I.
Die Gruppe 47 hat es nie gegeben. Die Gruppe 47 übte eine kulturelle Hegemonie in der Bonner Republik aus.
Was stimmt? Kann beides zutreffen? Oder ist vielleicht beides falsch?
Einige Fakten stehen fest. Die Gruppe 47 tagte am 6. und 7. September 1947 am Bannwaldsee ganz in der Nähe von Füssen zum ersten Mal. Sechzehn Personen trafen sich dort im Haus der Lyrikerin und Essayistin Ilse Schneider Lengyel. Eingeladen zu diesem ersten Treffen hatte Hans Werner Richter. Niemand nahm damals an, dass es der Auftakt zu einer regelmäßigen Zusammenkunft sein würde. Sie hielt ziemlich genau zwanzig Jahre an. Das offiziell letzte Treffen fand 1967 in der Pulvermühle bei Erlangen statt.
Hans Werner Richter gab bis zum Frühjahr 1947 gemeinsam mit Alfred Andersch die Zeitschrift Der Ruf heraus. Sie richtete sich insbesondere an die junge Generation. In einem neuen, frischen, unkonventionellen Ton ohne politische Scheuklappen und Erfüllungsängste gegenüber den Siegermächten fand sie von der ersten Ausgabe an, einen breiten Widerhall. Ihre Auflage verdoppelte sich binnen kurzem. Doch Andersch und Richter scheiterten mit ihrem politischen Kurs an der amerikanischen Besatzungsmacht, die ihre politischen Interessen durch die forschen Thesen des Blattes in Frage gestellt sahen.
Richter suchte deshalb nach Möglichkeiten, seine Vorstellungen für einen geistigen Wiederaufbau Deutschlands auf andere Weise zu realisieren und den Kontakt zu seinen Mitstreitern aufrecht zu erhalten. Insbesondere ging es ihm dabei um die damals weitgehend noch namenlosen Schriftsteller Walter Kolbenhoff, Günter Eich, Wolfdietrich Schnurre, Alfred Andersch und eben die Lyrikerin Ilse Schneider-Lengyel. Sein Ziel war es, Gleichgesonnene zusammenzubringen, und sie aus bisher unveröffentlichten Arbeiten lesen und gemeinsam diskutieren zu lassen.
Walter Kolbenhoff berichtete später über das erste Treffen: „Im Bannwaldsee angekommen, sahen wir das Haus, in dem wir alle schlafen sollten: ein einsam am See gelegenes kleines Haus. Wie wir die Nacht verbracht haben, weiß ich nicht, die meisten schliefen auf dem Boden, Richter als Häuptling natürlich kriegte ein Bett, aber wir schliefen auf´m Boden. Dann kam das zweite Problem: Schlecht ausgeschlafen, hungrig, immer noch müde, wollten wir frühstücken. Was? Da hatte Frau Schneider-Lengyel für gesorgt, die war schon um vier Uhr aufgestanden, auf´n See rausgerudert und hatte Hechte und Barsche, und ich weiß nicht, wie die Fische heißen, gefangen. Die wurden gebraten, dann aßen wir jeder einen Fisch, das war das erste Frühstück der Gruppe 47.“
Eine hübsche Geschichte – wollen wir sie glauben?
Danach folgten viele weitere Treffen. Zunächst zweimal im Jahr. Ab 1957 nur noch einmal. Die Gruppe wuchs. Ein kleiner Kreis blieb ihr bis zum Schluss treu. Neue Gesichter kamen hinzu. Nicht nur Schriftsteller, sondern zunehmend auch Literaturkritiker wie Joachim Kaiser, Marcel Reich-Ranicki oder Fritz J. Raddatz. Manches Mal waren auch Verleger, das Fernsehen oder der Rundfunk zugegen. Einige Autoren wie Günter Grass oder Heinrich Böll, Martin Walser oder Hans Magnus Enzensberger starteten als Nobodys und machten in den fünfziger und sechziger Jahren eine Literaturkarriere. Anderen widerfuhr dieses Glück nicht. So war den Mitgliedern der Gruppe Missgunst und Neid nicht fremd.
Hans Werner Richter sprach von einer verlogenen Gesellschaft, die sich trotzdem immer wieder freundschaftlich zusammenfand. Schmeicheleien seien stets willkommen gewesen und halfen über Misserfolge und die immer deutlicher hervortretenden Spannungen hinweg. Sie entzündeten sich vor allem an zwei Konfliktfeldern: an der Entwicklung des einstigen literarischen Begegnungsforums zu einer kommerziellen Massenveranstaltung, sowie an dem Einzug des Politischen mit dem sich abzeichnenden Ende der Nachkriegsgesellschaft. Zu einem Bruch kam es schließlich 1966 in Princeton über den Vietnamkrieg der USA.
Aber schon zuvor hatten sich mit dem wachsenden Ruhm einzelner Autoren bedenkliche Risse im „Etablissement der Schmetterlinge“ aufgetan, wie der Spiritus rector der Gruppe, Hans Werner Richter, ebenso vieldeutig wie eindeutig seine einundzwanzig Portraits ausgewählter Gruppenmitglieder betitelte. Mit dem Ruhm einzelner wuchs der moralische Anspruch aus der Gruppe herauszutreten und laut „Ich“ zu sagen. Mit der Dauer ihres Bestehens ließ sich die Gruppe 47 immer weniger auf einen Begriff bringen. Bis heute sind alle Versuche dieser Art zum Scheitern verurteilt. Dennoch hatte sie einen Markenkern. Ich sehe ihn in seinem literarischen und kulturpolitischen Selbstverständnis, in seinem Deutschlandbild und der elitären Rolle der Intellektuellen in der Bonner Republik.
Die letzte offizielle Tagung der Gruppe 47 fand vom 5. bis zum 8. Oktober 1967 in der Nähe von Erlangen im Gasthof Pulvermühle statt. An ihr nahmen nicht sechzehn Personen, sondern weit über hundert teil. Unter ihnen befanden sich nicht mehr wie zu Beginn am Bannwaldsee nur Schriftsteller, sondern auch Literaturkritiker und Verleger, Leute vom Fernsehen und von den Rundfunk-Anstalten. Auch gab es zum Frühstück keine frischen Fische. Die Gruppe 47 war längst zu einem kulturellen Markenartikel der Bonner Republik mit einer erheblichen Ausstrahlung auf die Politik geworden. Ihr kam kein literarischer Alleinvertretungsanspruch der westdeutschen Literatur zu, aber eine Hegemonie ging von ihr aus. Wer nicht dazu gehörte, hatte es schwer. Wer dazu gehörte, dem wurden Brücken gebaut.
Das Zufällige der ersten Begegnung war einer strategischen Planung gewichen, bei der es nicht mehr um das leibliche Wohl, sondern um den Erfolg im Literaturbetrieb ging. Die Gruppe 47 genoss das Wirtschaftswunder und die Vorzüge der Sozialen Marktwirtschaft auch wenn viele unter ihren Mitliedern diese Erfolge kleinredeten und nicht als Leistungen des von ihnen so genannten CDU/CSU Staates anerkennen wollten. Dennoch hatte längst das Denken in Profit und Erfolg die Gruppe ebenso erfasst wie einen Großteil der Republik.
Kommerzialisierung und Marktgetöse standen dem ursprünglichen Gedanken eines intimen Zusammentreffens literarischer Freunde, die ein gemeinsamer kritischer Blick auf die Nachkriegszeit einte, bereits seit längerem entgegen. 1967 kam hinzu, dass sich die außerparlamentarische Opposition seit Bildung der Großen Koalition formierte und einige ihrer Vertreter lautstark an die Türen der Pulvermühle klopften und Einlass begehrten, der ihnen aber verwehrt wurde. Diejenigen, die so sehr die Bedeutung der Kommunikation für das Gelingen der Nachkriegsdemokratie in den Mittelpunkt ihres Selbstverständnisses gestellt hatten, verweigerten das Gespräch.
Der außergewöhnliche literarische Erfolg einzelner Mitglieder der Gruppe 47, ihre Selbstinitiierung in und außerhalb der Gruppe, die Jagd um das goldene Kalb und massive interne Konflikte um den Vietnam Krieg, die Apo und die Große Koalition zersetzten den Geist der Gruppe, der sie bis tief in die fünfziger Jahre hinein innerlich zusammengehalten hatte. Die Tagung in der Pulvermühle sollte die letzte sein, obwohl Hans Werner Richter sie in dem Bewusstsein beendete, dass es ihm einmal mehr gelungen sei, seine „Schmetterlinge“ zusammenzuführen. Er plante eine Fortsetzung 1968 in Prag, zu der es aber nicht mehr kommen sollte, weil Truppen aus dem Warschauer Pakt das Land besetzten und den Reformkurs von Alexander Dubcek erstickten.
Aber auch unabhängig davon lag das Ende der Gruppe 47 in der Luft. Und dieses Finale wurde von einflussreichen Mitgliedern selbst wie Heinrich Böll, Martin Walser, Peter Handke, dem neuen Star des deutschen Theaters, Walter Jens und dem vieldeutigen Literaturkritiker Joachim Kaiser, der von einer „Götter- oder Götzendämmerung“ sprach, mehr oder weniger unverhohlen eingefordert. Doch blieb die Gruppe 47 nach ihrer letzten Tagung in der Pulvermühle ohne Einfluss?
Nein, sowie ihre Geschichte schon vor dem ersten Zusammentreffen begann, so wenig endete sie mit dem letzten.
II.
Blicken wir kurz auf die Frühgeschichte der Gruppe 47 zurück. Wofür traten Hans Werner Richter und Alfred Andersch ein? Welche politischen Vorstellungen vertraten sie? Welche Visionen bestimmte ihr Denken und welche Relevanz hatten sie für die Bonner Republik?
Hans Werner Richter und Alfred Andersch äußerten ihr politisches Credo in zahlreichen Beiträgen im Ruf. Daran hielten sie auch in den folgenden Jahren im Wesentlichen fest. Wie die Mehrzahl der Linksintellektuellen forderten sie einen radikalen Neuanfang. Sie sprachen von einer Stunde Null und träumten von einer Synthese von Geist und Macht. Den Intellektuellen, insbesondere den Schriftstellern, wiesen sie die Aufgabe zu, das neue Deutschland moralisch, geistig und politisch mitzugestalten.
Sie gründeten ihre Hoffnungen auf ein sozialistisches Europa und ein Deutschland, das in der Mitte Europas eine Brückenfunktion zwischen Ost und West, folglich zwischen Kapitalismus und Sozialismus, einnehmen sollte. Dieses Deutschland sollte demokratische Republik sein. Wie diese Republik im inneren gestaltet werden sollte, ließen sie offen. Auf Grund der Weimarer Erfahrungen lehnten sie einen neuen Parteienstaat ab. Hans Werner Richter schrieb im Ruf 1947: „Das alte Europa muss sterben, damit ein neues gebaut werden kann. Dieses Europa aber wird sozialistisch sein oder es wird nicht sein.“
Sehen wir einmal über die Anmutung dieser Aussage eines deutschen Publizisten in den ersten Nachkriegsjahren hinweg, der Europa meint darüber aufklären zu müssen, wo es in Zukunft langgeht, so bleibt festzuhalten, dass er jedwede politische Entwicklung, die diesem Anspruch nicht gerecht werden würde, zwangsläufig in eine geschichtliche Unheilsperspektive einmünden sah. Richter erblickte in der politischen Entwicklung des Nachkriegsdeutschlands eine Bestätigung für das Scheitern vergangener Revolutionen. Stets seien begonnene Revolutionen in der Konterrevolution erstickt worden: 1517, 1848 und 1918. Dies solle nun um jeden Preis verhindert werden, damit nicht abermals die alten Verhältnisse mit „geringfügigen Änderungen erhalten und wiederhergestellt“ würden.
Richter war in der Weimarer Republik Mitglied der KPD, bis er 1932 ausgeschlossen wurde. Doch der Revolutionsbegriff blieb in seinem Wortschatz stets positiv besetzt. Noch 1968 sprach er von den Tugenden der beiden großen Revolutionen, der französischen wie der russischen und er fügte an: „Ohne sie gibt es keine neue Gesellschaft. Ich meine die wirklichen Tugenden, nicht die verkrusteten, die falschen, die vermeintlichen, die verfälschten“.
Doch 1968 stand er nicht auf der Seite der APO, er träumte von einer sozialistischen Revolution gegen den Bolschewismus in den von der Sowjetunion beherrschten Staaten. Er hoffte auf eine demokratische Reform des Kommunismus. Richter verfolgte wie sein Mitherausgeber des Ruf einen antitotalitären Kurs. Doch dieser führte ihn bis zu Beginn der sechziger Jahre zu einer nonkonformistischen Grundhaltung gegenüber der noch jungen Bonner Republik. In der Ära Adenauer erblickte er wie viele andere Linksintellektuelle das Übel der Restauration.
Er beschwor die Gefahr von 1933 und hörte die Nazis erneut an die Tür der Macht klopfen. Diese geistig-politische Grundhaltung prägte die Mitglieder der Gruppe 47. Richter wählte sie nicht primär nach ihren literarischen und poetischen Leistungen aus, sondern danach, ob sie dem Chorgeist gerecht würden. In seinem Tagebuch sprach er etwas verschwommen von einer „weitgespannten Gleichgestimmtheit der politischen Mentalitäten“. „Diese Mentalität hat sich ergeben, weil ich bei meinen Einladungen nicht nur von dem literarischen Können des Einzuladenden ausging, sondern auch von der politischen Haltung.“
Da Richter mit der Gruppe 47 einen radikalen Neuanfang politisch und literarisch anstrebte, suchte er die Mitglieder danach aus, ob sie sein sozialistisches Weltbild teilten. Das Scheitern ihres politischen Ansatzes im Zuge der wachsenden Antagonismen zwischen den Siegermächten insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion veranlasste die Gründer der Gruppe nicht ihre politischen Visionen zu überdenken. Sie propagierten weiterhin den Sieg des Sozialismus in Europa unabhängig davon, wie realistisch ihre politischen Träume waren. Die Erfahrung ihrer Niederlage mit dem Rausschmiss als Herausgeber des Ruf veränderte ihre Grundeinstellungen nicht. Allerdings verlagerten sie ihre Schwerpunkte von der Politik zur Literatur.
Sie setzten auf das Prinzip des verzögerten verdeckten Einflusses. Richter schilderte dies 1966 in seinem Tagebuch unverblümt: Die Einflussnahmen der Gruppe „sind so weit verzweigt, dass sie in ihrem ganzen Umfang erst sehr viel später erkennbar sein werden. Das Prinzip des indirekten Einflusses: man lässt Texte lesen, man lässt sie kritisieren. Es ist unwichtig, ob Texte etwas besser oder schlechter sind, ob die Kritik brillant oder nicht brillant ist, es entsteht, so oder so, Kommunikation, es entsteht, setzt man dies Jahr für Jahr fort, ein literarisches Zentrum, ein literarischer Mittelpunkt, es entsteht das, was ich den indirekten Einfluss nenne. Er muss sich – in einer demokratischen Gesellschaft auch politisch auswirken. Dieser Einfluss ist unmerklich, kaum wahrnehmbar. Dennoch bewirkt er mehr als alle Programme, alle Manifeste, mehr als jeder Versuch, unmittelbar Einfluss zu nehmen.“ Doch bei diesem Verzicht unmittelbar Einfluss zu nehmen, blieb es nicht, wie noch zu zeigen sein wird. Richters Strategie ging in vollem Umfange auf.
III.
Zu den Merkwürdigkeiten der Mitglieder der Gruppe 47 zählte von der ersten Stunde an, dass ihre Biographien im „Dritten Reich“ keine nennenswerte Rolle spielten. Es steht außer Zweifel, dass sie alle für einen demokratischen Neuanfang eintraten. Wer tat das in den ersten Nachkriegsjahren und später in der Bonner Republik nicht, wenn er ernst genommen werden wollte. Doch verwundert es bis heute, wie geflissentlich die Frage: wie hieltst du es mit dem Nationalsozialismus, welche Rolle spieltest du im „Dritten Reich“? ausgeblendet wurde. Die Gruppe 47 verhielt sich diesbezüglich ebenso wie die breite Mehrheit der Nachkriegsgesellschaft.
Dabei waren nicht nur ihre Gründungsmitglieder, wie wir heute wissen, durchaus in das „Dritte Reich“ verstrickt. Dies gilt insbesondere für Günter Eich, der ca. 150 Hörspiele schrieb und mit dem Propaganda-Stück Die Rebellion in der Großstadt zum billigen Werkzeug Göbbels wurde. Es gilt aber auch für andere. Auf die erst durch seine Biografie Beim Häuten der Zwiebel 2006 bekannt gewordenen Enthüllungen von Günter Grass soll hier nicht näher eingegangen werden.
Mit Ausnahme von Eich kann nicht von gravierenden Grenzüberschreitungen gesprochen werden. Gemessen an anderen der Bonner Republik hatten die Gründungsmitglieder nicht schwer auf ihren Schultern zu tragen. Dennoch stellt sich die Frage, ob es berechtig war, dass diese Männer der ersten Stunde sich zu Recht als Opfer des „Dritten Reiches“ verstanden. Natürlich ist es nachvollziehbar, dass sie sich von der nationalsozialistischen Diktatur um entscheidende Jahre ihres Lebens betrogen sahen und von dem Wunsch nach einem Neuanfang beseelt waren. Sie kämpften für eine bessere Zukunft, für eine Zukunft in Freiheit. Aber diese wollten sie nicht durch eine offensive Aufarbeitung der nationalsozialistischen Diktatur sicherstellen.
Dies führte dazu, dass in den Werken der Autoren der Gruppe 47 die Verbrechen der deutschen Wehrmacht, die Vernichtung der Juden und anderer Opfer des Holocaust, selbst die kritische Hinterfragung eigenen Verhaltens ausgeblendet wurde. Erst 1959 mit dem Erscheinen von Günter Grass‘ Blechtrommel setzte eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus ein. Heinz Ludwig Arnold hob noch im Almanach der Gruppe 47 aus dem Jahr 1962 hervor, dass die Worte „Hitler, KZ, Atombombe, SS, Nazi, Sibirien und die ihnen anverwandten Themen nicht vorkämen. Fritz Raddatz, selbst Mitglied der Gruppe, bezeichnete dies in seinem Vorwort als ein erschreckendes Phänomen“.
Dessen ungeachtet zögerte die Gruppe 47 nicht, die Ära Adenauer als restaurativ zu bezichtigen und ihr damit einen negativen Stempel aufzudrücken, der bis heute fortwirkt. Noch in seiner Büchner-Preis-Rede 1959 stieß der erste Preisträger der Gruppe, Günter Eich, in dieses Horn. Er rief zum Widerstand gegen die Bonner Republik auf und bezichtigte diejenigen, die dies nicht täten, „das Schlachthaus mit Geranien“ zu schmücken.
Nun ist nicht zu leugnen, dass in der Ära Adenauer brauner Sumpf fortlebte. Er ist bis heute, wenn wir an die Parlamente, Ministerien in Bund und Länder denken, nicht vollständig trockengelegt. Adenauer hat viel zu lange an seinem Staatssekretär Hans Globke festgehalten und sich damit anfechtbar gemacht.
Aber richtig ist auch, dass die Gruppe 47 in den fünfziger Jahren keine Aufgabe darin sah, sich mit der Vergangenheit ihrer Mitglieder im Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Während sie in vielerlei Hinsicht durch ihren grundlegenden Nonkonformismus, ihre zähe Widerständigkeit, ihre Kritik am Parteienstaat und am aufkommenden Kapitalismus zu einer wichtigen Stimme demokratischer Kultur wurde, ging von ihr als Gruppe keine nennenswerten Impulse der Aufarbeitung nationalsozialistischer Verbrechen aus. Mit der Fixierung auf den die Stunde Null und der Forderung eines radikalen Neuanfangs, der in der Kahlschlag-Literatur seine poetische Ausdrucksform fand, offenbarte sich bewusst oder unbewusst so etwas, was Frank Trommler eine nachgeholte Résistance bezeichnete.
IV.
Bemerkenswert für die Bonner Republik erscheint auch das Verhältnis der Gruppe 47 zum Exil, hier insbesondere ihres Spiritus rector, zu den Exilautoren. Die breite Mehrzahl dieser Schriftsteller und Intellektuellen waren oft unter dramatischen Umständen aus dem „Dritten Reich“ geflohen. Sie setzten damit ein Zeichen gegen die Nazi-Diktatur. Für den Wiederaufbau eines demokratischen Deutschlands schienen sie deshalb in besonderer Weise berufen, da sie das anständige Deutschland verkörperten und weitgehend als unbelastet galten. Als Thomas Mann an Bord der Queen Mary im Februar 1938 New York erreichte, zitierte ihn die New York Times mit den Worten: „Where I am, there ist Germany. I carry my Culture in me.“ Er distanzierte sich damit unverhohlen von Hitler Deutschland, dass sich kurz zuvor Österreich bemächtigt hatte.
Trotz dieses moralischen Anspruchs der Exilschriftsteller regte sich unter den Mitgliedern der Gruppe 47 keine Stimme, die darauf drängte, deren Renommee zu nutzen und sie in die Gruppe 47 einzubeziehen. Richter kanzelte sie ab und warf ihnen vor, dass ihre „konservierte Literatur der zwanziger Jahre“ und ihr überkommener Stil einer anderen Zeit angehörten. Sie sei also für den notwendigen radikalen Neuanfang nicht förderlich. Offenkundig bewertete Richter den „Chorgeist der Gruppe“ höher als das literarische Potential und die Haltung zur Diktatur.
Zwar wurde der eine oder andere Emigrant zu einer Lesung eingeladen, doch die Begegnung scheiterte meistens kläglich wie im Fall von Paul Celan. Richter fühlte sich bei seinem Vortrag an die Stimme Joseph Goebbels erinnert. Häufig scheiterte eine Einladung aber schon im Vorfeld. Hilde Domin bescheinigte er eine begabte Lyrikerin zu sein, fand aber ihr Wesen unerträglich. Die breite Mehrzahl der Exilautoren passte offenkundig nicht in das „Etablissement der Schmetterlinge“, manches Mal wohl auch, weil sie selbst bereits welche waren.
Wen wunderte es da, dass sich die Exilautoren überaus abfällig über die Gruppe 47 äußerten. Thomas Mann nannte sie eine Rasselbande und befürchtete, dass Millionen dieses Schlages sich alsbald „mit hochstehender Währung reich versehen, reisend über die Welt ergießen und überall ihre dreiste Schnauze hören lassen“ werden.
Fassen wir zusammen, bevor wir zum Paradigmenwechsel der Gruppe kommen. Die Gruppe 47 übte sich im Widerstand zur Bonner Republik und verstand sich als Fundamentalopposition in der Ära Adenauer. Ihr war jedoch auch eine affirmative Grundhaltung eigen. In der Frage der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der Nazi-Diktatur und dem Mangel an Wertschätzung der aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrenden Intellektuellen erwies sie sich genauso zurückhaltend und Ressentiment gestört wie die breite Mehrheit der Gesellschaft und der Staat selbst. Als Sprachrohr der Kritik an dem bald allzu selbstgefälligen Sonnenplatz im Wirtschaftswunderland und der Zementierung der Macht des Unionsstaates in Bund und Ländern wirkte sie aufklärerisch und erhob eine die Öffentlichkeit durchdringende oppositionelle Stimme, die für die demokratische Entwicklung und die politische Kultur bedeutsam war.
Die Gruppe 47 und die Regierung Adenauer schrieben in den fünfziger Jahren eine Geschichte der vertanen Chancen: des Dialogs, der offenen politischen Kontroverse, aber auch der Übereinstimmung. Ein Dialog zwischen der Politik und den Autoren der Gruppe 47 fand nicht statt. Die Vorwürfe, die von Repräsentanten der Literatur erhoben wurden, verhallten im „Bonner Treibhaus“ (Wolfgang Koeppen) ohne nennenswertes Echo. So kam es dazu, dass der Restaurationsvorwurf die Ära Adenauer begleitete, wie „mißtönendes Möwenkrächzen die Fahrt eines großen Schiffes“. (H. P. Schwarz) Er hat die Politik nicht beeinflusst, aber er versetzte der sich entwickelnden demokratischen Kultur im Nachkriegsdeutschland einen schalen Beigeschmack. Die Mehrheit der Intellektuellen fand in der Ära Adenauer keine politische Heimat. Mangels Alternativen suchte sie sich in den sechziger und siebziger Jahren in der SPD und links davon.
V.
Zu Beginn der sechziger Jahre trat die Gruppe 47 aus ihrem selbstaufgelegten politischen Schattendasein heraus. Zuerst zögerlich, dann aber immer stärker bekannte sie sich zur Bonner Republik. Nicht zu den Mächtigen der Ära Adenauer und dem Unionsstaat, der in ihren Augen die Macht zementierte, einen demokratischen Wandel verhinderte, sich der Moderne verweigerte und eine bleierne Zeit heraufbeschworen hatte, die die Republik wie Mehltau überzog. Dieser lähme die demokratische Kultur und ersticke ihre Potentiale. Nach zwölf Jahren der Regierung Adenauer und einer weitgehenden Durchdringung der Gesellschaft in Bund und Ländern mit moralischen, gesellschafts-, sicherheits-, außen- und deutschlandpolitischen Vorstellungen der Unionsparteien erschien eine Suche nach Alternativen verständlich.
Diese eröffneten sich nach Lage der Dinge nicht außerhalb des politischen Systems. Denn schon damals wurde die erreichte politische Stabilität, der wirtschaftliche Aufschwung, die Integration der Vertrieben, die Rückkehr in die internationale Staatengemeinschaft als Markenkern der jungen Bonner Republik empfunden. Adenauer hatte darüber hinaus bei der Bundestagswahl 1957 die absolute Mehrheit errungen. Deshalb suchte die Gruppe 47 nunmehr nach Alternativen innerhalb des ungeliebten Parteienstaates. Das Godesberger Programm der SPD von 1959 erleichterte es den Linksintellektuellen nicht, den Paradigmenwechsel einzuleiten, da es an zentralen Punkten ideologisch abrüstete und sich Positionen der Union annäherte. Andererseits unterbreitete es ein Angebot an die Wähler, das der SPD langfristig die Chance eröffnen sollte, selbst regierungsfähig zu werden, was ja auch, wie wir heute wissen, gelang.
Den Aufschlag machte Wolfgang Weyrauch mit der Anthologie Ich lebe in der Bundesrepublik im Jahr 1960. Darin nahmen 16 Autoren zur politischen und geistigen Lage der Republik Stellung. Natürlich fanden sich darunter zahlreiche Autoren der Gruppe 47. Mit Wolfgang Koeppen zählte eine prominente Stimme dazu, der sich zwar in den zurückliegenden Jahren in seinen bedeutenden Romanen ganz im Geiste der Gruppe geäußert, aber sich stets geweigert hatte, ihr beizutreten. Die Autoren verband ein kritischer Blick auf die Nachkriegsjahre, wenngleich sie sich in der Form ihrer Stellungnahme und inhaltlichen Schärfe unterschieden.
Die Ablehnung der Adenauer‘schen Politik verband sie jedoch. Eine politische Alternative wurde noch nicht aufgezeigt. Jedoch ging von dieser Schrift das Signal aus, dass die Gruppe 47 fort an nicht nur mehr aus der literarischen Deckung heraus auf die Tagespolitik einwirken wollte, sondern aktiv in den politischen Entscheidungsprozess einzugreifen beabsichtigte. Die nur wenige Monate später erscheinende Schrift Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung gab bisherige parteipolitische Zurückhaltungen auf. Sie versuchte aktiv auf den Bundestagswahlkampf einzuwirken. Den Sammelband gab Martin Walser heraus. Angeregt wurde er von Hans Werner Richter, der die Fäden im Hintergrund zog aber als Spiritus rector der Gruppe nicht in den Vordergrund treten wollte.
Willy Brandt, der aufkommende Star der sechziger Jahre, freute sich darüber, dass Intellektuelle öffentlich für einen Regierungswechsel warben. Aber richtig glücklich machte ihn die Schrift nicht, weil die Sympathiebekundungen für die SPD doch recht flau ausfielen. Godesberg wirkte nach. Die Wahl ging für die SPD verloren. Adenauer blieb Kanzler, jedenfalls vorerst. Doch mit der Spiegel Affäre kündigte sich alsbald eine neue Gelegenheit der Gruppe 47 an, die Rolle als „Lorbeerbäume neben den Rednerpulten“ (Walser) zu verlassen und entschieden und machtvoll in die Politik einzugreifen.
VI.
Im Oktober 1962 erschütterte die Spiegel-Affäre die Republik. Noch bevor der erhobene Vorwurf des Landesverrats und das rigorose Vorgehen der Staatsorgane geklärt waren, bekundeten namhafte Schriftsteller der Gruppe 47 ihre Solidarität mit der Spiegel Redaktion und mit Rudolf Augstein. Sie taten es in dem Bewusstsein, die Republik verteidigen zu müssen. Sie sahen sie am Abgrund und fürchteten den Rückfall in einen patriarchalischen, wenn nicht postfaschistischen Staat. Als Wurzel aller Übel machten sie Verteidigungsminister Franz Joseph Strauß aus, dessen Rücktritt sie forderten.
Sie legitimierten die Vorgehensweise des Spiegel damit, dass in einer Zeit, wo der Krieg als Mittel der Politik unbrauchbar geworden sei, die Preisgabe militärischer Geheimnisse zu einer sittlichen Pflicht zähle. Mit dieser Formulierung vermittelten sie den Eindruck, als handele es sich bei Landesverrat um einen Kavaliersdelikt. Aber bei den jüngeren Mitgliedern, die in den vorangegangenen Jahren in Scharen Aufnahme in die Gruppe gefunden hatten, regte sich Widerspruch. Dieter Wellershoff kritisierte, dass die Vorgehensweise der Gruppe dazu führe, ihr öffentliches Ansehen zu verspielen. Die Vorwürfe von prominenter konservativer Seite gipfelten darin, dass sich die Gruppe der Anstiftung des Staatsgeheimnisverrats schuldig gemacht habe.
Selbst Siegfried Unseld, der die Resolution mitunterzeichnet hatte, räumte ein, dass das Ganze nicht durchdacht gewesen sei und man sich selbst ausmanövriert habe. Damit ging ein Riss durch die Gruppe 47, deren Autoren zum Kernbereich der Suhrkamp–Kultur gehörten. Das politische Engagement für einen Regierungswechsel erlahmte aber damit nicht. Es setzte sich mit der Schrift Plädoyer für eine neue Regierung im Jahr 1965 fort, die dieses Mal Richter selbst herausgab.
Die Gruppe 47 hatte ihre politische Unschuld damit endgültig verloren. Sie geriet immer stärker in die tagespolitische Auseinandersetzung. Mit der Neuaufnahme vieler junger Schriftsteller zu Beginn der sechziger Jahre veränderte sich der Gründungsgeist der Gruppe. Der alte Chorgeist ging mehr und mehr verloren, die parteipolitische Positionierung strapazierte alte Freundschaften, die Generationsgegensätze drückten sich in der Literatur ebenso aus, wie in den politischen Grundüberzeugungen der Gruppenmitglieder. Zu einem offenen Konflikt kam es während der Tagung in Princeton. Peter Handke gerade einmal 24 Jahre alt und damit nicht einmal halb so alt wie Richter, übte in seinem Vortrag radikale Sprachkritik, die als Publikumsbeschimpfung verstanden wurde. So hieß denn auch sein Theaterstück, dass wenig später Claus Peymann inszenierte.
Die politischen Konflikte verschärften sich in der Auseinandersetzung mit der APO. 1967, als die letzte offizielle Tagung in der Pulvermühle stattfand, erklärte Hanns Magnus Enzensberger: „Das politische System in der Bundesrepublik läßt sich nicht mehr reparieren. Wir können ihm zustimmen, oder wir müssen es durch ein neues System ersetzen. Tertium non dabitur.“ Seinen Kollegen warf er politisches Versagen vor. Sie hätten es versäumt, politische Alternativen zu formulieren; nun täten es die Studenten. Die Gruppe 47 und Hans Werner Richter mussten sich fortan nicht nur der Kritik von rechts, sondern vermehrt auch von links stellen. Von dort wurde ihr vorgeworfen, mafiöse Strukturen zu fördern und zum Appendix der SPD degeneriert zu sein.
Selbst der rückblickend abwägende Biograph der Gruppe 47 Helmut Böttiger kam zu dem Schluss: „Die Gruppe 47 war zur herrschenden literarischen Klasse geworden.“ Die Angriffe auf die Gruppe 47 aus ihrer Mitte und von außen sprengten ihr Selbstverständnis und machten ihr Fortbestehen unmöglich. Die Zeit war über sie hinweggegangen. Aber ihre Wirkungsmacht war damit noch nicht gebrochen.