Die letzten Enthüllungen zu Kardinal McCarrick haben in den USA ein Beben ausgelöst und eine ohnehin schon verwundete und ihrer selbst irrewerdende Kirche noch weiter verstört. Dazu hat nicht nur die Tatsache beigetragen, dass Theodore McCarrick als charismatische, politisch einflussreiche und in Rom wohl gelittene Bischofspersönlichkeit wahrgenommen worden war, dessen einstmals so strahlendes, öffentliches Image aber so gar nicht zu den moralischen Abgründen passen will, in die man durch die Kenntnis der gruseligen Details zu blicken hatte. Und diese Verstörung wurde auch nicht allein dadurch ausgelöst, dass McCarrick zum Symbol, ja geradezu zum Totem einer Enttäuschung wurde, die sich mit voller Verve gegen jene Bischöfe richtet, die – wie der unglücklich agierende Kardinal von Washington D.C., Donald Wuerl, – in den Sog der Krise geraten mussten, weil sie sich der Mitwisserschaft oder des Vertuschens, zumindest des Hinwegsehens schuldig gemacht hatten.
Vielmehr sind es auch die – sozusagen seismographisch – instabilen kirchenpolitischen Verhältnisse, die bewirken, dass es anders als nach der ersten Missbrauchskrise 2002 (bzw. für Deutschland: 2010) kaum mehr möglich sein wird, nach einer bestimmten Phase der Besinnung und Beratung zur Tagesordnung zurückzukehren. Diese kirchenpolitischen Kontexte bilden einen nicht zu vernachlässigenden Hintergrund, der den richtigen Umgang mit der Missbrauchskrise erschwert, ja die nötigen Diagnosen vielleicht sogar verstellt.
Auch wenn die US-amerikanische Situation aufgrund kultureller und politischer Unterschiede anders ist als die deutsche, lassen sich doch an den Faktoren und Kontexten, die zu der genannten Verunsicherung und zu den weiteren ekklesiologischen und strukturellen Folgen der Missbrauchskrise beigetragen haben, auch Herausforderungen für die deutsche Kirche ablesen, die mit der Publikation der sogenannten MHG-Studie im Jahr 2018 vor nicht geringeren Aufgaben steht. Auch hierzulande gerät eine eigentlich an Konsens und Gemeinsamkeit orientierte kirchliche Grundstimmung zusehends zwischen die Mühlen von sich antagonistisch gerierenden kirchenpolitischen Kräften, die jeweils für das eigene Lager markante Symbolfiguren in Kardinalsrot oder bischöflichem Violett für sich beanspruchen können.
Ein besonders schmerzhaftes, aktuelles Beispiel ist das Ringen um den synodalen Weg, das medial und dank römischer Interventionen zu einem Gezerre geworden ist. Dieser Weg wird von den einen als letzte Rettung begrüßt, von den anderen als zahnlose Veranstaltung schon im Vorfeld kritisiert, von einer dritten Partei als unnötiger Pleonasmus verworfen und neuerdings aus römischen Kanälen mit nicht unerheblichen kirchenrechtlichen Bedenken konfrontiert.
Unterhalb dieser Kakophonie werden Lagerbildungen der Deutschen Bischofskonferenz erkennbar, die kirchenpolitischen Schablonen entsprechen, die den Entwicklungen in der amerikanischen Kirche nicht unähnlich sind: „Reformierer“ stehen gegen „Evangelisierer“. Die einen predigen radikale Veränderung und Verheutigung, die anderen eine Rückbesinnung auf den katholischen Markenkern, der verloren zu gehen droht. Und mittendrin macht sich ein nicht immer aufrichtig und nicht hinreichend diskursiv ausgetragener Dissens über eben den Inhalt dieses Markenkerns breit: Was bedeutet es, angesichts der radikalen gesellschaftlichen Veränderungen der Spätmoderne und sich anbahnender neuer ideologischer Rigorismen, „katholisch“ zu sein?
Die historisch so minimalistische, manchmal zu formalistisch-machtorientiert wirkende, aber doch so weitherzig auslegbare Devise, dass sich Katholischsein letztendlich „nur“ in einer Übereinstimmung mit dem Papst zu erweisen habe, wird inzwischen durch die theologische Projektion zweier Päpste empfindlich gestört: Wem soll die Herde folgen? Dem sakrosankten Theologenpapst, der gleichsam auf dem Himmelfahrtsberg stehend sich letzter Weisungen nicht enthalten kann? Oder dem jesuitischen Pragmatiker, der von einer selbsternannten konservativen Elite als Papstpraktikant verunglimpft wird?
Natürlich sind die innerkirchlichen Oppositionsbewegungen in den USA um ein Vielfaches lauter und schriller, sodass man die dortigen Entwicklungen auch als eine Art Warnung begreifen kann, die uns zeigt, wie schnell und wie dramatisch die Missbrauchskrise zu einem auslösenden Faktor wird, der nicht nur die Glaubwürdigkeit, sondern schlussendlich auch die Einheit der katholischen Kirche ultimativ zerstört. Die zur Beschreibung antagonistischer Kräfte herangezogenen Unterschiedsmarkierungen zwischen „liberal“ und „konservativ“ erweisen sich vor diesem Hintergrund als reichlich stumpf, wenn wir auf der einen Seite Kräften und Parteiungen begegnen, die die kirchliche Hierarchie für unheilbar diskreditiert halten, während auf der anderen Seite bestimmte Kreise die Missbrauchskrise als Anlass nehmen, mit dem angeblich verlotterten Zeitgeist abzurechnen und sogar die Lehrautorität des amtierenden Papstes zu diskreditieren.
Drei Kontexte
Die innerkirchlichen Folgen der Missbrauchskrise lassen sich in den USA nicht ohne einen Blick auf spezifische Kontexte erhellen. Diese Kontexte sind anders als die der deutschen Kirche, aber bei aller Eigenart doch nicht unvergleichlich. Es braucht kaum Fantasie, um sich auszumalen, dass wir in Deutschland vor ähnlichen Problemen, Anfragen und Herausforderungen stehen werden, wie sie die amerikanische Kirche schon länger zu gewärtigen hat. Drei Hintergründe sind es, auf die im Folgenden das Augenmerk gelegt werden soll (es mag mehr und verästeltere, einschlägige Kontexte geben, die auffälligsten sollen daher in den Vordergrund gerückt werden): erstens, die Wucht der biopolitischen Fragen; zweitens, das Ringen um das Selbstverständnis katholischer Zugehörigkeit und Identität, drittens, der eigenartige Status von religiösen Überzeugungen in postmodernen Gesellschaften.
Der Ausdruck „Biopolitik“, der aus dem hellsichtigen diagnostischen Inventar Michel Foucaults stammt, versucht begrifflich eine Scharnierstelle zu bestimmen, bei der das Individuell-Körperliche gesellschaftlich relevant wird. Auf keinem Feld ist das historisch – und in der Diagnostik der kulturellen Entwicklungen und Abgründe hat Foucault Maßstäbe gesetzt – so markant festzustellen wie auf dem Gebiet der menschlichen Sexualität: Regularien, Tabus, Emanzipationsbestrebungen und Restriktionen verbinden sich mit den Bedingungen menschlicher Sexualität, sodass das Individuelle hier immer auch gesellschaftsrelevant wird, das Biologische immer sofort ein kulturelles Gegenstück, eine soziale Einhausung findet. In den USA ist der nicht zu befriedende Körperdiskurs zum Gegenstand eines Kulturkampfes geworden.
Greifbar ist dies etwa an Rod Drehers The Bendict Option, in der er angesichts einer christlich verlorenen Gegenwartswelt für einen zeitweisen Rückzug des Christlichen in Bastionen und Schutzgebiete des Glaubens wirbt, von wo aus die Neu-Missionierung der Gesellschaft auf der Basis der Sicherung der eigenen Werte und Traditionen initiiert werden soll. Diese sehr augustinisch anmutende Sicht auf die Gegenwartskultur entzündet sich nicht etwa an den neu anstürmenden nationalistischen Egoismen oder an den fragwürdigen Konsequenzen des ungebändigten globalen Kapitalismus, sondern an den Errungenschaften der Selbstaneignungsbestrebungen in Hinsicht auf die eigenverantwortlich gelebte sexuelle Bestimmung. Dreher wird nicht müde, sich an Homo-Ehe und Diversitätssensibilität, an fluider sexueller Identität und Transsexualität wund zu reiben, als ob davon der Kern der christlichen Botschaft bedroht wäre.
Natürlich ist es christlicherseits legitim, an den Selbstaneignungsdiskursen die Selbstermächtigungs- und Selbstgratifikationsmaximen zu bemängeln und überhaupt den Zerfall klassischer Familienwerte und Verbindlichkeitsvorstellungen angesichts einer so genannten „Hook-Up“-Culture zu beklagen, aber es erstaunt doch sehr, wie massiv die Bestimmung des Katholischseins offensichtlich auf jene Körperdiskurse eingeschränkt wird, die sich nur im Bereich zwischen Knie und Nabel abspielen. Dabei ist die umfassende Frage nach den Grenzen der Selbstaneignung der menschlichen biologischen Natur vielleicht die Gegenwartsfrage schlechthin – wenn wir an die Möglichkeiten des maschinell-technologischen Enhancement, an die Manipulation des menschlichen Erbguts, an artifizielle Verbreiterung unserer Leib-Sphäre durch elektronische und digitale Medien denken.
Auf diesem perspektivisch erweiterten Feld eines umfassenden Körperdiskurses hätte ein Glaube, der an der Erdschwere der Inkarnation festhält, sicherlich etwas Prophetisches, Verstörendes, Entlarvendes und Tröstendes zu sagen. Stattdessen lassen sich katholische Glaubenshüter in den USA vor den Karren viktorianischer Sexualtabuisierung spannen und tragen dazu bei, dass Katholischsein mehr und mehr mit einem Ressentiment gegenüber den Zeitläuften identifiziert wird.
Die Selbstaneignungsfragen, aber auch die innerkirchliche kulturkämpferische Attitüde haben dazu geführt, dass die prophetische Dimension christlicher Sexualmoral und Ehetheologie nicht mehr ansichtig wird: Hat die klassische auf Konsens, Freiwilligkeit, Hingabe und Liebe gebaute Ehetheologie immer auch impliziert, dass der Körper eben nicht der Herkunftsfamilie, dem Oberhaupt des Clans, dem Staat oder sonst einer an „Zucht“, Arrangement und sexuellen Dirigismen interessierten Kraft gehört, sondern in letzter Konsequenz Gott (und mir als einem verkörperten Wesen), so mutierte eben diese prophetische und bisweilen anarchische Botschaft unter den Bedingungen modernen Selbstverantwortungsdenkens zu einem, mit einem hyperromantischen Personalismus nur bedingt zu belebenden vertrockneten Ausschlusskatalog, der sich nunmehr selbst des externalistischen Dirigismus schuldig zu machen scheint.
Die Frage nach der Eigenart katholischer Identität wurde, wie Ross Douthat in seinem Buch Bad Religion: How We Became a Nation of Heretics herausgestellt hat, für die Kirche in den USA besonders seit den 1970er Jahren zu einem bohrenden Problem, weil gleich zwei Entwicklungen zu bewältigen waren: Zum einen musste eine Ernüchterung und Erkaltung verdaut werden, die sich einstellte, als eine durch die Atrozitäten des 20. Jahrhunderts erwirkte hohe Nachfrage nach den Deutungsmöglichkeiten, die in der christlichen Botschaft lagen, langsam abkühlte und einer zunehmend individual-religiösen und leicht synkretistischen Tendenz Platz machte.
Diese Entwicklung ist in der genannten Zeitspanne über nahezu alle christlichen Denominationen hereingebrochen – und nur besonders evangelikal orientierte, fundamentalistische Kreise konnten sich ihrer zeitweise erwehren. Für manche schien diese Beobachtung eine Legitimationsbasis dafür zu sein, die breite Zustimmung zur Botschaft der Konturschärfte des eigenen Standpunkts unterzuordnen – mit martyrologischen Überhöhungen der zunehmenden eigenen Marginalität.
Solche Relevanzbeunruhigung übersieht aber, dass der hohe Zuspruch zum Christentum in den westlichen Gesellschaften in der Mitte des 20. Jahrhunderts. durch die kontigenten Katastrophen des 20. Jahrhunderts. ausgelöst worden war, die ganz neu nach einer Deutung von Schuld und einer Hoffnung auf Erlösung fragen ließen. Dabei hatte das ausgehende und beginnende 19. Jahrhundert dem christlichen Glauben einige Brocken in den Weg gelegt, die schon seinerzeit zu Konjunktureinbrüchen führten: z.B. den nicht ausgetragenen Streit zum Verhältnis von Glaube und Wissenschaft, Gottesfrage und Natur, Schöpfungstheologie und Evolution. Es ist keine Überraschung, dass diese nicht vollständig bearbeiteten und in einigen christlichen Denominationen sogar restriktiv und reaktionär behandelten Themen nach der Hochkonjunktur christlicher Zustimmungswerte wieder neu auf der Tagesordnung stehen. Es ist fast so, als hätte sich ein Nebel verzogen und der christliche Glaube muss sich in einer wissenschaftsgläubigen und zunehmend naturromantischen Atmosphäre erneut beweisen.
Für die katholische Kirche kam aber in den 1970er Jahren eine weitere, innerkirchliche Herausforderung hinzu: die Verarbeitung des Zweiten Vatikanischen Konzils. Für die einen wurde dieses Konzil zum Inbegriff einer sinnvoll angelegten, aber in den zu ziehenden Konsequenzen letztendlich stecken gebliebenen Reform der Kirche, die zum ersten Mal seit dem 16. Jahrhundert eine produktive, dialogische und aneignende Antwort auf die stetigen Anfragen gefunden zu haben schien.
Für die anderen wurde das Vaticanum II zum Symbol eines schleichenden Ausverkaufs, einer zunehmenden Anbiederung an den Zeitgeist, einer fortschreitenden Entkernung der katholischen Charakteristika, die mit einer Tradition identifiziert werden, die (pikanter Weise) de facto nur bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht. Peter Steinfels beschreibt in A People Adrift. The Crisis of the Roman Catholic Church in America wie sehr die antagonistischen Deutungen von Irrelevanz und Reformbedarf die kirchenpolitische Szenerie in den USA geprägt haben.
Seit Paul VI. hat Rom versucht, dieses Ringen zu befrieden oder das eine Lager gegenüber dem anderen durch gezielte Bischofsernennungen zu stärken. Aber bis heute hält diese leicht ins Schismatische kippende Situation an, in der sich „Akkommodisten“ und „Abschotter“ gegenüberstehen, die einen jeweils diametral entgegengesetzten Umgang mit der umgebenden Kultur predigen: Soll die Kirche die Ergebnisse der jüngsten Emanzipationsbewegungen endlich anerkennen und sich zum Sachwalter globaler Gerechtigkeit machen? Oder soll sie sich in eine Bastion traditioneller Werte zurückziehen und die Gegenwartskultur vornehmlich mit einer Diagnose ihrer Abgründigkeit konfrontieren? Die Unversöhnlichkeit dieser Positionen wird inzwischen verstärkt durch die Grabenkämpfe und ideologischen Einigelungen der führenden politischen Parteien in den USA, die gesellschaftliche Spaltungen widerspiegeln (und gleichzeitig befördern), von denen die katholische Kirche nicht unbeeinflusst bleiben konnte.
Der dritte Kontext ist die Situation von Religion in der postmodernen und pluralen Gesellschaft überhaupt. Was Vincent Miller in seinem Buch Consuming Religion: Christian Faith and Practice in a Consumer Culture für die USA festgestellt hat, gilt wohl für alle westlichen Länder inzwischen gleichermaßen: Religionen und religiöse Überzeugungen sind zu Konsumgütern geworden, die auf einem Weltanschauungsmarkt durchaus nach Marktgesetzten miteinander konkurrieren. Verfügbarkeit und Dienlichkeit – etwa die Erfüllung bestimmter Sinngebungszwecke oder die Hilfe zur Bewältigung existenzieller Kontingenzerfahrungen – bestimmen die Prosperität einer Marke genauso wie die klare Erkennbarkeit eines Markenkerns.
In der Frage, ob im Gefolge von Obamacare der Staat die Kirchen zwingen könne, bei der Gesundheitsfürsorge für Angestellte auch einen Versicherungsschutz zu bezahlen, der Kontrazeptiva enthält, haben katholische Bischöfe in den USA nicht primär mit der katholischen Morallehre argumentiert, sondern mit der Religionsfreiheit: mit dem Recht auf eigene Überzeugungen, was nichts anders bedeutet, als dass hier gegen eine staatlich verordnete Regulierung des religiösen Marktes Einspruch erhoben wurde. Und wer mit einem gewissen Staunen die Gespräche zwischen katholischen Bischöfen und evangelikalen Führungspersönlichkeiten um biopolitische Fragen betrachtet, wird sich an joint ventures und andere marktanaloge Vorgänge erinnert fühlen.
Die Dynamik einer Marktlogik, mit der und in der religiöse Überzeugungen beurteilt bzw. gerastert werden, sollte für die Gegenwartssituation nicht unterschätzt werden. Hans Joas wehrt in seinem Buch Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums zwar die etwas voreilige Vorstellung ab, Menschen der Spätmoderne würden religiös promisk agieren und keinerlei Verbindlichkeit mehr kennen, gleichwohl lässt sich nicht leugnen, dass der Blick auf religiöse Überzeugungen und die Institutionen, in denen sie verkörpert sind, unter verstärkt pragmatischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Die Erhöhung der Optionalität in der Zustimmung zu religiösen Überzeugungen erzeugt eine Vervielfältigung und einen zunehmend kontingenten Status der religiösen Überzeugungen, sodass ihre Zugehörigkeit und Verbindlichkeit von allerlei außerrationalen Kriterien bestimmt wird – eben auch einer pragmatisch orientierten konsumeristischen Logik, wie Vincent Miller es herausstellte.
Greifbar wird diese pragmatisch-konsumeristische Orientierung an drei Imperativen, denen religiöse Überzeugungen marktlogisch mehr und mehr zu gehorchen haben: Ein Authentisierungsimperativ fordert, dass religiöse und spirituelle Inhalte sich mit dem eigenen Leben, der eigenen Lebensdeutung und Biographie zur Deckung bringen lassen müssen, ansonsten werden sie als irrelevant betrachtet. Ein Emotionsimperativ hat, wie Alasdair MacIntyre schon vor Jahrzehnten süffisant bemerkte, dazu geführt, dass ethische Entscheidungen ultimativ auf starke leitende Gefühle gestützt werden; Analoges wird auch von religiösen Gehalten gefordert: Sie müssen sich in Gefühlen bestimmter Art zuspielen, um als wirklichkeitstreffend zu gelten. Und mindestens ebenso stark wirkt sich ein therapeutischer Imperativ aus, der von Religion fordert, dass sie in der Lage sein muss, reale Lebens-Probleme besonders an den Gelenkstellen einer Biographie erfolgreich auszuheilen.
Was die Missbrauchskrise in den Kontexten bedeutet
Die drei skizzierten Kontexte – und sie sind, wie bereits betont, nur exemplarisch ausgewählt – ergeben schon von sich aus einen Hintergrund, vor dem kirchliches Christentum eine ungesunde Farbe annimmt: Die auf Sexualität restringierte, biopolitisch-kulturkämpferische Emphase bildet politische Antagonismen auch im Inneren der Kirche ab. Die Frage nach dem Kern des Katholischen lässt Exklusionsrhetorik und auch handfeste Exklusionsmechanismen entstehen, während in einer rigorosen Wettbewerbslogik der Weltanschauungen die moderaten Konsensfindungsbemühungen sehr schnell als flaue Kapitulation vor dem Gebot der Schärfung des Profils gelten können. Der Missbrauchsskandal addiert hier nicht einfach eine neue zu schon bekannten Krisen, sondern bildete in den USA den sprichwörtlichen Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte.
So stellt die Missbrauchskrise im Rahmen der biopolitischen Kontroverse für nahezu alle kirchenpolitischen Flügel den Ausweis eines exorbitanten Scheiterns dar: Hat die klassische katholische Sexualmoral und Ehetheologie unter den Bedingungen der oben beschriebenen Selbstaneignungsmaxime ihren prophetischen Stachel verloren und findet sich in einer Daueropposition zu verantwortungsethisch zu regelnden Bedingungen der Selbstaneignung des Körpers wieder, aus denen schlussendlich eine gesellschaftlich konsensfähige Ethik der sexuellen Selbstverantwortung resultieren soll, so geht mit dem Aufdecken der Dimensionen sexueller Gewalt, die von Amtsträgern an Abhängigen und Unmündigen verübt wurde, der moralische Kredit dieser Oppositionsperspektive vollkommen verloren. Die kulturkämpferische Attitüde wird zur Farce.
Und dieses Gefühl für verlorenes Glaubwürdigkeitskapital oder für eine sich abzeichnende Farce gehört zu jenen Motiven, die einflussreiche katholische Laien-Persönlichkeiten in den USA bewogen haben, mit monetärem und politischem Druck eine Veränderung der Kirche an der Hierarchie vorbei zu fordern. Denn insbesondere die Glaubwürdigkeit der Bischöfe, denen der Schutz der Lehre und der Gläubigen anvertraut ist, ist auf unabsehbare Zeit verspielt. Mit einem Mal gehörten Bischöfe in der Außenwahrnehmung in dieselbe Kategorie wie jene fragwürdigen politischen Zyniker, die im Privaten oder im abgekapselten Zirkel der Exekutivgewalt das Gegenteil von dem tun, was sie im öffentlichen Rahmen unter dem Druck von Diskursen beteuern. Anders als der politische Raum lebt der kirchliche Raum von Glaubwürdigkeit und moralischer Integrität. Den biopolitischen Kampf um die Deutung und moralische Sanktionierung körperlicher Selbstaneignung und sexueller Selbstverantwortung hat die Kirche als Institution in den USA aber vorerst verloren. Jede exklusivistisch argumentierende Sexualmoral trägt fortan das Wasserzeichen des degradierten Kardinals Francis McCarrick.
Das Ringen um die katholische Identität bringt – befördert durch die Missbrauchskrise – nachgerade gefährliche Narrative hervor, die eine an echter Diagnose, nachhaltigem Schuldeingeständnis und institutioneller Schamkultur orientierte Aufklärung der persönlichen und systemischen Faktoren nicht nur erschwert, sondern behindert. Zwei Narrative stehen sich in einer gewissen Ausschließlichkeit gegenüber. Man mag sie „liberal“ und „konservativ“ nennen, hat damit aber – wie oben schon angedeutet – nur altbackene Etiketten benutzt, die für eine treffende Beschreibung der antagonistischen Kräfte nicht mehr richtig taugen. Sprechen wir daher lieber formal von einem ersten und einem zweiten Narrativ.
Das erste Narrativ sieht die Krise als Folge einer nicht ausreichenden Öffnung der Kirche auf die Moderne hin. Bemängelt wird eine mangelhafte Umsetzung des Konzils, die insbesondere an einer Re-Sakralisierung des Amtes deutlich werde, aber noch mehr an einer strukturellen Abschottung der Machthaber, an der Unfähigkeit der Verantwortlichen, die kirchliche Morallehre auf ihre Lebbarkeit hin zu überprüfen, mit der Schuld der Täter und dem Elend der Survivors adäquat umzugehen. Kritisiert wird ein System, in dem autokratische Entscheidungsvollmachten dank des Ausfalls von kirchenverfassungsmäßig festgeschriebenen Kontroll- und Mitbestimmungsinstanzen gedeihen können, sodass Täter lange Zeit unter einem Schutzmantel verblieben. An den schrillen Extremen dieses Narrativs hören wir die Geschichte von einem mit hierarchischer Obödienz organisierten, zu Geheimhaltung und Vertuschung neigenden Männerbund und von sogenannten Lavendel-Netzwerken, die im Verbund mit Geldwäsche-Kreisen und einer dadurch erpressbaren Kurie alles andere als eine wirkliche Aufklärung der Probleme wollte.
Auch das zweite Narrativ beginnt mit durchaus nachvollziehbaren Beobachtungen und steigert sich ebenfalls in eine schrille Verschwörungstheorie hinein: Verantwortlich gemacht für die Krise wird ein angeblicher Ausfall des Sündenbewusstseins, ein disziplinloser und moraltheologisch verwahrloster Klerus, die Infiltration durch egoistische, selbst-absorbierend hedonistische Lebenseinstellungen u.a.m. Am schrillen Ende dieses zweiten Narrativs finden sich handfeste Verschwörungstheorien, die eine freimaurerische oder satanistische Unterwanderung der Kirche am Werk sehen und verdeckt oder offen sedisvakantistische Theorien spinnen.
Beide Narrative mögen an der einen oder andere Stelle das berühmte Quäntchen Wahrheit enthalten, aber sie sind ummantelt von den hermeneutischen Verzerrungseffekten, die ideologische Voreingenommenheiten nun einmal mit sich bringen. Man erkennt die Abriegelungs- und Diskursverweigerungstaktik solcher ideologischen Voreingenommenheiten letztendlich daran, dass sie in sich konsistente Erklärungen zu liefern vermögen, die aber keine Falsifikationsbasis mehr aufzuweisen imstande sind. Nüchterne Erkenntnisse zu den, den Missbrauch begünstigenden, psychologischen oder systemischen Faktoren, zu Täter- und Betroffenenprofilen dringen in diese abgeriegelten Geschichten nicht mehr ein.
Die Krise hat die Frage nach der Identität des Katholischen noch einmal verschärft, das Verhältnis von Kirche und Welt neu auf die Agenda gesetzt und in den USA gleichzeitig hermeneutisch anleitende kirchenpolitische Kräfte entfesselt, die eine sachgemäße Beantwortung dieser Fragen schier unmöglich machen. Aber auch die Art und Weise, wie sich „Reformer“ und „Evangelisierer“ im deutschen Episkopat begegnen und sich gegenseitig auszumanövrieren versuchen, lässt erahnen, welche antagonistischen Narrative sich hierzulande im Formierungsprozess befinden.
Dass sich die Missbrauchskrise – um noch einmal auf den dritten und letzten Kontext zu sprechen zu kommen – in einer marktlogischen Atmosphäre desaströs auf die Stellung der katholischen Markenrelevanz auswirken muss, bedarf an dieser Stelle wohl keiner weiteren Erläuterung. Das Warensortiment eines verwahrlost erscheinenden Anbieters besitzt – bei aller Güte, die die einzelnen „Produkte“ je für sich noch besitzen mögen – keine Attraktivität mehr. Da hilft es auch nichts, die unerbittlichen Gesetze dieser Marktlogik zu verteufeln und sich in eine Situation hinein zu wünschen, in der man die eigene Botschaft von der Relevanz und der Nachfrage trennen könnte.
Die deutsche Situation mag noch einmal anders, gedämpfter, weniger extrem sein als die US-amerikanische. Noch immer wirkt sich das Erbe der „Lehmann“-Kirche verhalten positiv aus: Konsens und Zusammenhalt gelten nach wie vor als Tugenden. Daher dürfte es durchaus der Fall sein, dass sich vergleichbare antagonistische kirchenpolitische Kräfte in der deutschen Kirche ebenso nachhaltig und unversöhnlich festsetzen werden wie in der amerikanischen.
Aber es gibt auch in Deutschland eine vergleichbare dritte, unsichtbare und ungehörte Kraft, mit der sich die US-Bischöfe (allen voran der Vorsitzende der Bischofskonferenz: Kardinal Daniel DiNardo) ebenfalls neuerdings sehr bewusst und im Tonfall fast verzweifelt auseinandergesetzt haben – eine Kraft, die vielleicht sogar wichtiger ist als jene Schreihälse, die dank digitaler Plattformen ihre extremen Deutungen und Narrative ungefiltert in die Welt verbreiten können: Es handelt sich um die stetig wachsende Gruppe der schweigend Resignierten, die sich mehr und mehr von der Kirche abwenden und von der Kirche nichts mehr erwarten. Sie finden sich sowohl unter denen, die die Kirche formal verlassen haben, als auch unter jenen, die sich noch in kirchlichen Kontexten zeigen, sich hauptamtlich oder ehrenamtlich für sie engagieren, aber doch im Ernst nicht mehr das Bekenntnis über die Lippen bringen, dass die reale katholische Kirche für sie wirklich ein Sakrament des Heils ist. Diese schweigende, an der Schwelle stehende, über die Schwelle schreitende Gruppe gehört zweifellos zu den kollateralen Opfern der Missbrauchskrise. Die schweigend Resignierten endgültig zu verlieren, bedeutete nicht nur einen Verlust der Einheit, sondern letztlich der Substanz der Kirche.