstrukturen, ob Präsenzerzeugung, ob Anschluss an das katholische Fühlen, das auch außerhalb der katholischen Kirche möglich ist, wird The Young Pope zu einem eigenen Großkapitel in der katholischen Literatur- und Mediengeschichte des 21. Jahrhunderts. Um zuletzt noch einmal an dieses katholische Betrachtungsverbot anzuschließen, dieses Noli me videre, dieses „Blicke mich nicht an! Ich bin der Papst!“: In seinem Essay Die Lichter des Toren schreibt der Schriftsteller Botho Strauß: „ἀποκαλύπτω – ich enthülle, entblöße, nicht ohne Anklang von ‚schamlos‘. Dagegen besteht aus ‚Ich zeige mich nicht‘ das erste und letzte Geweb der Religion. Die Schrecken der Entblößung sind die Sensationen, die die Zweifler und Ungläubigen anziehen.“ Also ergänzen wir mit Lenny Belardo, Papst Pius XIII., dass wir für die Verhüllung sind und das Geweb der Religion unangetastet lassen, weil es für das katholische Fühlen unsichtbar bleiben möchte.

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