Die Katholiken im “Dritten Reich”

Über die Begriffe "Widerstand", "Distanz", "Anpassung" und "Kollaboration"

Im Rahmen der Veranstaltung Wo standen die Katholiken?, 11.10.2023

Mit einem konkreten und verbürgten historischen Ereignis soll diese
Analyse zum Verhältnis Katholiken und Nationalsozialismus beginnen.

 

Ein pfälzischer Pfarrer – Widerständler und Opfer (?)

In der Nacht des 23. Juni 1933 ereignete sich im pfälzischen Königsbach, nahe der Gauhauptstadt Neustadt an der Haardt, eine schreckliche Gewalttat. Eine Gruppe von etwa zehn Neustadter SS-Männern war auf einem Kohlelastwagen nach Königsbach gekommen. Unterwegs hatten sie noch weitere zwölf SS-Leute in Zivil in Mußbach zusteigen lassen. Die SS-Männer kehrten zunächst in der Bahnhofsgastwirtschaft des NSDAP-Zellenleiters Adolf Frey ein, wo sie, wie es in einer späteren Zeugenaussage hieß, „eimerweise“ Wein ausgeschenkt bekamen, um sich Mut anzutrinken für die anschließend geplante Aktion. Die Männer wollten den katholischen Pfarrer von Königsbach, Jakob Martin, verhaften, wobei den in Zivil auftretenden SS-Leuten die Rolle zukam „etwas Tam Tam um die Sache herum zu machen“, damit es so aussehe, als habe man den Pfarrer vor einem wütenden Mob in Schutzhaft nehmen müssen. Nachdem alle hinreichend angetrunken waren, zog man zum Pfarrhaus, wo ringsherum die Straßen von SA-Leuten bereits abgesperrt worden waren, um nicht allzu vielen Leuten die Möglichkeit zu geben, Zeugen des Vorgehens zu werden.

Was nun geschah, war nichts weniger als ein äußerst brutaler Überfall auf den Pfarrer, der nur mit einigem Glück diese schwere Straftat überlebte. Erst schlugen die SS-Leute die Fenster ein, brachen die Haustüre auf und zerrten den Pfarrer, der sich ins Obergeschoss geflüchtet hatte, in Pantoffeln auf die Straße. Dort wurde er mit einem geladenen Revolver bedroht und dann unter wüsten Beleidigungen und dauernden Schlägen durch die Straßen getrieben. Einzelne Königsbacher Katholiken wollten helfen, wurden aber selbst geschlagen und von den SA-Leuten abgedrängt. Was die vielen anderen Königsbacher Katholiken machten, ist unklar. Als Martin zu dem Kohlenlaster kam, war er blutüberströmt. Nach späteren Zeugenaussagen wurde er sodann „wie ein Stück Vieh“ auf die Ladefläche geworfen, begleitet von Rufen wie „Bisch du noch net bald verreckt, du schwarzer Hund!“
und „Macht ihn kaputt!“.

Die betrunkenen SS-Leute fuhren Martin sodann nach Neustadt, wo er im Gebäude der Gauleitung weiter mit Gummiknüppeln geschlagen und verhört wurde. Dann wurde er im Amtsgerichtsgefängnis eingesperrt und erst drei Tage später wieder freigelassen unter der Auflage, sich im Pfarrhaus zu verbergen, bis seine Wunden einigermaßen verheilt seien.

Die SS-Männer ließen ihren sadistischen Trieben freien Lauf, weil sie seit Jahren verhetzt worden waren und Pfarrer Martin wegen seinen Predigten gegen den Nationalsozialismus und seiner politischen Tätigkeit für die Bayerische Volkspartei als Gegner „ihrer Volksgemeinschaft“ ansahen. Um ein hinreichend brutales Vorgehen sicherzustellen, waren bekannte SS-Schläger ausgesucht worden, möglicherweise waren aber auch Katholiken unter den SS- und SA-Leuten, die hier in Aktion traten, denn der 96 Männer starke Neustadter SS-Sturm 9/10 hatte, wie Martin Hanischs Forschungen ergeben haben, etwas mehr als sieben Prozent Katholiken in seinen Reihen, ein Drittel war evangelisch, der Rest konfessionslos. Einige Katholiken unter den SS-Leuten lösten im Laufe der Zeit unter dem Druck des Verhaltenskodex in der SS ihre Bindungen zur Kirche, der SS-Mann Walter Lanz beispielsweise aber nicht. Noch 1936 ließ er sich katholisch trauen und seine Kinder in den Folgejahren auch katholisch taufen.

Wo standen die Katholiken? Diese Frage stellt sich angesichts des Geschehens im pfälzischen Königsbach, das übrigens so bekannt wurde, dass es mit einigem Nachdruck bei den 1933 laufenden Konkordats-Verhandlungen in Rom angesprochen wurde. Und zugleich lässt sich an diesem Beispiel die ganze Entwicklung der Diskussion um den Standort der Katholiken und ihren „Widerstand“ im „Dritten Reich“ aufrollen.

 

Katholiken und Widerstand – erste Einordnungen der Nachkriegszeit

Pfarrer Martin war auf den ersten Blick wohl ein „Verfolgter“, ein „Opfer“ des geschilderten SS-Überfalls und ­wegen ­seiner antinationalsozialistischen Reden zur rechten Zeit auch ein früher „Widerstandskämpfer“. In der unmittelbaren Nachkriegszeit und in den 1950er Jahren hätten die meisten Menschen dem jedenfalls mehrheitlich zugestimmt. Damals war die allgemeine Auffassung von Widerstand geprägt von Erfahrungen, die dem Geschehen in Königsbach ähnlich waren, und zudem von zwei frühen und bald recht prominenten Schriften über das Thema Kirche und Nationalsozialismus, die große Wirkung entfalteten: Zum einen propagierte der Jesuit Anton Koch schon 1947 in einem Aufsatz Vom Widerstand der Kirche: „Kirche und Nationalsozialismus schlossen sich in allem Wesentlichen aus wie Licht und Finsternis, wie Wahrheit und Lüge, wie Leben und Tod.“

Zum anderen dokumentierte der Münchner Weihbischof Johannes Neuhäusler, selbst Opfer des Repressionsapparats und jahrelang im KZ inhaftiert, in seinem Buch Kreuz und Hakenkreuz (2. Aufl. 1946) den katholischen Widerstand und stellte ihn als eine gleichsam allgemeine Erscheinung des Katholizismus dar, die man in einer Art Formel „Katholischsein = NS-Gegner und Widerständler sein“ fassen könnte.

Übersehen sollte man freilich nicht, dass es an solchen pauschalen Einordnungen schon von Anfang an Kritik gegeben hat. Die wohl deutlichste formulierte schon 1946 der Katholik und erste Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauer, in einem Brief an den Bonner Pastor Dr. Bernhard Custodis. Darin hieß es: „Nach meiner Meinung trägt das deutsche Volk und tragen auch die Bischöfe und der Klerus eine große Schuld an den Vorgängen in den Konzentrationslagern. Richtig ist, daß nachher vielleicht nicht viel mehr zu machen war. Die Schuld liegt früher. Das deutsche Volk, auch Bischöfe und Klerus zum großen Teil, sind auf die nationalsozialistische Agitation eingegangen. Es hat sich fast widerstandslos, ja zum Teil mit Begeisterung […] gleichschalten lassen. Darin liegt seine Schuld.“ Und weiter formulierte Adenauer: „Ich glaube, daß, wenn die Bischöfe alle miteinander an einem bestimmten Tage öffentlich von den Kanzeln aus dagegen Stellung genommen hätten, sie vieles hätten verhüten können. Das ist nicht geschehen und dafür gibt es keine Entschuldigung. Wenn die Bischöfe dadurch ins Gefängnis oder ins Konzentrationslager gekommen wären, so wäre das keine Schande, im Gegenteil. Alles das ist nicht geschehen und darum schweigt man am besten.“

„Darum schweigt man am besten“ – dieser Schlusssatz ist decouvrierend: Weil die Generation der Miterlebenden schwieg oder wie wir mittlerweile aus den Tagebüchern des Münchner Kardinals Faulhaber wissen, sich das eigene Versagen trotzig und selbstgerecht nicht eingestehen wollte, konnte sich allzu leicht eine reichlich schiefe Vorstellung über die katholische Kirche und den Nationalsozialismus verbreiten. Diese tendierte dazu, zu undifferenziert den moralisch immer irgendwie auch aufgeladenen Widerstandsbegriff für sich zu beanspruchen, was je länger, je mehr heftigen Widerspruch hervorgerufen hat.

Der 1955 bis 1957 vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragene Reichskonkordats-Prozess hat dann allerdings entgegen allem Schweigen die Frage nach dem Verhalten der katholischen Kirche doch sehr öffentlich gemacht und zu einer ersten veritablen Kontroverse darüber geführt. Die erstatteten Prozessgutachten lenkten den Blick auf die allzu schnelle Erklärung der deutschen Bischöfe vom 28. März 1933, die einige Vorbehalte gegenüber dem Nationalsozialismus, die bis dahin gegolten hatten, zurücknahm, und auf das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 selbst, dessen Rolle für die Konsolidierung des NS-Staates nun beleuchtet wurde.

Mehr noch entzündete ein Aufsatz von Ernst-Wolfgang Böckenförde 1961, der in der katholischen Zeitschrift Hochland veröffentlicht wurde, die Auseinandersetzungen, weil Böckenförde eine Affinität der katholischen Kirche gegenüber autoritären Regimen behauptete, den Antiliberalismus der Kirche hervorhob und im Antibolschewismus eine wichtige Gemeinsamkeit im Denken der Nationalsozialisten wie der Katholiken erkannte. Vor allem auf dieser Grundlage erklärte er eine gewisse Annäherung der katholischen Kirche an den Nationalsozialismus.

Die Debatte wurde in vielen thematischen Teilbereichen fortgeführt, prominent vor allem im Hinblick auf die Aufgabe des politischen Katholizismus der Zentrumspartei. Schon dieser oberflächliche Blick auf frühe Kontroversen um Kirche und NS-Staat zeigt: Anders als manche einschlägigen Veröffentlichungen glauben machen wollen, ist die Frage, wo denn nun eigentlich die Katholiken gestanden hätten, im Widerstand oder doch näher beim Regime, keineswegs neu und hat in den vergangenen rund 60 Jahren schon immer die Debatte geprägt. Freilich hat es dabei immer eine Fraktion gegeben, die das kirchliche Verhalten zu erklären, ein andere, die es vornehmlich vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung zu kritisieren bestrebt war. Aber selbst ein Historiker wie Konrad Repgen, der heute gerne als Apologet der kirchlichen Position eingeordnet wird, hat schon in den 1970er Jahren betont, dass die Kirche „nach allem, was von 1933 bis 1945 geschehen ist – kein[en] Grund zum Stolz“ habe.

 

Umstrittene Haltung der katholischen Kirche

Dies gilt umso mehr, als in der Folgezeit immer weitere Bereiche des kirchlichen Verhaltens in die Kritik geraten sind: Man denke nur an die Stellung, die die katholische Kirche gegenüber der Verfolgung jüdischer Mitbürger eingenommen hat, befördert durch Rolf Hochhuths Drama Der Stellvertreter 1963, mit dem das vielzitierte Wort vom „Schweigen des Papstes“ ebenso populär wie umstritten wurde. Auch die Frage des Verhältnisses von Antijudaismus und Antisemitismus hat diese Diskussion angestoßen, bis hin zu der gelegentlich geäußerten Vermutung, ein auch in der katholischen Kirche sich mehr und mehr verbreitender moderner Antisemitismus habe die bis dahin unvorstellbaren Menschheitsverbrechen an den Juden befördert und dem rassistischen Antisemitismus der Nationalsozialisten in die Hände gespielt. Auf diesen wie vielen weiteren Themenfeldern kirchlichen Handelns in der NS-Zeit hat es intensive Diskussionen gegeben, die einen generellen Widerstand der Kirche, wie er in den ersten Jahren nach dem Krieg vielfach angenommen wurde, fraglich hat erscheinen lassen.

 

Intensivierte Forschung

Hinzu kommt, dass sich die Widerstandsforschung generell und speziell die Erforschung eines kirchlichen „Widerstands“ im Laufe der Jahre immer mehr spezialisiert hat und durch theoretisch-methodische Überlegungen immer präziser geworden ist. So hat, um nur ein Beispiel zu nennen, die Erforschung der so genannten sozial-moralischen Milieus in den 1990er Jahren für den Bereich des Katholizismus ein präziseres Bild der sozio-kulturellen Grundlagen für möglichen Widerstand in der Kirche gezeichnet.

Kritisch ist auf der Grundlage solcher Forschungen die Frage aufgeworfen worden, inwiefern „oppositionelles“ Verhalten der Katholiken überhaupt ein Ziel über das Bewahren des eigenen Milieus hinaus gehabt hat, ob nicht gleichsam das, was wir vielleicht allzu voreilig als kirchlichen Widerstand bezeichnen, eigentlich einem „Milieuegoismus“ entsprungen ist. Kein Kampf also für Menschenrechte oder gegen eine menschenfeindliche Politik, nur ein Kampf um die Bewahrung des eigenen Milieus? Und das, so lautet eine weitere kritische Perspektive, könnte am Ende auch nur ein Kampf gegen die Moderne gewesen sein, wie ihn die Kirche ja auf verschiedenen Feldern schon geführt hatte.

Zeitlich etwas früher hatte sich die Forschung des Problems angenommen, dass Widerstand eine Vielzahl von Formen und Ausprägungen haben kann, so dass es sinnvoll erscheint, den Begriff zu differenzieren. Dies geschah nicht, wie Olaf Blaschke 2010 noch vermutet hat, um „angesichts wachsender gegenläufiger Quellenbefunde“ dafür zu sorgen, dass sich „Katholiken und die Ämterkirche weiterhin unter dem geräumigen Schirm des Widerstands […] wohlfühlen konnten“, so dass mit viel „Kreativität“ „möglichst viele Varianten, Unterarten oder wenigstens dem Widerstand ähnelnde Phänomene entdeckt“ worden seien und den unkundigen Betrachter verwirrt haben.

Vielmehr entsprangen die in vielen Varianten vorgeschlagenen Stufenmodelle des Widerstands der Einsicht, dass nicht jedes irgendwie nichtkonforme Verhalten mit dem großen Wort des „Widerstands“ bezeichnet werden dürfe, zumal ein großes, etwa zeitgleiches Projekt des Instituts für Zeitgeschichte Bayern in der NS-Zeit sich auch bemühte, durch die Einführung des Resistenzbegriffs Kleinformen zivilen Mutes und abgrenzendes Verhalten gegenüber den Anforderungen des NS-Staates begrifflich zu fassen, ja zugleich auch in einer Theorie gesellschaftlichen Verhaltens unter den Bedingungen einer modernen totalitären Diktatur zu entwickeln.

Der Umstand, dass sich die Vielfältigkeit widerständigen Verhaltens in der Realität nicht trennscharf durch solche Modelle einfangen lässt, und die Problematik vielschichtiger Motivlagen bei den „Widerständlern“ haben diese Versuche längst fragwürdig werden lassen. Gleichwohl hat Olaf Blaschke gefordert, man müsse, um dem seiner Meinung nach immer noch einseitig vorherrschenden Bild einer katholischen Kirche im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, entgegenzutreten, Stufenmodelle des Widerstands von Katholiken durch ein Stufenmodell der Anpassung von Katholiken im NS-Regime ergänzen.

Dafür schlägt er vor, gleichsam gespiegelt zum Modell von Klaus Gotto, Hans Günter Hockerts und Konrad Repgen, das den Widerstand in die vier Stufen „punktuelle Nonkonformität“, „Verweigerung“, „öffentlicher Protest“ und „Widerstand im engeren Sinne“ gliedert, ergänzend und am besten gleichzeitig auch ein Modell der Kollaboration von Katholiken mit den Stufen „aktive Kollaboration“, „Konsens/Loyalität“, „Kooperation/Anpassung“ und „punktuelle Zufriedenheit“ zu verwenden.

Ein solcher Vorschlag erscheint sachlogisch, da das Mittun eines Teils der katholischen Bevölkerung im NS-Staat ja auch zuvor schon Thema in diversen Debatten gewesen ist und eine konsequente Anwendung dazu führen müsste, eine nach wie vor ausstehende differenzierte Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus schreiben zu können, in der die Katholiken lediglich eine von mehreren gesellschaftlichen Großgruppen wären, in der es auch „Nein-Sager“ gegeben hat. Dies wäre immerhin zielführender, als eine immer länger werdende Liste von Bedingungen und Voraussetzungen zu definieren, wann überhaupt noch von katholischem Widerstand gesprochen werden darf, wie es andere Autorinnen und Autoren vorschlagen.

Denkt man zurück an den 1933 wegen seiner antinationalsozialistischen Haltung so heftig misshandelten Königsbacher Pfarrer Martin, fragt man sich vor dem Hintergrund dieser Forschungsentwicklung, wo er jetzt wohl einzuordnen wäre. Als Widerständler und Verfolgter wäre er jedenfalls nach den geschilderten, vielfältigen Einwänden nicht mehr so einfach anzusprechen. Stand er also im Lager der Mitläufer, der Angepassten, der Nationalsozialisten gar? Wohl kaum.

 

Neue Ansätze

Hilfreich erscheint vor diesem Hintergrund ein Vorschlag, den Olaf Blaschke und Thomas Großbölting vor rund drei Jahren in ihrer Sammelschrift Was glaubten die Deutschen zwischen 1933 und 1945? Religion und Politik im Nationalsozialismus gemacht haben. Auch sie sind der Auffassung, dass unser Denken über Kirche und Nationalsozialismus nach wie vor zu sehr von dichotomischen Vorstellungen – hier Nationalsozialismus, dort Kirche – geprägt sei, und schlagen einen veränderten Blick vor: „Der Perspektivwechsel besteht darin, dass die ‚politische Religion‘ des Nationalsozialismus nicht per se als mit der ‚religiösen Religion‘ des Christentums oder anderer Religionsgemeinschaften für unvereinbar gehalten wird.

Stattdessen soll das ‚Wechselspiel‘ von religiösen und politischen Identitäten analytisch in den Mittelpunkt rücken […]. Mit diesem Zugriff verbindet sich die Chance, die herkömmliche und stark verwurzelte Dichotomie von ‚Kreuz und Hakenkreuz‘ heuristisch zu überwinden und offen nach dem Verhältnis von Religion und politischer Weltanschauung zu fragen.“ Denn auch für viele Katholiken, so die Grundannahme, hätten Nationalsozialismus und christlicher Glaube nicht notwendigerweise einen Gegensatz dargestellt, sondern Gemengelagen, Zusammenarbeit, hybride Verhältnisse hätten den Lebensalltag der Christen geprägt.

Dieser Vorschlag empfiehlt also, bei dem eingangs geschilderten Beispiel nicht nur den Blick auf den misshandelten Pfarrer zu richten, sondern auch auf die vielen Königsbacher Katholiken, die ihrem Pfarrer nicht geholfen haben, und auf die gewalttätigen SS-Leute, unter denen sich eben auch einige Katholiken befunden haben. Die Lebensrealität der Katholiken in der „Volksgemeinschaft“ des „Dritten Reiches“ zeigte, so die These, viel mehr Arrangement mit dem neuen System als Gegensatz, war viel mehr auf Versöhnung als auf Distanzierung aus, suchte nach Vereinbarkeit statt nach widerständiger und opferbereiter Abgrenzung.

Das ist nicht ganz neu, denn auch zuvor wurde in der älteren Forschung von Teilwiderständen oder partiellem Widerstand gesprochen, wenn es darum ging, ideologische Gemengelagen bei widerständigen Menschen zu charakterisieren, aber Blaschkes und Großböltings Ansatz ist zugespitzter und deshalb analytisch präziser.

Ganz ähnlich wie Blaschke und Großbölting haben Christiane Hoth und Markus Raasch bereits 2017 am Beispiel der Bischofsstadt Eichstätt exemplifiziert, welchen Mehrwert ein solcher leichter Perspektivwechsel haben kann. Hoth und Raasch haben dazu den Milieubegriff erneut fruchtbar gemacht, dabei auf die Unterscheidung verschiedener katholischer Regionalmilieus abgehoben, aber anders als in den 1990er Jahren nicht nur die mögliche Zerstörung durch die NS-Politik, also gleichsam die Konkurrenzlage, untersucht, sondern vielmehr danach gefragt, wie „intensiv die Prägekraft nationalsozialistischer Überzeugungen“ auch unter Katholiken war, und „welche Reichweite“ diese im katholischen Milieu in Eichstätt gehabt haben.

Es ging also darum, das lebensweltliche Neben-, Mit- und Gegeneinander zwischen katholischem Milieu und Nationalsozialismus auszuloten und damit eine Alltags- und Gesellschaftsgeschichte in einem begrenzten historischen Raum unter Beachtung der regionalen Spezifika zu schreiben. Im Hintergrund dieses Konzeptes steht zudem das seit einigen Jahren intensiv beforschte Forschungsparadigma der „Volksgemeinschaft“, das die Frage ins Zentrum rückt, wie denn die zahlenmäßig höchst relevanten religiösen Milieus eigentlich in die Fiktion einer nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ in praxi zu inkludieren waren, was ja unumgänglich war, wenn aus der propagierten Vision irgendeine Wirklichkeit werden sollte.

Hoths und Raaschs Arbeit lässt gut erkennen, wo die Einbruchstellen in das katholische Milieu waren, wo Kompromisse des Milieus um des Einbezugs in die „Volksgemeinschaft“ willen vorstellbar wurden, aber auch, wo die Abgrenzung, der Gegensatz unüberbrückbar erschien, und aus welchen Gründen ebendies geschah. Ob man die Präzision dieses Ansatzes noch übertreffen kann, indem man, wie es in allerjüngster Zeit versucht wird, die tatsächlichen Einstellungen der Menschen zur NS-Herrschaft hinter der formellen Parteimitgliedschaft oder der Verweigerungshaltung durch Anwendung sozialwissenschaftlicher Methoden eruiert, bleibt abzuwarten.

In jedem Fall sind dies fruchtbare, weiterführende Ansätze, die im Hinblick auf die Widerstandsforschung den Vorzug haben, dass sie eine Entschärfung der vielfach zu polemisch geführten Forschungsdiskussion ermöglichen und verschiedene Perspektiven bündeln, ja eine differenzierte Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus ermöglichen. Aus der Warte solcher Forschungen müsste man wohl auf die eingangs gestellte Frage, wo denn die Katholiken im Nationalsozialismus gestanden haben, antworten: in der Mitte der gedachten „Volksgemeinschaft“ und innerhalb dieser sowohl bei den Begeisterten, den aktiven und stillen Unterstützern wie auch bei den Abwartenden/Indifferenten und manche auch bei den „Widerständlern“.

 

Was bleibt vom Widerstand „der“ Katholiken?

Gleichwohl bleibt die Frage, wo wir denn das so offensichtliche Unrecht, das Pfarrer Martin in Königsbach 1933 angetan wurde, seine doch an sich klare Gegnerschaft zum Nationalsozialismus am Ende nun verorten sollen, und wie die vielen Zeugnisse des von Katholiken auf sich genommenen Martyriums, die sich im Martyrologium der katholischen Kirche finden, zu interpretieren sind. Darf oder soll man das alles lieber nicht mehr als „Widerstand“ und „Verfolgung“ bezeichnen, weil sich das oft als vorbildhaft und mutig erscheinende Verhalten von „Katholiken im Widerstand“ auflöst in einer komplexen und hochdifferenzierten Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus, die eigentlich tendenziell viel mehr immer dunkler werdende Grautöne kennt?

Eine Antwort auf diese Frage fällt nicht ganz leicht, und aus der Sicht der Widerstandsforschung ist es auch unbefriedigend, dass das bisweilen ja exzeptionelle, die eigene Existenz gefährdende Verhalten von Menschen in Extremsituationen mittlerweile in Gefahr ist, nivelliert und tendenziell abgewertet zu werden. Auch wenn die allgemeine Widerstandsforschung längst nicht mehr „strahlende Widerstandshelden“ propagiert, sondern ähnliche Forschungsentwicklungen durchgemacht hat, wie sie für die Zeitgeschichte des Katholizismus beschrieben worden sind, bleibt doch das Außerordentliche der historischen Tat unter Einsatz des eigenen Lebens als Faktum und erklärungsbedürftiges Faszinosum zugleich.

Gleichwohl muss dieser gelegentlich in der Forschungsdiskussion entstehende Eindruck nicht existieren, wenn die einschlägige Forschung sich wirklich für alle Ausprägungen gesellschaftlichen Handelns offen, ja sensibel genug zeigt und weder einseitig den „Widerstand“ noch die „Anpassung“ von Katholiken im Nationalsozialismus herausstellt. Wenn nicht gleich gewertet und kategorisiert wird, vielmehr Prozesshaftes im Vordergrund steht, Kontinuitäten und Diskontinuitäten gleichermaßen gesehen werden, wäre viel erreicht.

Dies sollte in einer Zeit, in der wir die systematische Unterdrückung oppositioneller Kräfte in Russland und den Mut beobachten können, den es braucht, sich öffentlich auch nur mit einem weißen Blatt Papier gegen den Krieg in der Ukraine zu äußern, vielleicht wieder leichter möglich sein. Dabei hilft es, sich einige fundamentale Erkenntnisse zu vergegenwärtigen, die seit langem bekannt sind, aber immer wieder gerne übergangen werden:

1. Der Begriff „Widerstand“ ist seit jeher problematisch und impliziert moralische Wertungen – dagegen wird man mit noch so viel Differenzierung kaum ankommen können. Diejenigen, die gegen das NS-Regime waren und jedes Jahr mit der Gedenkfeier im Bendlerblock am 20. Juli geehrt werden, standen nach landläufiger Wahrnehmung jedenfalls auf der richtigen Seite und können für sich einen hohen moralischen Respekt beanspruchen. Dass dies kritische Nachfragen über die Berechtigung dieser Aufwertung hervorruft, ist nicht anders zu erwarten. Andererseits kommt man aber auch kaum ohne diesen Begriff aus, weil mit ihm das Gemeinte im Alltag so klar gemacht werden kann wie mit wenig anderen Begriffen.

2. Die Vorstellung, die katholische Kirche sei im Widerstand gegen den Nationalsozialismus gestanden, war schon immer falsch. Hans Maier hat bereits vor Jahren darauf hingewiesen, es sei „wenig realistisch“, dass eine Kirche sich als Ganzes „in den Widerstand begibt.“

3. Es lässt sich bei der Frage nach der Motivation widerständigen Verhaltens auch bei Christen nicht per se davon ausgehen, dass es allein der christliche Glaube war, der das widerständige Verhalten gleichsam automatisch erzeugt hat. Martin Greschat hat deshalb davon gesprochen, dass sich das christliche Element in der Motivation für widerständiges Verhalten selten rein, sondern meist in der Form von „Amalgamen“ wiederfindet. Sowohl der Widerstand kann also vielfältig motiviert sein, er kann sich umgekehrt aber auch brechen oder relativieren durch Lebenswirklichkeiten ganz anderer Art jenseits der Gläubigkeit.

4. Vor diesem Hintergrund muss immer auch präzisiert werden, was denn genau gemeint ist, wenn wir von katholischer Kirche oder Katholiken im Widerstand sprechen. Die katholische Kirche ist hierarchisch gegliedert: der Papst in Rom, dann die Bischöfe in Deutschland, die Priester und die ja wiederum höchst heterogene Menge der Gläubigen – sie alle hatten unterschiedlich weit reichende Verantwortungen und Handlungsspielräume. Auch dies ist stets differenzierend auszuleuchten, wenn von Widerstand im katholischen Milieu die Rede ist.

Sodann ist festzuhalten, dass die Erträge der historischen Wahlforschung, wie sie Jürgen Falter vor Jahrzehnten präsentiert hat, sowie seine jüngsten Forschungen zur Mitgliedschaft in der NSDAP ihre Bedeutung in keiner Weise verloren haben. Noch im Juli 1932 waren die Wähler der NSDAP nur zu 17 % Katholiken, im März 1933 bei der letzten, eigentlich schon nicht mehr freien Wahl war „nur“ jeder vierte NSDAP-Wähler Katholik. Und auch wenn man nach der Parteimitgliedschaft fragt, fällt auf, dass Katholiken vor 1933 unter den PGs stark unterrepräsentiert waren.

Das deutet alles darauf hin, dass Katholiken in Deutschland – aus den unterschiedlichsten Gründen – jedenfalls nicht zu den wichtigsten Förderern des NS-Staates gehört haben. Und zugleich ist richtig, dass auch Katholiken in der Lage waren, in der NS-„Volksgemeinschaft“ mitzumachen und einen Weg zu finden, wie sie ihren Glauben irgendwie mit den politischen Anforderungen der NSDAP vereinbaren konnten. Dabei ist festzustellen, dass der Anteil der Katholiken in den NS-Organisationen im Laufe der Diktatur gestiegen ist, aber insgesamt nie die Mehrheit gebildet hat.

Zu verkennen ist schließlich und vor allem nicht, dass eine tiefe Verwurzelung im christlichen Glauben und der katholischen Tradition das Potential hatte, Widerständigkeit im weiteren und Widerstand im engeren Sinn zu motivieren. Was in den Kirchen gepredigt wurde, war, sieht man einmal von den unbestritten ganz wenigen wirklich braunen Pfarrern ab, eine Art Werte-Gegenwelt zum Nationalsozialismus, die, nahm man das wirklich ernst
und machte es zur Richtschnur des eigenen Lebens, immer wieder Widersprüche im Alltag des nationalsozialistischen Deutschlands für die Gläubigen hervorrufen musste, die bei manch einem am Ende Widerstand hervorgebracht haben. Hier liegt der eigentliche Grund, warum es sich lohnt, sich überhaupt mit dem Thema „christlicher/katholischer Widerstand“ im „Dritten Reich“ zu befassen.

Dabei wirkte freilich kein Automatismus, und zweifellos ist vor dem Hintergrund der Forschungsentwicklung immer mehr als das Widerstandsereignis an sich in den Blick zu nehmen, sind die Hintergründe, die Rahmenbedingungen, die Alltagswirklichkeit der Widerständler auszuleuchten, um eine möglichst genaue Vorstellung nicht nur von der Motivierung des widerständigen Verhaltens zu erhalten, sondern gleichsam den Sitz in der Lebenswirklichkeit des widerständigen Menschen auszuleuchten.

In der christlichen Weltdeutung war zumindest eine Grundlage vorhanden, die ein Andersdenken motivieren konnte (nicht musste!). Das ist es wohl, was Helmuth James Graf von Moltke, der Motor des widerständigen Kreisauer Kreises, 1942 in einem Brief an seinen Freund Lionel Curtis, erkannte. Moltke diagnostizierte etwas zu hoffnungsfroh ein allmähliches Erwachen der deutschen Bevölkerung gegen das Regime und seine Ideologie.

Moltke: „Das Rückgrat dieser Bewegung bilden die beiden christlichen Konfessionen, die protestantische wie die katholische. Die katholischen Kirchen sind jeden Tag voll, die protestantischen noch nicht, aber die Entwicklung ist wahrnehmbar. […] Vielleicht erinnerst Du Dich, daß ich in Unterhaltungen vor dem Kriege der Meinung war, daß der Glaube an Gott nicht wesentlich sei, um dahin zu kommen, wo wir jetzt sind. Heute weiß ich, daß ich Unrecht hatte, ganz und gar Unrecht. Du weißt, daß ich die Nazis vom ersten Tage an bekämpft habe, aber der Grad von Gefährdung und Opferbereitschaft, der heute von uns verlangt wird und vielleicht morgen von uns verlangt werden wird, setzt mehr als gute ethische Prinzipien voraus, besonders da wir wissen, daß der Erfolg unseres Kampfes wahrscheinlich den totalen Zusammenbruch als nationale Einheit bedeuten wird.“

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