Der Siegeszug des Evangeliums in der Sicht der Apostelgeschichte – oder: Was den (ur)christlichen Glauben attraktiv macht(e)

Im Rahmen der Veranstaltung Biblische Tage – Die Apostelgeschichte, 11.04.2022

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Während sich dieser Tage die Zahlen der Kirchenaustritte in den Bistümern des deutschen Sprachraums überschlagen und ein Austrittsrekord den anderen jagt, erzählt die lukanische Apostelgeschichte, der die folgenden Überlegungen gewidmet sind, von Zahlen, die sich in ähnlicher Weise überschlagen – allerdings der Bekehrungen, der Taufen und der damit verbundenen Eintritte in die Jesusbewegung: Da werden kurz nach Jesu Himmelfahrt auf einen Schlag 3000 Jerusalemer:innen Teil der Jesusbewegung (Apg 2,41). Und in der erzählten Welt nur wenige Momente später kommen gleich nochmals Tausende hinzu (Apg 4,4.17; 5,28). In Apg 6,7 notiert Lukas, dass sogar eine große Menge von Tempelpriestern Jesus als Messias bekennt und sich damit der Jesusbewegung anschließt. Und so geht es immer weiter. Die Jesusbewegung durcheilt in Gestalt von Figuren wie Philippus, Barnabas und Paulus mit sprichwörtlichen Siebenmeilenstiefeln den antiken Mittelmeerraum und breitet sich von Jerusalem ausgehend über Judäa und Samaria vor allem nach Westen aus (vgl. Apg 1,8) – mit dem Fernziel Rom, der Hauptstadt des Imperiums, die in Apg 28 erreicht wird, womit das Christentum endgültig auf der Weltbühne angekommen ist. Das Christentum findet dabei an vielen einzelnen Orten teils massiv Anhänger:innen. Woran liegt das? Was macht die Jesusbewegung in der von Lukas erzählten und immer auch inszenierten Welt, hinter der freilich auch historische Erfahrungen hervorlugen, zu einem attraktiven Angebot auf dem antiken Markt religiöser, spiritueller, ethischer und philosophischer Konzeptionen?

Wie die Gründe für den Austritt aus der Kirche heute vielfältig sind und sich gewiss nicht allein aus Missbrauchskrise und Reformstau speisen, so sind die von Lukas erzählten Gründe für den Eintritt in die Jesusbewegung ebenfalls vielfältig. Manche davon benennt Lukas dabei geradezu im Brustton der Überzeugung als besonders gewichtig, während andere eher zwischen den Zeilen sichtbar werden, möglicherweise aber für den überragenden Erfolg der Jesusbewegung mitentscheidend waren. Im Anschluss an soziologische Überlegungen zur Erklärung von Migrationsprozessen lassen sich dabei Pull- von Pushfaktoren unterscheiden. Während Pullfaktoren jene Momente und Charakteristika meinen, die anziehend wirken und Migration positiv (etwa im Sinne des Aufbruchs ins «Gelobte Land») befördern, sind Pushfaktoren jene Aspekte, die einen Migrationsdruck auslösen, die also einen bisherigen Zustand als defizitär erleben lassen (vergleichbar dem Aufbruch aus «dem Sklavenhaus Ägypten») und die Suche nach einer besseren Zukunft forcieren.

Dieses Modell lässt sich auf die Apostelgeschichte und den in ihr erzählten und auch historisch greifbaren Erfolg der Jesusbewegung übertragen. Denn bei den erzählten Eintritten in die Jesusbewegung handelt es sich um Formen der mentalen oder spirituellen Migration, die freilich – wie sich zeigen wird – auch Elemente der kulturellen, politischen und sozialen Migration beinhaltet: Denn diejenigen, an die sich die Jesusbotinnen und -boten mit ihrer Botschaft richten, in Jesus den Messias Gottes zu sehen, seinen Überzeugungen und Lebensmaximen, vor allem auch seiner Vision vom angebrochenen Reich Gottes zu folgen, sind ja bereits religiös-kulturell vorgeprägte Menschen, seien es Menschen jüdischen Glaubens oder Pagane, die eine religiöse und kulturelle Heimat jenseits der Jesusbewegung haben und diese Heimat mindestens in Teilen mit dem Eintritt in die Jesusbewegung hinter sich lassen. Dieser Beitrag fragt, was aus der Sicht der Apostelgeschichte ihre „mentale Migration“ auslöst und sie in die Jesusbewegung führt, was also den urchristlichen Glauben attraktiv machte. Dabei kommen zunächst in der Apostelgeschichte deutlich als Pullfaktoren genannte Aspekte in den Blick. Sodann gilt es kurz über potenzielle Pushfaktoren in der von Lukas erzählten Welt zu reflektieren, bevor abschließend eher im «Untergrund der Erzählung» wirkende Pullfaktoren thematisiert werden, die dezidiert auch sozial- und kulturgeschichtliche Implikationen aufweisen.

Freimütige Verkündigung, Wunder und das Wirken Gottes

Aus der Sicht der lukanischen Erzählung ist mindestens in quantitativer Hinsicht ein Faktor für die Attraktivität der Jesusbewegung besonders entscheidend: das ist die überzeugende Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft durch die Reden ebenso überzeugender Jesusboten (Jesusbotinnen, die längere Reden halten, kennt die Apostelgeschichte nicht mehr). Wieder und wieder erzählt Lukas, dass auf eine Verkündigungsrede hin sich Menschen einzeln, in kleinen Gruppen oder auch scharenweise der Jesusbewegung zuwenden (vgl. Apg 2,14–41; 3,11–4,4.17; 5,42–6,1; 8,4–13; 8,26–40; 11,19–24; 13,14–52; 14,1–7; 14,20b–21; 16,11–15; 17,1–4; 17,10–12; 17,16–34; 18,1–11; 19,1–40).

Diese Verkündigung ist für Lukas von Freimut (parrēsia) geprägt (vgl. Apg 2,29; 4,13.29.31; 9,27.28; 13,46; 14,3; 18,26; 19,8; 26,26; 28,31). Damit ist die unverstellte, offene Rede gemeint, die authentisch ist, die keine falschen Rücksichten nimmt und unaufrichtig wäre, die keine leeren Sprechblasen ventiliert oder auf rhetorische Tricks der Überredungskunst setzt. Das Stichwort der parrēsia rahmt dabei wie ein Leitmotiv fast das ganze in der Apostelgeschichte erzählte Verkündigungsgeschehen. Mit parrēsia verkündet Petrus an Pfingsten (Apg 2,29; 4,13) und mit parrēsia verkündet auch Paulus im letzten Vers der Apostelgeschichte und damit am Ende der erzählten Welt in Rom (Apg 28,31). Wer so redet wie der lukanische Petrus oder Paulus, der erscheint dann auch selbst als ein glaubwürdiger, authentischer Zeuge für Jesus.

Solch authentische Verkündigung, die nicht theologische Leerformeln, abgenutzte Metaphern und blutleere Sprache nutzt, sondern kreativ, situationsbezogen und adressatenorientiert verkündet, ist für Lukas ein echter Pullfaktor. Sie zieht an – gerade, weil sie sich nicht so sehr um die Orthodoxie der Worte sorgt und bemüht ist, die ganze Wahrheit des Christentums zu verkünden, sondern Energie darauf verwendet, wie der Kern der Botschaft Jesu in je unterschiedliche Situationen anschlussfähig übersetzt werden kann. In diesem Sinne ist es auffällig, wie ausgesprochen situationsbezogen und kontextangemessen lukanische Erzählfiguren in der Wortverkündigung agieren: Vor einem jüdisch sozialisierten Publikum wie es etwa bei der Jerusalemer Pfingstpredigt des Petrus in Apg 2,14–36 oder in der Synagoge im pisidischen Antiochia (Apg 13,16–41) anzutreffen ist, in der Paulus spricht, wird z. T. deutlich christologisch verkündet, weil die gemeinsame Basis zwischen Jesusboten und Adressatenschaft, der Glaube an den einen Gott, nicht zur Disposition steht oder begründet werden müsste. In diesen Fällen steht viel stärker die Rolle und Würde Jesu im Vordergrund und wird unter Rückgriff auf oft zitathafte, eingespielte biblisch-jüdische Traditionen begründet, dass Jesus wirklich der im Judentum erwartete Messias Gottes ist. Deutlich weniger christologisch geht es demgegenüber etwa in Lystra zu (Apg 14,8–18), wo Barnabas und Paulus mit Blick auf ein nichtjüdisches Publikum über den einen Gott als Schöpfer, sich selbst als Geschöpfe und die Möglichkeit natürlicher Gotteserkenntnis sprechen. Von Jesus ist dabei nie die Rede. Für Lukas ist all das von parrēsia geprägte Verkündigung im Mund von authentisch erscheinenden Menschen – und diese Kombination zieht an.

Anziehend können fraglos auch die Wunder und wundersamen Zeichen wirken, die sich durch Jesusboten und im Umfeld der Jesusbewegung ereignen. Nachfolge Jesu bedeutet auch in dieser Perspektive Nachahmung Jesu, der auch im Lukasevangelium als Wundertäter erscheint. Allerdings – und das ist auffällig – sind erlebte Wunder nur ganz selten expliziter und alleiniger Auslöser für den Eintritt in die Jesusbewegung (wenn ich richtig lese, dann ist das nur in Apg 9,32–35.36–43 der Fall). Sie sind zwar spektakulär, bedürfen aber der Kommentierung durch Verkündigung, um „erfolgreich“ zu wirken. Besonders schön wird das im Rahmen des langen Erzählbogens von Apg 3,1–4,22 deutlich. Während die Jerusalemer Bevölkerung auf das öffentliche Heilungswunder von Apg 3,1–8 zwar mit Faszination, Staunen und auch Entsetzen reagiert (V. 10), aber keineswegs davon die Rede ist, dass auch nur ein Nachfolger gewonnen wäre, verfängt die anschließende und das Wunder kommentierende Rede des Petrus (Apg 3,11–26) tatsächlich und ist für viele in Jerusalem ein Grund, gläubig und Teil der Jesusbewegung zu werden (vgl. Apg 4,5).

Dieses Muster von Wunder und kommentierender Verkündigung (oder auch Verkündigung und anschließendem Wunder) findet sich mehrfach in der Apostelgeschichte (vgl. Apg 2,1–43; 5,12–16; 8,4–13; 16,17–34; 19,1–12). Auch hier ist es also wieder die Wortverkündigung, die als explizit anziehend und erfolgreich gekennzeichnet wird. Wie nötig diese kommentierende Verkündigung ist und wie zweischneidig das Wunderwirken werden kann, wird gerade in Apg 14,8–20 deutlich. Hier missverstehen die Menschen in Lystra gründlich das heilende Wunderwirken des Barnabas und des Paulus. Sie meinen, die beiden seien Götter in Menschengestalt, ein Fehleindruck, den die beiden zunächst nur mit Mühe in ihrer Verkündigung, letztlich aber doch erfolgreich korrigieren können. Für sie ist natürlich Gott am Werk, wenn Wunder geschehen.

Freilich nicht nur hinter den Wundern erkennt Lukas das Wirken des einen Gottes und seines Messias (vgl. auch Apg 3,6), so dass es nicht darum gehen kann und darf, sich als Wundertäter als mächtig und verehrungswürdig darzustellen – dieses Thema und die mit ihm verbundene Versuchung der Macht wird neben Apg 14,8–20 auch in Apg 8,4–25 deutlich verhandelt –, auch hinter dem Anwachsen der Jesusbewegung selbst erkennt Lukas ganz generell das Wirken Gottes und seines Geistes. Das betrifft fraglos auch die Wortverkündigung, denn die Fähigkeit zur freimütigen Rede (parrēsia) ist nach Apg 4,29.31 ein Gottesgeschenk, ein Charisma, um das die Jesusgemeinde Gott bitten kann. Und so ist letztlich Gott am Werk, wenn Menschen den Weg in die Jesusbewegung finden (vgl. ganz explizit Apg 2,47; 9,31).

Nahezu Fehlanzeige: Pushfaktoren

So explizit Lukas Pullfaktoren benennt, die in seiner Erzählperspektive die Jesusbewegung anziehend erscheinen lassen, so undeutlich bleiben potenzielle Pushfaktoren. Liest man nämlich die Apostelgeschichte dahingehend, ob als nichtchristlich charakterisierte Erzählfiguren mit Blick auf ihre vorchristliche religiöse Sozialisation explizite Defizite formulieren, so fällt auf, dass dies nur höchst selten der Fall ist. Einen echten religionsbezogenen Mangel, näherhin einen Wissensmangel formuliert eigentlich nur einer: der äthiopische Eunuch von Apg 8,26–40, der die Prophetenschrift des Jesaja liest, sie aber nicht versteht und dies als Mangel begreift, weil ihn bisher niemand im Verständnis dieser Schrift unterwiesen hat (V. 31). Man könnte sagen: Ihm fehlt ein Exeget … Diese Rolle übernimmt dann in der lukanischen Erzählwelt Philippus. Dieses fehlende Wissen, vom Eunuchen tatsächlich als Mangel wahrgenommen und entsprechend kommuniziert, führt ihn letztlich in die Jesusbewegung, mündet die Erzählung doch in die Taufe des Äthiopiers (V. 38).

Auch der in den Heilungsgeschichten als Auslöser fungierende Mangel körperlicher Integrität und Heilung wird in der Apostelgeschichte nicht als expliziter Pushfaktor benannt. Zwar kann man mit Blick auf die in der Apostelgeschichte erzählten Heilungsgeschichten festhalten, dass Kranke und Marginalisierte Heil und Heilung offenbar nicht im Rahmen ihrer paganen oder jüdischen Lebenswelt finden und hier ein Defizit vorliegt, dass durch die Vermittlung von Jesusboten befriedigt wird. Besonders eindrücklich erscheint dieser Kontrast mit Blick auf den Gelähmten von Apg 3,1–10, der stets am Schönen Tor des Tempelareals sitzt und damit am Rande der im Judentum geglaubten Präsenz Gottes. Dort widerfährt ihm aber seit Jahr und Tag nicht körperliche Heilung. Er verbleibt stets vor dem eigentlichen Tempelareal und bittet dort um ein Almosen. Heilung findet er an diesem Ort erst, wenn er in Gestalt von Petrus und Johannes Jesusboten begegnet, die ihm Heilung auf den Namen Jesu hin zusprechen. Und erst dann kann auch er selbst den Weg in das Tempelareal finden (V. 8), so dass in raumsemantischer Perspektive für ihn erst die Heilung durch Christus den Weg in das Haus Gottes eröffnet. Merkwürdigerweise bitten in den breiter erzählten Heilungsgeschichten der Apostelgeschichte (etwas anders liegt der Fall in den Heilungssummarien) die zu Heilenden aber selbst nur höchst selten um Heilung. Auch der Gelähmte von Apg 3 tut dies an keiner Stelle, sondern bittet die Apostel um eine Geldspende – und erhält sehr viel mehr als dies. Auch in dieser Perspektive erleben Kranke und Marginalisierte ihren defizitären Zustand nicht als ein religionsbezogenes Defizit, dessen Befriedigung sie von sich aus aktiv bei der Jesusbewegung suchen würden.

Etwas häufiger erzählt wird demgegenüber, dass Jesusanhänger in ihrer Verkündigung auf religionsbezogene Defizite in paganer wie nichtchristusgläubiger jüdischer Religiosität hinweisen. Das gilt etwa für Paulus in Athen, der nach Apg 17,22f. seinem paganen Auditorium attestiert, dass sie von einer Art Blindheit im Blick auf den wahren Monotheismus geprägt seien. Sie würden unwissend verehren, was Paulus ihnen klar verkünden wird: den einen Gott Israels, der für sie bisher nur «ein unbekannter Gott» (V. 23) sei. Im Blick auf das nichtchristusgläubige Judentum werden sodann etwa von Stephanus, Petrus und Paulus religionsbezogenen Defizite markiert, so etwa die fehlende Erkenntnis Jesu als Messias oder die soteriologischen Defizite, die Paulus in Antiochia einklagt (Apg 13,38f.): Wahre Rettung, Gerechtigkeit vor Gott und Sündenvergebung erwachsen nicht aus dem Gesetz, sondern durch Jesus.

Überblickt man dieses Feld erzählter und möglicher weiterer Pushfaktoren, dann entsteht insgesamt der Eindruck, dass Lukas nicht eigentlich auf Kosten paganer oder nichtchristusgläubiger jüdischer Religiosität die Attraktivität des Christentums herausstreicht. Pointiert formuliert: Nicht die anderen sind schlecht und defizitär, sondern die Jesusbewegung ist unvergleichlich gut und aus sich heraus attraktiv. Und zu dieser Attraktivität der Jesusbewegung tragen auch ganz handfeste soziale, kulturelle, ja letztlich auch monetäre Faktoren bei, die vor allem dann sichtbar werden, wenn man die Jesusbewegung mit jüdischen Synagogengemeinden und Kult- sowie Berufsvereinen der griechisch-römischen Umwelt vergleicht. Dafür hat die Neutestamentlerin Eva Ebel in ihrer Studie «Die Attraktivität früher christlicher Gemeinden» entscheidendes Material aufgearbeitet.

Offene Türen, keine Eintrittsgebühren, wöchentliche Mähler und mehr

Liest man die Apostelgeschichte dahingehend, wie jene Figuren charakterisiert sind, die in ihr als Angehörige der Jesusbewegung erscheinen, dann drängt sich der Eindruck auf, dass Jesusgemeinden offene Türen für die gesamte Bandbreite der antiken Gesellschaft haben. Neben Männern finden sich selbstverständlich auch Frauen (z. B. Apg 16,14), neben Juden finden sich auch Nichtjuden (Apg 8/10–15), finden sich Proselyten und Gottesfürchtige (Apg 6,5; 10,2; dazu gleich mehr), neben Reichen (Apg 18,7) gibt es auch viele Arme (etwa die Witwen von Apg 6,1–7), neben Alten gibt es Junge (Apg 20,9; 21,16) und neben Alteingesessenen Hebräischsprachigen ist auch Platz für Neuzugezogene, die Griechisch sprechen (Apg 6,1), ja auch gesellschaftliche Außenseiter wie der Eunuch von Apg 8,26–40 sind vollauf willkommen (und natürlich können auch Sklaven Mitglieder der Jesusbewegung werden, wie etwa die paulinischen Briefe zeigen). In der Jesusbewegung hat jede:r Platz, sofern die Grundüberzeugungen der Gruppe geteilt werden. Niemand ist aufgrund seiner ökonomischen Potenz, seines Geschlechts, seiner ethnischen Zugehörigkeit, seiner Bildung, seines Alters, der Konstitution seines Körpers (vor allem der Geschlechtsorgane) oder seiner sozialen und rechtlichen Stellung ausgeschlossen. Das unterscheidet die Jesusgruppe von allen Formen paganer Kult- und Berufsvereine oder auch von jüdischen Synagogengemeinden. In der Jesusbewegung ist die gesamte Bandbreite der antiken Gesellschaft willkommen und kann jede:r Vollmitglied mit (jedenfalls am Anfang) gleichen Entfaltungsmöglichkeiten werden. Das ist ein keinesfalls zu unterschätzender Attraktivitätsfaktor, den Lukas freilich vollauf implizit erzählt.

Speziell für die bereits kurz genannte Gruppe der Gottesfürchtigen ist die Jesusbewegung dabei aus einem sehr spezifischen Grund von besonderem Interesse, der gerade in der Apostelgeschichte sichtbar wird. Der Terminus Gottesfürchtige meint nichtjüdische Menschen (Frauen und Männer) im Umfeld von Diasporasynagogen, die in der Regel zu den lokalen Eliten gehörten, finanziell potent waren und die Synagogen materiell unterstützten, die Gottesdienste besuchten, vom jüdischen Monotheismus und seiner Ethik des guten Lebens angezogen waren, aber nicht konvertierten und als Proselyten Teil der Gemeinden und des jüdischen Gottesvolkes wurden, weil eine solche Konversion für sie handfeste Nachteile impliziert hätte. Jüdische Synagogengemeinden hielten diese Gottesfürchtigen bei aller Sympathie in gewisser Distanz: Wer vollständig zur Synagoge und damit zum Gottesvolk gehören wollte, musste eben ins Judentum wirklich eintreten, sich als Mann beschneiden lassen und alle geltenden Gebote und Verbote der Tora und der sonstigen Tradition einhalten, um den Status des Proselyten zu erhalten.

Die Jesusbewegung geht hier nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte (vgl. vor allem Apg 15) einen anderen Weg. Wer in ihr Mitglied werden will, an den einen Gott glaubt, in Jesus den Messias sieht und seiner Vision des guten Lebens folgen will und damit nach dem Selbstverständnis der Jesusbewegung natürlich auch Teil des jüdischen Gottesvolkes wird, muss sich nicht bescheiden lassen, muss nicht das Gesamt des mosaischen Gesetzes einhalten, sondern muss lediglich die Jakobusklauseln beachten, sich also im Wesentlichen an einige Speisegebote halten (vgl. Apg 15,20). Gerade für Gottesfürchtige ist das ein attraktives Angebot. Durch innovative Zutrittsbedingungen und Eintrittsrituale (neben die Beschneidung tritt die Taufe als Eintrittsritual in das Gottesvolk) können sie Vollmitglieder einer Jesussynagoge werden, damit an jüdischen Traditionen partizipieren und Teil des Gottesvolkes sein, ohne sich etwa beschneiden zu lassen, was in der griechisch-römischen Kultur als unschicklich galt. Dem Selbstverständnis der Jesusbewegung nach bekommen Gottesfürchtige also in einer Jesussynagoge das gleiche Angebot wie in einer nichtchristusgläubigen jüdischen Synagoge – nur zu besseren Bedingungen. Dieses Angebot wirkt anziehend und so finden sich in der erzählten Welt des Lukas sehr viele Gottesfürchtige unter den Adressaten der Jesusboten und als frühe Mitglieder der Gemeinden (vgl. Apg 10,2.22; 13,16.26.50; 16,14; 17,4.17; 18,7).

Blickt man sodann auf die eher kleinen Leute unter den potenziellen Mitgliedern der Jesusbewegung, werden andere implizit erzählte Pullfaktoren relevant. Zur Attraktivität der Jesusbewegung trägt mit Blick auf diese Gruppe bei, dass die Mitgliedschaft in der Jesusbewegung zunächst kostenlos war. Im Gegensatz zu den allermeisten Vereinen der griechisch-römischen Umwelt wurde keine Eintritts- oder Mitgliedschaftsgebühr verlangt. Auch wer zu den Bettelarmen gehörte war willkommen, ja gerade für ihn war die Jesusbewegung in der lukanischen Darstellung besonders attraktiv. Denn in ihr galten die hohen Ideale der Gütergemeinschaft und der Bedarfsgerechtigkeit. Davon erzählen Texte wie Apg 2,44–47; 4,32–37 und 6,1–7. Wer in den Kreisen der Gemeinde über größere materielle Güter verfügte, war eingeladen (nicht aber verpflichtet, vgl. Apg 5,1–11; Gütergemeinschaft ist nicht auf Zwang und Enteignung angelegt), seine Güter mit jenen zu teilen, die weniger hatten. Und in der erzählten Welt lassen sich viele der ersten Jesusanhänger:innen auf diese neue soziale Wirklichkeit ein. D. h. die aus den offenen Gemeindetüren erwachsende soziale Inhomogenität der Gemeinden ist aus Sicht des Lukas nicht ein Nachteil für die Jesusbewegung, der in unlösbare Konflikte führt, sondern ist im Gegenteil ein Vorteil, den es im Sinne Jesu zu gestalten gilt.

Natürlich sind das lukanische Idealisierungen, wie bereits der Konflikt um Hananias und Sapphira (Apg 5,1–11) oder der Jerusalemer Streit um die Witwenversorgung in Apg 6,1–7 zeigt. Gerade aber letzterer Text macht deutlich, welche Kreativität die frühe Jesusbewegung in der Sicht des Lukas an den Tag gelegt hat, um Gütergemeinschaft wirklich praktisch leben und die sozialen Geldflüsse auch realisieren zu können. Die Jerusalemer Gemeinde etabliert nämlich kurzerhand gemeinsam mit den Aposteln – der Zwölferkreis und die Gesamtgemeinde aus Männern und Frauen arbeiten, so erzählt es Apg 6,2–6, partizipativ Hand in Hand und teilen sich Leitung, Macht und Verantwortung: auch das ist im Übrigen durchaus ein Attraktivitätsfaktor, denn ein Eintritt in die Jesusbewegung lässt Menschen unterschiedlichen Geschlechts und sozialer Stellung an partizipativen Prozessen teilhaben und bringt so Gestaltungsspielräume und einen Zugewinn an Autonomie mit sich; die Jesusgruppe bietet damit Entfaltungsmöglichkeiten auch für jene, die in jüdischen Synagogengemeinden, im jüdischen Tempelkult, in paganen Vereinen oder in paganen Religionsvollzügen in der Tendenz über weniger Handlungsoptionen verfügen – ein neues Gremium, die sieben Tischdiener, um die Konflikte um die Witwenversorgung zu lösen. Strukturen werden also dem Bedarf angepasst und Ämter sollen Konflikte lösen und nicht selbst zum Stein des Anstosses werden. Dass Lukas diese vorbildliche Konfliktlösung mit zwei Wachstumsnotizen im Blick auf die Jerusalemer Gemeinde rahmt (V. 1.7), spricht für sich: Auch die gemeinsame Konfliktlösung, die partizipativ erfolgt und dem Ideal der Bedarfsgerechtigkeit und Armenfürsorge dient, wirkt anziehend. Auch in diesem Sinne ist Inhomogenität ein Vorteil und trägt zum Wachstum der Bewegung bei.

Eine spezielle Form der Gütergemeinschaft prägt sodann auch die wöchentlichen Herrenmahl- oder Eucharistiefeiern der frühen Gemeinden. Auch in den Gemeinden der Apostelgeschichte wird gemeinsam das Brot gebrochen (vgl. Apg 2,42.46; 20,7.11). Wie das aber genau im frühen Christentum vonstattenging, erzählt Lukas leider nicht. Wir sind auf Schützenhilfe aus der Welt der paulinischen Briefe angewiesen, die ja in Teilen ebenfalls jene Gemeinden adressieren, über die Lukas in der Apostelgeschichte erzählt. Aus 1 Kor 11,17–34 wissen wir z. B., dass beim Herrenmahl in der Gemeinde von Korinth (vgl. Apg 18) nicht nur Brot und Wein geteilt wurden, sondern auch weitere Speisen. Das Herrenmahl bildet an den Anfängen hier noch eine spannungsvolle Einheit von Sakralmahl und Sättigungsmahl, bei der nicht nur vertikale Gemeinschaft mit dem himmlischen Jesus durch das Brechen des einen Brotes angezielt ist, sondern auch eine irdisch-horizontale Gemeinschaft durch das Teilen der mitgebrachten Speisen im Blick ist. Dem Ideal nach sollen dabei alle durch das Teilen der Speisen satt werden, was gerade für ärmere Gemeindemitglieder ein Attraktivitätsfaktor ist, ist ihr Alltag doch nicht selten von knurrenden Mägen geprägt. Zumindest beim Herrenmahl sollen aber auch die Armen richtig satt werden können (was in Korinth gründlich schief geht und den Anlass für 1 Kor 11,17–34 liefert). Die Intensität der gemeinsamen Mahlfeiern (Häufigkeit, Verteilungsregeln) ist dabei höher als etwa in vergleichbaren paganen Vereinen, was die Jesusbewegung erneut eher für die kleinen Leute der antiken Gesellschaft attraktiv machte – und zwar auch im Hier und Jetzt ihres konkreten Lebens.

Schließlich ist man als Teil der Jesusbewegung Mitglied eines sich ausdehnenden Netzwerks. Das ist, wie die Apostelgeschichte dezent erzählt, gerade auf Reisen von Vorteil. Denn als Christ hat man auch in der Fremde Freunde, wenn es dort bereits eine Jesusgruppe gibt. Dann kann man zu Gast im eigentlich fremden Haus sein, wie etwa Apg 21,15f. mit Blick auf den Zyprioten Mnason erzählt. Privathäuser fungieren in der Apostelgeschichte mehr und mehr auch als Gemeindehäuser, die sowohl den lokalen Gemeindemitgliedern wie auch durchreisenden Schwestern und Brüdern offenstehen. Auch das macht den urchristlichen Glauben und das Leben in einer Jesusgemeinde attraktiv.

Anders glauben – anders leben

Neben genuin spirituell-religiösen Anziehungsfaktoren, die zum inhaltlichen Glaubens- und Markenkern einer monotheistischen Erlösungsreligion gehören, neben der authentischen Verkündigung einer glaubwürdigen Heilsbotschaft durch ebenso glaubwürdige Verkündiger wirken also auch handfeste sozial- und kulturgeschichtliche Faktoren anziehend, die der frühen Jesusbewegung im Vergleich zu jüdischen Synagogengemeinden oder auch paganen Vereinen Standortvorteile bringen. Es ist also auch die Innovationskraft der frühen Jesusbewegung, die Menschen sehr konkret und handfest ein gutes, ja besseres Leben ermöglicht, die gleichsam als Erdung hoher Glaubensinhalte und -ideale anziehend wirkt. Die ersten Christ:innen glauben anders und leben deshalb auch praktisch anders, um authentisch zu sein: Sie öffnen die Türen der Gemeinden weit – und alle sind willkommen. Sie teilen die Güter des Lebens – auch mit Randfiguren. Sie schaffen punktuell neue Strukturen – und lassen viele daran partizipieren.

Keine Frage: Diese impliziten Pullfaktoren sind nicht für alle in gleicher Weise attraktiv. Vor allem die sozialen Attraktivitätsfaktoren zielen eher die kleinen Leute an. Wer indes zu den Reichen und Mächtigen in der antiken Gesellschaft gehört, wird diese sozialen Faktoren vielleicht sogar als Hürde wahrnehmen, weil er plötzlich nicht mehr nur mit Seinesgleichen, sondern mit den anderen zu Tisch liegt, und eingeladen ist, von seinem Reichtum zu teilen. Solche Idealisten muss es gegeben haben, denn sonst würde das lukanische Ideal von Gütergemeinschaft und Bedarfsgerechtigkeit wirklich nur ein schöner Schein bleiben. Quantitativ freilich wird die Zahl der Begüterten in den frühen Gemeinden im Vergleich zu den relativ Armen gering gewesen sein, wie es etwa auch Paulus mit Blick auf seine korinthische Gemeinde formuliert, der festhält, dass es in ihren Reihen eben nicht viele Mächtige und Hochwohlgeborene gibt (vgl. 1 Kor 1,26). Das ist heute in vielerlei Hinsicht anders – und damit kehren wir an den Anfang zurück.

Um der gegenwärtigen Austrittswelle zu begegnen, bietet die Apostelgeschichte sicher keine Patentrezepte. Schon vor dem Hintergrund einer veränderten Sozialstruktur in den christlichen Gemeinden der Gegenwart wie auch mit Blick auf unsere gegenwärtige Lebenswelt, die mit der antiken Umwelt des frühen Christentums nicht einfach zu vergleichen ist, wäre es ein biblizistischer Fehlschluss, wollte man der gegenwärtigen Austrittswelle, die unsere Kirchen erfasst, mit einer Fokussierung auf die von Lukas direkt und indirekt erzählten Pullfaktoren begegnen und einfach die Kirche der Anfänge auf unsere Zeit übertragen. Lernen freilich kann man aus der Apostelgeschichte auch für die Gegenwart, dass die Jesusbewegung an den Anfängen auch deshalb hoch attraktiv war, weil die Gemeinden den Mut hatten, mit Blick auf ihre konkrete Umwelt und die Menschen in ihrer Lebenswelt die Jesusbotschaft so zu inkulturieren und in Praxis umzusetzen, dass sie zum einen verständlich war und zum anderen tatsächlich ein Angebot für ein besseres Leben im Hier und Jetzt gemacht hat, d. h. auf die Erfordernisse und Zeichen der Zeit reagiert hat. Das ist bleibende Verpflichtung auch für die Kirche unserer Tage angesichts unruhiger Zeiten und tiefgreifender Umbruchsprozesse. 

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