Musik hat eine erlösende Kraft, die uns miteinander und mit der Welt, in der wir leben, versöhnt. Sie ist unser Glück, unser Privileg – und entschieden unsere Verpflichtung als ausübende Musiker.
Musikalisches Erbe weitergeben
Wir geben das musikalische Erbe der Vergangenheit an ein Publikum der heutigen Generationen weiter, und es ist unsere Aufgabe, der Resonanz nachzuspüren, die die Musik, die wir aufführen, bei den Zuhörern hat oder haben kann, und heute findet: was die Jahre überdauert, was gar ewige Gültigkeit zu besitzen scheint, oder aber auch, was plötzlich sein Publikum unerwartet mit ganz außergewöhnlicher Kraft erhellt. Werke, die manchmal dazu verdammt schienen, unbeachtet und unaufgeführt in Bibliotheksregalen zu verstauben, können plötzlich neu eine erstaunliche Aktualität und Dringlichkeit erlangen.
Natürlich hängt viel von den Interpreten ab, von der undefinierbaren Art und Weise, wie es einigen gelingt, eine Chemie mit dem Zuhörer aufzubauen, und wie sie mit ihrer Herangehensweise, ihrem Einsatz und ihrer Leidenschaft zu überzeugen vermögen. Und das führt zum Thema einer stilbewussten Herangehensweise. Sie besteht darin, die für einen Komponisten und eine Komposition spezifische Klangwelt zu erfassen und die Aufführung damit in Gleichklang zu bringen. Das hat viele von uns seit fünfzig Jahren und mehr beschäftigt, und ganz besonders all jene mit unstillbarem Geschichtsdurst und daher einer Faszination für die Wiederherstellung (soweit menschlich möglich) des ursprünglichen Kontexts, in dem die Musik entstand: Wer hat sie zu welchem Anlass, mit welchen Instrumenten, in welcher Stimmenbesetzung und mit welchen ästhetischen Zielen in Auftrag gegeben?
All dies war Teil einer wachsenden Reaktion auf den „One-Style-Fits-All“-Ansatz, mit dem, tendenziell, klassische Musik zumindest bis in die 1950er Jahre – und in einigen Fällen noch lange danach – aufgeführt wurde. Dagegen bildeten sich die Ursprünge für die Bewegung der historischen Aufführungspraxis heraus. Als siebzehnjähriger Schüler fand ich es sehr störend, Bachs h-Moll-Messe zu erleben in einer Interpretation, nicht zu unterscheiden von Mahlers Lied von der Erde – beides Meisterwerke, aber entgegengesetzte.
Klassische Musik wird neu bewertet
Jedoch, ob man will oder nicht: In der Umkehr hat im vergangenen halben Jahrhundert mittlerweile die historische Aufführungspraxis einen kolossalen Einfluss auf die Art und Weise erlangt, wie klassische Musik wahrgenommen und neu bewertet wurde. Am Anfang freilich stand diese historische Aufführungspraxis mit nur einem sehr kleinen Pool unerschrockener Pioniere da – oft Autodidakten (und wir sollten keinesfalls die mutige, bahnbrechende Arbeit von führenden Leuten wie Harnoncourt, Leonhardt, Brüggen und den Brüdern Kujken unterschätzen).
Die frühen Versuche, Klangwelten der Vergangenheit neu zu erschaffen, waren oft noch amateurhaft; Übertreibungen und Fehlstarts erregten den Spott vieler traditionell gesinnter Berufsmusiker. Diese ghettoartige Teilung in zwei Lager dauerte bis in die 1960er Jahre und hinterließ Narben. Meine Erinnerungen an diese frühen Jahre sind bittersüß. Da bleibt Hochgefühl und Stolz im Rückblick auf alle Grenzüberschreitungen und -erweiterungen – ob es darum ging, Monteverdi dem englischen Publikum in den 1960er Jahren vorzustellen, oder dem traditionell gesinnten Publikum in Ansbach in den 1970er Jahren eine radikal andere Herangehensweise an Bachs Chormusik vor Ohren zu führen, ähnlich bei den Händel-Festspielen in Göttingen Händel-Oratorien neu hörbar zu machen; oder das französische Publikum wieder in die barocke Herrlichkeit von Rameaus Opern einzuführen. Aber jene frühen Jahre waren auch geprägt von den Kämpfen, Mäzenatentum und Sponsoring für unsere Arbeit zu finden und zu sichern.
Rückblickend hat sich die Situation grundlegend geändert und das meist zum Guten. Die Offenbarungen, aus denen die radikalen Neubewertungen der Musik der letzten 400 Jahre entsprangen und das Repertoire begleitet haben, sind von großen Labels weithin begrüßt, akzeptiert und in Einspielungen umgesetzt worden. Der Kampf um technisch einwandfreie Ausführungsstandards ist weitgehend gewonnen und anerkannt, Skepsis und Hohn sind größtenteils verstummt. Dass manche Musiker immer wieder von Orchestern auf Standard-Instrumenten zu historischen Instrumental-Ensembles überwechseln, hat Kanäle eröffnet, die wiederum eine stilistische Durchdringung ermöglichten, wo zuvor Bollwerke sich gegenseitig voneinander abschirmten. In der Folge zeigt sich heute gegenüber früher bei den besten modernen Orchestermusikern eine weitaus größere Flexibilität und eine echte Neugierde aufs Lernen, Anpassen und Experimentieren.
Ich habe die Verwendung historischer Instrumente nie als Selbstzweck oder als Tor zu einer magischen Welt der „Authentizität“ gesehen. Nein, vielmehr als Ausgangspunkt zu Erforschung und stilistischer Erkundung. Als Gastdirigent zur Arbeit mit solchen Orchestern eingeladen, habe ich es immer als Teil meiner Verantwortung gesehen, ihnen mein historisches und stilistisches Verständnis zu vermitteln und mit ihnen zu teilen – nicht, um eine Kopie oder Nachahmung eines historischen Instrumentariums zu erreichen, sondern als Schritt hin zu einer spannenden Synthese zwischen dem Eigenklang eines herausragenden Orchesters und meinem eigenen Ansatz in der historischen Aufführungspraxis.
Der fortwährende Prozess der Aufführungspraxis
Ist der Kampf um die historische Aufführungspraxis also gewonnen? Hat sich ein gesondertes Bewusstsein davon inzwischen erübrigt? Absolut nicht! Die Auseinandersetzung und ihre Umsetzung in historisch bewusste Praxis sind ein fortwährender Prozess, Zeichen einer grundlegenden Neugier, angereichert im erforschenden Nachdenken und gipfelnd in tiefgreifender Aufarbeitung. Während sich die Unterschiede zwischen einem „modernen“ und einem „zeitgenössischen“ Ansatz allmählich verringern, wenn man sich dem Ende des 19. Jahrhunderts nähert, sind – um nur zwei Beispiele zu nennen – bei der Rekonstruktion von Debussys Klangwelt, oder der Strawinsky-Ballette aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, immer noch Entdeckungen zu machen.
Nur weil in den 1980er bis 1990er Jahren so viel Neues zu entdecken war in den Ansätzen, die einige von uns im Zuge des Umdenkens unserer Herangehensweise und der Neubewertung der Musik von Bach, Händel, Rameau, Gluck, Haydn und Mozart entwickelt haben, heißt das nicht, dass wir alle jetzt wissen, wie diese Musik laufen sollte. Denn wir würden damit zu einer faulen Denkweise einladen, die eine Orthodoxie durch eine andere austauscht. Das wäre eine Farce der Prinzipien, die historischer Aufführungspraxis zugrunde liegen: genau etwa so, wie sie die übertriebene, wenngleich viel gerühmte Interpretation von Mozarts Opern mit schwindelerregenden Tempi und enormen Freiheiten in der Phrasierung und Struktur darstellt, die in den letzten Jahren entstanden ist – ein Fall von des Kaisers neue Kleider.