De-Globalisierung?

Ökonomische und ethische Herausforderungen veränderter Rahmenbedingungen für internationale Wirtschaftsbeziehungen

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Von der Globalisierung zur De-Globalisierung?

Nachdem die Weltwirtschaft jahrzehntelang durch einen permanenten Anstieg der globalen Vernetzung geprägt war, hat dieser Trend in jüngster Zeit einen Wandel erfahren (siehe Grafik). So ist beispielsweise das Volumen des Welthandels in Relation zur Wirtschaftsleistung seit der globalen Finanzsystemkrise ab 2007 nicht mehr gestiegen, und für die letzten Jahre lässt sich sogar ein Rückgang feststellen, wobei das Handelsvolumen, absolut betrachtet, jedoch weiterhin wächst (Felbermayr/Wolff 2023). Die seit der zweiten Hälfte der 2010er Jahre erkennbare Trendumkehr stand zunächst primär im Zusammenhang mit Handelskonflikten zwischen großen Staaten bzw. Wirtschaftsräumen, wie insbesondere zwischen den USA und China bzw. zwischen den USA und der EU (Garcia-Herrero 2022).

Diesem Wandel vorangegangen war bis zur Jahrtausendwende eine Epoche der Fortschrittseuphorie, und viele Menschen hatten sich von der Integration ehemaliger Planwirtschaften in die Weltwirtschaft zugleich eine politische Liberalisierung der jeweiligen Länder versprochen. Francis Fukuyama (1992) hatte sogar das „Ende der Geschichte“ ausgerufen, das er mit dem weltweiten Siegeszug des Erfolgsmodells Demokratie/Marktwirtschaft verband. Unzweifelhaft bot die Globalisierung für hunderte Millionen Menschen weltweit, insbesondere in Asien, einen Weg aus der Armut.

Als Kehrseite der Globalisierung hatte sich schon bald die zunehmende Macht transnationaler Konzerne erwiesen, die sich durch die Verlagerung von Produktionsstandorten der nationalen Steuer- und Sozialpolitik sowie staatlicher Regulierung erfolgreich entziehen konnten. An die Stelle staatlich gesetzter Rahmenbedingungen war ein Standortwettbewerb um die Gunst des global mobilen Kapitals getreten, verbunden mit einer zunehmenden Einkommensspreizung und dem Abbau sozialstaatlicher Leistungen in entwickelten Volkswirtschaften.

Gleichzeitig schufen die nunmehr unverkennbaren globalen Abhängigkeiten eine wachsende Sensibilität für ethische Probleme, wie Korruption und prekäre Arbeitsbedingungen in Entwicklungsländern, sowie für die Bedeutung globaler öffentlicher Güter wie Klimaschutz. Es entstand erstmals eine Weltöffentlichkeit, in der globale Nicht-Regierungsorganisationen auf der Grundlage moralischer Argumentation politische Forderungen verfochten (Sautter 2008: 18–21). Da die nationale Ordnungs- und Sozialpolitik als Kern der Nachkriegsordnung offensichtlich an ihre Grenzen gekommen war, wurde die Schaffung globaler Institutionen als Gebot der Stunde angesehen. Daraus resultierten erste Ansätze internationaler Kooperation zur Durchsetzung von Mindeststandards im Hinblick auf Arbeitsbedingungen oder zur Korruptionsbekämpfung auf OECD-Ebene (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, englisch Organisation for Economic Cooperation and Development). Diese weckten den Optimismus, dass die globalisierungsbedingten Probleme zumindest grundsätzlich durch neue Formen ethisch fundierter Ordnungspolitik gelöst werden könnten.

Deglobalisierungstendenzen aus sozialer, ökonomischer und politischer Sicht

Enttäuschte Wohlstands- und Demokratisierungserwartungen

Nach der Jahrtausendwende traten Probleme im Kontext der Globalisierung häufiger und in neuen Dimensionen zu Tage: Hoffnungen auf stabile globale Wirtschaftsbeziehungen und Finanzsysteme wurden immer wieder zunichtegemacht, zuletzt durch die Finanzsystemkrise der Jahre 2007/2008. Liberalisierungserwartungen gegenüber autokratischen Regimen wie China und Russland erfüllten sich nicht. Stattdessen ließ sich weltweit ein Bedeutungsverlust von Demokratien feststellen, während autokratische Staaten ihre Interessen immer aggressiver, auch mit militärischen Mitteln, durchsetzten. Den globalen Bedeutungsverlust des demokratischen Modells bringt u. a. der Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung (BTI) zum Ausdruck (siehe Grafik 2). Kommentatoren wie Niall Ferguson (2022: 475 f.) sprechen inzwischen mit Blick auf das Verhältnis zwischen den USA und China von einem neuen Kalten Krieg.

In den entwickelten und demokratisch verfassten Volkswirtschaften führte die offensichtlich ungleiche Verteilung der Globalisierungsgewinne immer wieder zu Konflikten, da es den Regierungen nicht gelang, durch Umverteilung oder Strukturhilfen einen sozialen Ausgleich zwischen Globalisierungsgewinnern und -verlierern herzustellen. So sahen sich diejenigen, die beispielsweise in den USA ihre Arbeitsplätze aufgrund des globalisierungsbedingten Standortwettbewerbs verloren, vielfach an den Rand der Gesellschaft gedrängt.

Populismus und Protektionismus als Folge sozialer Ungleichgewichte

Die Unzufriedenheit breiter Bevölkerungsschichten mit der Verteilung der ökonomischen Folgen der Globalisierung trug wesentlich dazu bei, dass Politiker mit populistischen Wahlkampfstrategien Erfolge verbuchen konnten und protektionistische Maßnahmen ergriffen, die zu Handelskonflikten führten. Entgegen den Erwartungen ihrer Wähler brachten diese Maßnahmen jedoch zumeist keine spürbaren Verbesserungen, wie nicht zuletzt der Brexit gezeigt hat.

Inzwischen wurde auch durch ökonometrische Untersuchungen belegt, dass populistische Politiker dazu tendieren, die Wohlfahrt ihrer Länder zu schädigen, zum einen durch protektionistische Maßnahmen und darüber hinaus durch eine Schwächung demokratischer und rechtsstaatlicher Institutionen, die wiederum eine Voraussetzung für Wohlstand durch langfristige Investitionen darstellen (Funke/Schularick/Trebesch 2023). Es drohen also Teufelskreisläufe, wenn Einkommensverluste bei breiten Bevölkerungsschichten zum Erstarken populistischer Politiker führen, die wiederum die ökonomische Leistungsfähigkeit ihrer Länder schwächen.

Die Corona-Pandemie als Krisenverstärker

In den Jahren 2020 und 2021 verdeutlichte die Corona-Pandemie die Verwundbarkeit globaler Wertschöpfungsketten und die Fragilität von Globalisierungge­winnen. So trugen Lieferkettenunterbrechungen in China erheblich zu den pandemiebedingten Produktionseinbrüchen in Deutschland bei. Zudem zeigte sich, wie stark sich Deutschland und andere europäische Länder nicht zuletzt bei der Versorgung mit Medikamenten von China abhängig gemacht hatten und wie schnell globale Lieferketten durch regionale Schocks wie Lockdowns, Hafenschließungen oder Schiffshavarien zusammenbrechen konnten (Evenett 2022). Die Bevölkerungen Europas und auch der USA bekamen dies durch Lieferengpässe und steigende Preise zu spüren.

Außerdem offenbarten die ersten Krisenreaktionen einzelner Länder einen Rückfall in nationalistische Denkschemata, als selbst Mitgliedsländer der EU zeitweilig Exportverbote für knappe Medizingüter zu Lasten anderer EU-Staaten verhängten. Die Stärke der europäischen Integration zeigte sich jedoch in späteren Phasen der Pandemie, als Kooperationsansätze dominierten, beispielsweise bei der EU-weiten ­Verteilung von Impfstoffen und der grenzüberschreitenden Hospitalisierung erkrankter Personen.

Die Eskalation geopolitischer Konflikte

Nach dem Abklingen der Corona-Pandemie führten geopolitische Konflikte dazu, dass die internationalen Wirtschaftsbeziehungen weiterhin vom Krisenmodus dominiert wurden. Der russische Angriff auf die Ukraine und die daraufhin verhängten Sanktionen brachten erneute Beeinträchtigungen des Welthandels und verdeutlichten abermals die Anfälligkeit globaler Lieferketten gegenüber externen Schocks. Unternehmen und Politikern insbesondere in Europa wurde von Neuem vor Augen geführt, wie schnell vermeintlich verlässliche Bezugsquellen für Rohstoffe und Vorleistungsgüter ausfallen konnten.

Der von Putin im Sommer 2022 verhängte Lieferstopp für Pipeline-Gas nach Europa zeigte exemplarisch, wie ökonomische Verflechtungen in Kriegs- und Krisenzeiten als Waffen eingesetzt werden konnten. Auch wenn es Deutschland gelang, russisches Pipeline-Gas durch andere Energiequellen zu ersetzen, blieb das Bewusstsein einer Verwundbarkeit durch wirtschaftliche Abhängigkeiten zurück, welches sich mit der Erfahrung verband, dass wirtschaftliche Sanktionen zur Erreichung politischer Ziele oftmals selbst dann eingesetzt werden, wenn sie auch für den Initiator mit Kosten
verbunden sind.

Für zusätzliche Verunsicherung sorgten Konflikte in Ostasien, wie insbesondere die immer offensiveren Drohungen der chinesischen Regierung gegenüber Taiwan, einem der wichtigsten Lieferanten von Mikrochips weltweit (Kuhn 2023). Zudem machte China in jüngster Vergangenheit deutlich, dass es bereit ist, Handelsbeschränkungen zur Durchsetzung politischer Ziele einzusetzen. Ein Beispiel dafür bot die Verhängung von Sanktionen gegen Litauen im Jahr 2022, kurz nachdem die dortige Regierung ihre Beziehungen zu Taiwan vertieft hatte (Baur/Flach 2022: 64 f.). Dementsprechend wird auch das Risiko, dass die chinesische Regierung in den kommenden zehn Jahren wirtschaftspolitische Abhängigkeiten zur Durchsetzung außenpolitischer Interessen gegenüber Deutschland einsetzen wird, von deutschen Ökonomen als sehr hoch eingeschätzt (Potrafke et al. 2024).

 

Verantwortliches Wirtschaften in einer Welt neuer Unsicherheiten

Aufgaben und Handlungsfelder

Für die Zukunft stellt sich also die Herausforderung, einen verantwortungsbewussten Umgang mit den Grenzen der Globalisierung zu finden. An die unreflektierte Globalisierungseuphorie der 1990er Jahre und die darauffolgende Verdrängung von Risiken sollte sich eine Phase „aufgeklärter Globalisierung“ anschließen, in der globalisierungsbedingte Risiken wahrgenommen und von Staaten und Unternehmen angemessen gesteuert werden.

Als erschwerend erweist sich dabei, dass die Macht transnationaler Konzerne zwischenzeitlich eher noch größer geworden ist und v. a. bei BigTechs mit globalen Monopolstellungen neue Dimensionen erreicht hat. Zudem hat der Bedeutungszuwachs der internationalen Finanzmärkte (Finanzialisierung) dazu geführt, dass der Druck auf Manager zur Erzielung maximaler Renditen gestiegen ist und sich zugleich der Zeithorizont unternehmerischer Entscheidungen verkürzt hat (Hecker 2021).

Anders als während der Phase der zunehmenden Globalisierung, die von den Unternehmen zumeist als Chance wahrgenommen wurde, stehen bei Deglobalisierungstendenzen die Risiken bzw. eine veränderte Risikowahrnehmung im Hintergrund. Es geht also bei der politischen Gestaltung dieser Prozesse um die Verteilung und Steuerung von Risiken, wobei festzustellen ist, dass in den Krisen der jüngsten Vergangenheit ein erheblicher Teil der finanziellen Belastungen durch die öffentliche Hand übernommen wurde.

Es verwundert daher nicht, dass Beobachter immer häufiger von Moral Hazard sprechen und darauf hinweisen, dass für Großunternehmen die Erwartung staatlicher Hilfen inzwischen fester Bestandteil ihrer Krisenplanungen ist (Felbermayr 2023: 112 f.; Kuhn 2023: 167). So stellt es aus Sicht größerer, systemrelevanter Unternehmen eine erfolgversprechende Strategie dar, für globale Krisenszenarien, wie geopolitische Spannungen und damit einhergehende Preisanstiege bei Rohstoffen oder Lieferausfälle bei Vorleistungsgütern, keine ausgeprägte Vorsorge auf Unternehmensebene zu betreiben, sondern lediglich diejenigen Risiken zu begrenzen, die das jeweilige Unternehmen in besonderem Maße betreffen. Dies belegen u. a. Befragungen von CEOs, die zugaben, dass sie geopolitischen Risiken bis in die jüngste Vergangenheit keine große Bedeutung beimaßen (PWC 2023).

Aus ethischer Sicht ist Moral Hazard in diesem Kontext besonders brisant, da aufgrund des dadurch entstandenen wirtschaftlichen Erpressungspotentials die Handlungsfähigkeit von Regierungen gegenüber anderen Staaten geschwächt wird. So nehmen Unternehmen, die derartige Moral Hazard-Strategien einsetzen, das Risiko in Kauf, dass die Regierungen ihrer Länder auf politische Drohungen oder Menschenrechtsverletzungen nicht angemessen reagieren können. Lieferkettenrisiken von systemischer Relevanz sind demnach kein kaufmännisches Kavaliersdelikt, sondern gefährden Menschenrechte (Hecker 2025).

Die Kritik an derartigen Verhaltensweisen stützt sich auf Ansätze von Corporate Citizenship, die darauf abzielen, dass Unternehmen im Sinne einer ordnungspolitischen Mitverantwortung die moralische Pflicht haben, eigenverantwortlich einen Beitrag zur Sicherung der Grundlagen ihrer Existenz und Handlungsfreiheit zu leisten, insbesondere vor dem Hintergrund globalisierungsbedingter Unvollkom­menheiten der staatlichen Rahmenordnung (Goldschmidt/Homann 2011). So ergibt sich die Verpflichtung zum Verzicht auf Moral Hazard-Strategien daraus, dass eine systematische Verlagerung von Risiken auf die öffentliche Hand bei privater Vereinnahmung der Gewinne mittelfristig die Akzeptanz der Marktwirtschaft gefährden und damit die Fundamente der Handlungsfreiheit von Unternehmen untergraben würde. Bei Moral Hazard im Kontext geopolitischer Risiken kommt dazu noch die Gefährdung der Demokratie durch die Einschränkung des außenpolitischen Handlungsspielraums gewählter Regierungen. Daher erscheint es als Pflicht aufgeklärten unternehmerischen Handelns, auch bei Standortentscheidungen und im Beschaffungsmarketing Eigenverantwortung zu praktizieren und Kosten und Risiken des eigenen Handelns selbst zu tragen.

In diesem Kontext tun sich zwei wesentliche Handlungsfelder auf:

  • Ausgestaltung globaler Lieferketten in einer Welt mit zunehmender politischer Unfreiheit und damit einhergehenden Menschenrechtsproblemen in Zulieferländern,
  • De-Risking/Re-Shoring als eigen­verantwortliche Steuerung geo-poli­tischer Risiken durch Unternehmen unter Vermeidung von Moral Hazard.

Unternehmensverantwortung

Aktuelle Befragungen von Managern deutscher und europäischer Unternehmen zeigen, dass die jüngsten geopolitischen Entwicklungen auf den Vorstandsetagen vieler Unternehmen zu einem Umdenken geführt haben. Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf das Absatz- und Beschaffungsmarketing. So bekennen sich zahlreiche Vorstände inzwischen zur Notwendigkeit einer Diversifizierung der Lieferketten unter geopolitischen Gesichtspunkten; und auch entsprechende Controlling-Ansätze zur Identifikation, Messung und Steuerung damit einhergehender Risiken wurden in jüngster Zeit entwickelt (PWC 2023).

Ein erheblicher Teil der global agierenden Unternehmen in Deutschland hat insbesondere die Absicht bekundet, Importe von Vorprodukten aus China zugunsten von Einkäufen aus anderen Ländern zu reduzieren, wobei als Grund politische Unsicherheiten genannt wurden (Baur/Flach 2022). Eine „China+1“-Strategie wäre zumindest ein erster Schritt hin zu einer risikoadäquaten Diversifizierung von Lieferketten, wobei zusätzlich zu berücksichtigen ist, dass weiterhin Abhängigkeiten bestehen bleiben, wenn nicht-chinesische Zulieferer ihrerseits auf Rohstoffe oder andere Vorprodukte aus China zurückgreifen. Eine derartige Risikodiversifizierung von Seiten der Unternehmen würde zugleich die politische Handlungsfähigkeit der Regierungen Deutschlands und anderer europäischer Länder stärken, da sich das Erpressungspotential mittels Handelssanktionen verringern würde. Da auf diese Weise zugleich ein wirksameres politisches Auftreten gegen Menschenrechtsverletzungen möglich wäre, zeigt sich hier eine Verbindung zur Thematik von Menschenrechten in Lieferketten.

Wichtig ist, dass den Bekenntnissen zur Risikodiversifizierung auch Taten folgen, die sich in Investitionsentscheidungen und im Beschaffungsmanagement widerspiegeln. Dazu gehört, dass bei Standortentscheidungen geopolitische Risiken berücksichtigt werden und beispielsweise das Szenario einkalkuliert wird, dass Produktionsstätten in einzelnen Ländern aus politischen Gründen ausfallen und das dort investierte Kapital verloren geht. Beim Einkaufsmanagement müssen die Verträge mit Zulieferfirmen so gestaltet werden, dass eine angemessene Diversifizierung von Bezugsquellen und Produktionsstandorten für Vorleistungsgüter – bis hin zur Verlagerung von Standorten nach Europa im Bedarfsfall – gesichert wird und Abhängigkeiten vermieden werden. In einer Marktwirtschaft, die auf unternehmerischer Eigenverantwortung beruht, sollte eine derartige Einkaufspolitik selbstverständlich sein. Wenn dadurch höhere Kosten entstehen, so sind diese als Preis der Versorgungssicherheit anzusehen und in die Kostenkalkulation und Preisgestaltung zu integrieren.

Eine Beschränkung der Zulieferfirmen auf Länder mit westlich geprägten Werten (Friend-Shoring) erscheint dabei nicht angebracht, solange Unternehmen durch eine wirksame Kontrolle ihrer Lieferketten dafür Sorge tragen, dass Menschenrechtsverletzungen bei ihren Lieferanten und ggf. deren vorgelagerten Produzenten ausgeschlossen werden. Wenn eine solche Überwachung mit der erforderlichen Sorgfalt erfolgt, erscheint eine Produktion in Ländern mit Defiziten in der Sozial- bzw. Rechtsordnung ethisch vertretbar, da auf diese Weise den Menschen vor Ort Möglichkeiten zum Erwerb ihres Lebensunterhalts unter Bedingungen geboten werden, die zumeist besser sind als die Arbeitsverhältnisse in ausschließlich lokal agierenden Unternehmen. Außerdem hätte eine zu starke Beschränkung des Kreises der Partnerländer zur Folge, dass auf Möglichkeiten der Risikodiversifikation verzichtet wird und möglicherweise neue
Abhängigkeiten entstehen.

Insgesamt zeigt sich jedoch, dass die Bereitschaft von Unternehmen zur eigenverantwortlichen Begrenzung geopolitischer Risiken trotz aller diesbezüglichen Bekundungen von Vorständen weiterhin defizitär ist, wie nicht zuletzt das Weiterbestehen starker Abhängigkeiten der Lieferketten deutscher Unternehmen von chinesischen Zulieferern beweist (Sandkamp et al. 2023). Dies verwundert nicht, da der Druck der globalen Finanzmärkte die Vorstände nach wie vor zur Erzielung größtmöglicher Renditen anhält. Daher ist offensichtlich, dass Unternehmen die in diesem Abschnitt beschriebene Verantwortung nur dann übernehmen werden, wenn der Staat die erforderlichen Voraussetzungen dafür schafft.

Ordnungspolitik

Welcher ordnungspolitischen Rahmenbedingungen bedarf es also zur Durchsetzung unternehmerischer Verantwortung in einer Weltwirtschaft, die weiterhin durch internationale Wertschöpfungsketten dominiert wird, in der jedoch gleichzeitig Grenzen der Globalisierung in Form neuer Risiken und Verwundbarkeiten wahrgenommen werden?

Zunächst ist festzustellen, dass die Durchsetzungskraft der nationalen Ordnungspolitik allen De-Globalisierungstendenzen zum Trotz keineswegs gestiegen ist, da die Geschäftspolitik globaler Unternehmen unverändert darauf abzielt, Standortvorteile, auch im Bereich der Rahmenordnung, zwecks Renditemaximierung auszunutzen. Exemplarisch deutlich wird dies in einer Aussage des Vorstandsvorsitzenden der Mercedes Benz Group, Ola Källenius: „Kapital wählt kein Land, Kapital wählt keine Politiker, Kapital wählt risikoorientiert den Standort, der die besten Aussichten auf eine vernünftige Rendite bietet“ (Wagener 2024).

In jüngerer Zeit hat diese Standortkonkurrenz immer häufiger die Form von Subventionswettbewerben um die Ansiedlung von Produktionsstandorten angenommen, beispielsweise in Form des Inflation Reduction Act in den USA. Infolgedessen sehen sich die Regierungen der entwickelten Volkswirtschaften weltweit inzwischen in einer Doppelrolle als Regulierer und Standortförderer, mit allen dadurch bedingten Interessenkonflikten.

Vor diesem Hintergrund dürfte Ordnungspolitik künftig noch komplexer werden, da zu den weiterhin bestehenden Herausforderungen im Bereich von Menschenrechten in der Arbeitswelt, Agieren in autokratischen/korrupten Regimen, Verteilung der Kosten der Dekarbonisierung u. v. m. auch noch die Steuerung geopolitischer Risiken hinzukommt (Hecker 2025).

Ein bereits eingesetztes Instrument zur Förderung der Diversifizierung von Lieferketten sind staatliche Garantien für Auslandsinvestitionen, die einerseits Anreize für die Erschließung zusätzlicher Bezugsquellen für Vorleistungen und Rohstoffe setzen und andererseits durch Limitierung der Entstehung von Klumpenrisiken entgegenwirken können (Sandkamp 2024). Das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ist hier bereits aktiv geworden, indem die Vergabe derartiger Garantien Ende 2022 auf drei Milliarden Euro pro Unternehmen und Land gedeckelt wurde (Heide/Olk/Stiens 2023). An dieser Stelle wäre eine noch stärkere Differenzierung bis hin zum Ausschluss einzelner Länder denkbar. Als Instrument zur Verbesserung der Rohstoffverfügbarkeit zwecks Erleichterung der Diversifizierung von Lieferketten bieten sich außerdem staatliche Garantien für Kredite zur Erschließung neuer Rohstoffquellen (sog. UFK-Garantien) an (SVR 2022/23: 396 f.).

Bei der Förderung der Diversifizierung von Lieferketten erscheint es sinnvoll, nach der Dringlichkeit des Bedarfs zu differenzieren, da Versorgungssicherheit bei Medikamenten und essentiell bedeutsamen Rohstoffen wichtiger ist als bei manch anderen Gütern. Im Idealfall wäre zugleich der Schutz vulnerabler Gruppen zu integrieren, der sich auf Nachfrager (beispielsweise kranke Menschen mit lebensnotwendigem Medikamentenbedarf) und Anbieter (beispielsweise im Hinblick auf die Arbeitsbedingungen in Zulieferländern) gleichermaßen beziehen sollte.

Im Rahmen der derzeit üblichen Analyse von ESG-Risiken (Umwelt, Soziales und Unternehmensführung, englisch Environmental, Social and Governance) ist hier in erster Linie der Bereich Governance betroffen, der bislang in der Regulatorik noch keine große Rolle spielt. Insbesondere könnte die EU-Taxonomieverordnung zur Nachhaltigkeit (Verordnung EU 2020/852), die momentan ausschließlich ökologische Aspekte umfasst und nach derzeitigem Planungsstand um eine „Social Taxonomy“ erweitert werden soll, durch Vorgaben für die Unternehmenssteuerung ergänzt werden. Dadurch könnte der Gesetzgeber deutlich machen, dass Unternehmen nur dann als nachhaltig gelten können, wenn sie mit langfristigen Zeithorizonten planen und ihre interne Steuerung durch Einbeziehung geopolitischer Risiken – auch im Bereich der Lieferketten – daran orientieren.

Darüber hinaus erscheint es angebracht, insbesondere den Umgang mit geopolitischen Risiken in das Nachhaltigkeits-Reporting aufzunehmen, um für sämtliche Stakeholder Transparenz herzustellen. So sollten Unternehmen zur Veranschaulichung des Nachhaltigkeitsgrades ihrer internen Steuerung unter anderem darlegen, inwieweit ihre Lieferketten auf globale Krisen vorbereitet sind. Dazu würden auch Stresstests gehören, welche die Folgen eines kurzfristigen Ausfalls wesentlicher Zulieferer bzw. nationaler Beschaffungsmärkte untersuchen.

Da staatlich vorgegebene Mindestkennzahlen hier aufgrund fehlender quantitativer Erfahrungswerte nicht praktikabel erscheinen, geht es vor allem um Transparenz und Sorgfaltsverpflichtungen für den Vorstand, der letztlich vor der Aufgabe steht, die Kostenvorteile der internationalen Arbeitsteilung gegen die damit verbundenen Risiken abzuwägen. Ein hohes Maß an kalkulatorischer Sorgfalt erscheint hier auch deswegen angebracht, weil die Auflösung globaler Wertschöpfungsketten mit hohen Kosten verbunden ist (vgl. z. B. für Europa Sandkamp 2022).

Zudem sollten Berichtspflichten zu geopolitischen Risiken die Marktdisziplin verbessern, indem sie Investoren ein realistisches Bild von der Krisenresilienz des jeweiligen Unternehmens vermitteln. Auf diese Weise würden zugleich die Möglichkeiten einer Inanspruchnahme von Vorstandsmitgliedern wegen Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten gemäß § 93 Aktiengesetz erhöht werden, wenn diese trotz im Berichtswesen ausgewiesener Risiken keine risikobegrenzenden Maßnahmen ergreifen.

Zwecks Vermeidung von Regulierungsarbitrage seitens der Unternehmen sollte innerhalb der EU ein möglichst hohes Maß an Kooperation angestrebt werden. Beispiele für die Harmonisierung von Nachhaltigkeitsnormen sind die EU-Taxonomieverordnung sowie – ganz aktuell – die Schaffung von Vorgaben zur Sicherung der Menschenrechte in internationalen Wertschöpfungsketten durch die EU-Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive, CSDDD).

Eine weitere hoheitliche Aufgabe im Rahmen der Steuerung geopolitischer Risiken liegt in der Schaffung von Diversifizierungsmöglichkeiten für Unternehmen durch entsprechende Freihandelsabkommen sowie – im Hinblick auf die Rohstoffversorgung – strategische Partnerschaften mit Drittstaaten, die das Spektrum potentieller Lieferanten erweitern (Wolf 2023: 96–105). Hierbei gilt es, protektionistischen Aktivitäten von Lobby-Gruppen zu widerstehen, was in Anbetracht regelmäßig auftretender Schwierigkeiten beim Abschluss von Freihandelsabkommen (beispielsweise zwischen der EU und den MERCOSUR-Staaten) keine triviale Aufgabe darstellt.

Ziel der staatlichen Handelspolitik sollte eine regelbasierte, multilaterale Weltwirtschaftsordnung bleiben, in der eine Vielzahl von Diversifizierungsoptionen Abhängigkeiten von einzelnen Ländern entgegenwirkt. Bei der Schaffung derartiger Optionen bedarf es eines ganzheitlichen Politikansatzes, der Außenwirtschafts- und Sicherheitspolitik strategisch verbindet (Felbermayr/Wolff 2023). Die Verhängung von Zöllen oder anderen Instrumenten zur Importbeschränkung erscheint hingegen grundsätzlich nicht als sinnvoller ordnungspolitischer Ansatz, da in diesem Falle Gegenmaßnahmen der betroffenen Länder zu erwarten sind und mittelfristig eine Eskalation von Handelskonflikten mit entsprechenden Wohlfahrtsverlusten droht.

Ergänzend zu diesen Maßnahmen sollte von staatlicher Seite klargestellt werden, dass öffentliche Hilfen im Krisenfall nur dann gewährt werden, wenn die Unternehmen im Vorfeld ein hinreichendes Maß an Sorgfalt bei der Steuerung geopolitischer Risiken zugrunde gelegt haben. Außerdem ist auf eine hinreichende Kostenbeteiligung der Unternehmen zu achten.

 

Fazit

Die Steuerung geopolitischer Risiken ist eine Herausforderung, die Staat und Wirtschaft gleichermaßen betrifft, da eine unzureichende Berücksichtigung dieser Risikokategorie auf Unternehmensebene für die öffentliche Hand mit hohen Kosten verbunden sein kann und zudem die Möglichkeiten staatlichen Handelns im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik einengt. Für Unternehmen wiederum kann die Fehleinschätzung dieser Risiken zu einem abrupten Wegbrechen von Absatz- und/oder Beschaffungsmärkten und damit verbundenen Verlusten führen. Zudem gilt, dass die Risikosteuerung auf Seiten der Unternehmen von der Setzung angemessener Rahmenbedingungen durch die Ordnungspolitik abhängt. Staatliche Ordnungspolitik und unternehmerische Eigenverantwortung müssen sich also ergänzen, damit Politik und Wirtschaft in Zeiten geopolitischer Risiken handlungsfähig bleiben. 

Der vorliegende Beitrag stellt ausschließlich die persönliche Meinung des Referenten dar.

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