Es steht fest: Bei Orlando di Lasso haben wir es mit einem der bedeutendsten Komponisten der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu tun, vielleicht überhaupt mit dem größten Musiker seiner Zeit. Dass ein Komponist seines Ranges eine Gesamtausgabe verdient hat, steht außer Zweifel. Im Jahr 2021 ist die von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften betreute Ausgabe fertiggestellt worden ist. Sie kann auf eine lange und komplexe, mitunter schwierige, gerade deshalb aber auch spannende Entstehungsgeschichte zurückblicken, insgesamt auf eine Erfolgsgeschichte, über die im Folgenden zu berichten ist. Zudem sei ein Einblick in die Arbeit gegeben, quasi in die Werkstatt, in der so eine Ausgabe entsteht und auf welche mitunter faszinierenden Ergebnisse man kommen kann.
Zu seinem Leben
Lasso hat als Hofkapellmeister der bayerischen Herzöge Albrecht und Wilhelm München erstmals zu einer Musikstadt von europäischem Rang gemacht. Zunächst sei er kurz vorgestellt; die nach wie vor gültige Biographie hat Horst Leuchtmann im Jahr 1976 vorgelegt. Das Geburtsjahr Lassos wissen wir nicht; es kann 1530 oder 1532 gewesen sein; gelegentlich wird auch 1531 angegeben, so bei Annie Coeurdevey in ihrer Biographie zu Lasso aus dem Jahr 2003.
Seine Jugend war abenteuerlich. Er war als Kind wohl schon ein exzellenter Sänger, weswegen er aus dem Chorknabeninternat in seiner Heimatstadt Mons in der Wallonie dreimal entführt wurde. Ein übrigens durchaus öfter praktiziertes Verfahren; Lasso war beileibe nicht der einzige, dem das widerfuhr. Wilhelm V., Lassos zweiter „Chef“ am Münchner Hof, empfahl seinem Rat Anselm Stöckl, auf eben diese Weise Chorknaben zu beschaffen. Lasso selbst wurde zweimal von seinen Eltern zurückgeholt, bei der dritten Entführung – im Jahr 1544, als er 12 oder 14 Jahre alt war – blieb er bei seinem Entführer, dem Vizekönig von Sizilien und kaiserlichen Feldherrn Ferrante Gonzaga und folgte diesem nach Palermo und nach Mailand.
Seit 1549 lebte er für etwa drei Jahre in Neapel. 1551, im zarten Alter von 19 oder 21 Jahren, wurde er Kapellmeister an San Giovanni in Laterano in Rom. Diesen Posten gab er 1554 auf, um seine kranken Eltern zu besuchen, die er jedoch nicht mehr lebend antraf. Anschließend reiste er nach Frankreich und wohl auch nach England; danach ließ er sich als freischaffender Künstler in Antwerpen nieder, wo er sich im Kreis reicher Familien bewegte und sicherlich auf deren Mäzenatentum und Wohlwollen angewiesen war. In diese Zeit fallen auch die ersten Drucke mit seiner Musik: Motetten, Madrigale und Chansons, womit er schon zu Beginn seiner Karriere Vielseitigkeit unter Beweis stellte.
Freischaffend in Antwerpen, das war natürlich längerfristig keine Perspektive. Lasso brauchte und suchte eine feste Stelle. Sein erster Druck mit Motetten, 1556 bei Johannes Latio in Antwerpen erschienen, ist dem Bischof von Arras Antoine Perrenot de Granvelle gewidmet, eine Persönlichkeit, von der übrigens Friedrich Schiller in seiner Geschichte des Abfalls der Vereinigten Niederlande von der spanischen Regierung ein nicht gerade schmeichelhaftes Portrait gezeichnet hat. Lasso hatte wohl die Absicht, sich damit an die Kantorei der Kathedrale von Arras zu bewerben; vielleicht strebte er gar eine Stelle bei Philipp II. von Spanien an. So kam es nicht; über Granvelle und die Fugger wurde ein Kontakt zum Münchner Hof hergestellt; ab Herbst 1556 lebte Lasso in München, wie Ignace Bossuyt nachweisen konnte.
Sein erstes Gehalt wird ihm 1557 ausbezahlt; er erhält 180 Gulden, und damit mehr als der Hofkapellmeister Ludwig Daser, der mit 150 Gulden zufrieden sein musste. Dies deutet auf eine von Beginn an herausgehobene Stellung Lassos. Trotzdem scheint er sich in München zunächst nicht wirklich wohl gefühlt zu haben, wie diverse Briefwechsel bezeugen. Er war sicherlich auch nicht der Wunschkandidat Herzog Albrechts V., dessen Lieblingskomponist Cipriano de Rore war.
Lasso wird sich aber bald eingewöhnt haben, denn schon 1558 heiratet er Regina Wäckinger, die Zofe der Herzogin Anna. Und auch Albrecht wird rasch Lassos Genie erkannt haben; er erteilte ihm diverse Kompositionsaufträge, darunter die Vertonung der Sieben Bußpsalmen, überliefert in einem zweibändigen, aufwändig Seite für Seite ausgemalten Chorbuch in der Bayerischen Staatsbibliothek. Auch ein mutmaßlich auf die Herzogin bezogenes Gedicht Anna, mihi dilecta, veni ist wohl als Auftragskomposition Albrechts in Lassos früher Münchner Zeit zu verstehen; es ist – beeinflusst von Cipriano de Rores Stil – hochchromatisch komponiert. Und es fällt auf, dass Lasso die Motette erst nach Herzog Albrechts Tod 1579 publiziert hat; Albrecht hat das Stück also mutmaßlich für den Gebrauch nur bei Hof reserviert, was damals durchaus üblich war. Auch die Bußpsalmen waren übrigens für den Münchner Hof vorbehalten; dennoch gelang es dem Schreiber, der die Noten in das erwähnte reich illuminierte Chorbuch eingetragen hat, Teile davon aus dem Hof herauszuschmuggeln. Zur Wut des Herzogs, der den entflohenen Übeltäter bestraft wissen wollte.
Mit seiner Anstellung in München endet Lassos vorher doch recht unstetes Leben, da er hier bis zu seinem Tod am 14. Juni 1594 ansässig war. Zwar war er immer wieder auf Reisen: Mehrmals begleitete er den Herzog mit Musikern der Hofkapelle zu Reichstagen und ähnlichen politischen Ereignissen. Auch allein reiste er im herzoglichen Auftrag: Im Jahr 1573 nach Wien zu Kaiser Maximilian II., um diesem Geschenke Albrechts V. zu übergeben, oder auch, um Sänger und Musiker für den Münchner Hof anzuwerben. Und 1571 ging Lasso nach Paris; er musste dem Herzog aber versprechen, nach München zurückzukehren. Eine Aufstockung des Gehalts wird Lasso die Rückkehr wohl erleichtert haben. Die letzte große Reise des im Alter sehr fromm gewordenen Komponisten dürfte im Herbst 1585 eine Wallfahrt nach Loreto gewesen sein, von der eine Votivtafel mit einem Kanon über Sancta Maria, ora pro nobis erhalten ist, die erst vor einigen Jahren entdeckt wurde, aber noch in die Gesamtausgabe (Band 11, S. 195 und S. CXIV) aufgenommen werden konnte.
Trotz vieler Reisen war München Lassos Lebensmittelpunkt. Davon zeugt die erwähnte Ehe mit Regina Wäckinger, aus der auch zwei Kinder, Ferdinand und Rudolph, hervorgingen, die später auch Musiker wurden. Davon zeugt auch die Freundschaft mit dem Erbprinzen Wilhelm, die durch zahlreiche Briefe Lassos an den Prinzen dokumentiert ist. 1562 oder 1563 wurde er Hofkapellmeister. 1567 erwarb Lasso sein erstes Haus auf dem Platzl in der Graggenau, 1581 kam ein zweites Haus hinzu; beide stehen auf dem Grund, an dem 1899/1900 das Orlando-Haus erbaut wurde. Als er 1580 einen Ruf auf die Hofkapellmeisterstelle in Dresden erhielt, lehnte er ab. Er werde allmählich alt, ließ der 48- oder 50-Jährige den sächsischen Kurfürsten August wissen, außerdem habe er Grundbesitz. In der Tat besaß Lasso über seine zwei Münchner Häuser hinaus Immobilien, so in Schöngeising und in Putzbrunn. Er war also, das kann man getrost sagen, ein wohlhabender Mann.
1590 oder 1591 erlitt er einen gesundheitlichen Zusammenbruch, vielleicht einen Schlaganfall. Er hat zwar überlebt und konnte weiterkomponieren, weil der herzogliche Leibarzt Thomas Mermann ihn behandelt hat; einige seiner bedeutendsten Kompositionen, so die Lagrime di San Pietro, stammen aus der Zeit danach. Seine Frau Regina berichtet aber 1595 in einem Brief an Wilhelm V., dass er „nit mer wie var Recht frelig warn alzeit stil vnd vil von seinem dot geredt“ hat. Mit der Fröhlichkeit Lassos war es also vorbei, in seinen letzten Jahren muss er melancholisch, wenn nicht gar depressiv gewesen sein; offenbar hatte er den herannahenden Tod vor Augen.
Zum Werk
Lasso war außerordentlich produktiv. Die Gesamtausgabe umfasst stolze 47 Bände. Das Werkverzeichnis zählt 1197 zwischen 1555 und 1622 erstgedruckte Kompositionen und 162 zeitgenössisch nur handschriftlich überlieferte Werke; nur bei wenigen Sätzen ist Lassos Autorschaft anzuzweifeln. 1197 gedruckte Kompositionen, die in insgesamt 483 derzeit bekannten Drucken aus den Jahren 1555 bis 1687 überliefert sind – die vielen instrumentalen Bearbeitungen sind dabei nicht mitgezählt – das ist immens. Seine Werke sind u. a. in München, Nürnberg, Paris, Antwerpen, Venedig, Rom, Mailand, Straßburg erschienen. Einige Stücke waren in 25 und mehr Drucken überliefert; um seine Werke führten Verleger gegeneinander Prozesse, wie Leuchtmann in seiner Biographie schreibt. Auch die handschriftliche Verbreitung von Lassos Œuvre ist exorbitant; die Datenbank Orlando di Lasso, seine Werke in handschriftlicher Überlieferung, listet derzeit über 1500 Quellen auf.
Lasso hat alle wesentlichen zeitgenössischen musikalischen Gattungen bedient: Mehr als 500 Motetten hat er komponiert, dazu ca. 175 Madrigale und andere Kompositionen mit italienischem Text, etwa 150 französische Chansons, knapp 100 deutsche Lieder und Psalm-Vertonungen. 70 Messen wurden ihm zugeschrieben; einige stammen nachweislich nicht von ihm, bei etlichen ist seine Autorschaft unklar. Sein Werk umfasst zudem über 100 Magnificat, vier Passionen sowie viele kleinere Kirchenwerke wie Gesänge für das Messproprium oder Hymnen. Eine Spezialität Lassos sind Zyklen wie die Prophetiae Sibyllarum und die Bußpsalmen, außerdem die Lagrime di San Pietro, dazu Lesungen zu Weihnachten sowie aus dem biblischen Buch Hiob und Lamentationen nach Jeremias.
Alle stilistischen Mittel seiner Zeit standen ihm zur Verfügung. Er mischt unterschiedliche Stile und Satzweisen innerhalb eines Werks; er setzt auf Kontraste: Ausgefeilte Imitation steht neben blockhaft homophoner Kompositionsweise; Vortrag auf langen Notenwerten wird gegen rasch abzusingende Phrasen gesetzt; syllabische Deklamation und weit ausschwingende Melismatik können sich gegenüberstehen; extrem hohe kann gegen sehr tiefe Stimmlage gestellt sein; expressiv gestaltete Stimmen stehen synchron zu ruhig verlaufenden Stimmen, etc. Angesichts dieses Befundes hat mein Vorgänger bei der Lasso-Ausgabe Horst Leuchtmann der Musik Lassos „beseelte Verrücktheit“ attestiert.
Die stilistische Vielfalt dient nicht zuletzt der Textausdeutung, für die Lasso bei den Zeitgenossen hochgeschätzt war – der Komponist und Theoretiker Michael Praetorius rühmt ihn dafür. Zudem überschritt er oft die stilistischen Grenzen der zeitgenössischen Gattungen. So finden sich in Motetten immer wieder aus dem Madrigal entlehnte Stilmittel: Im Madrigal wird der Text meist sehr affektbezogen in Musik gesetzt; sogenannte „Madrigalismen“ intensivieren in der Motette die Textausdeutung. Des Weiteren gestaltet er deutsche Lieder nach Art einfacher französischer oder italienischer Satztypen. Er wurde damit zu einem Wegbereiter der Internationalisierung des Stiles in der Zeit um 1600.
Zur Gesamtausgabe von Lassos Werken
Im frühen 19. Jahrhundert begann man sich intensiv mit der Musik des 16. Jahrhunderts zu beschäftigen; insbesondere die Werke Palestrinas wurden damals als die ideale Kirchenmusik angesehen. Für Palestrina gibt es in Rom eine bis heute ungebrochene Aufführungstradition, er war nie in Vergessenheit geraten; dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass seine Musik Vorbildcharakter zugesprochen bekam, dass ihm schließlich eine Gesamtausgabe gewidmet wurde, deren 33 Bände von 1862 bis 1907 erschienen sind. Lasso hat keine durchgängige Aufführungstradition erlebt. Ganz vergessen war er aber nie. Zahlreiche Werke sind noch bis weit ins 17. Jahrhundert hinein überliefert; der letzte Druck mit einer seiner Messen stammt aus dem Jahr 1687. In vielen musiktheoretischen Werken werden Kompositionen aus seiner Feder als Beispiele verwendet; noch im Jahr 1765, neun Jahre nach der Geburt von Wolfgang Amadeus Mozart, beschrieb Giuseppe Paolucci in einem Lehrwerk einen zweistimmigen Satz Lassos. Und schon im 18. Jahrhundert wurden in Einzelstimmen überlieferte Kompositionen des Münchner Hofkapellmeisters von interessierten Musikern zu Studienzwecken in Partitur geschrieben.
Erste Überlegungen zu einer Gesamtausgabe entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die jedoch allesamt scheiterten. So wollte der Arzt, Geistliche und Musikwissenschaftler Carl Proske die Motetten Lassos edieren; fast alle der mehr als 500 Stücke hat er im Jahr 1842 aus Einzelstimmen in Partitur geschrieben. Die Originalquellen für die Musik des 16. Jahrhunderts bestehen nahezu ausschließlich aus Einzelstimmen, zeitgenössische Partituren sind die große Ausnahme. Für seine Partituren hat Proske das Magnum opus musicum als Vorlage benutzt. Dieser Druck ist eine Art „Gesamtausgabe“ von Lassos Motetten, die dessen Söhne Ferdinand und Rudolph 1604 beim Münchner Verleger Nikolaus Heinrich in sechs Büchern mit den einzelnen Stimmen herausgebracht hatten.
Proske war eine der zentralen Figuren der kirchenmusikalischen Reformbewegung im 19. Jahrhundert, die die Musik des 16. Jahrhunderts als ideal für die Liturgie ansahen. Innerhalb eines Jahres etwa 500 Motetten in Partitur zu schreiben: das ist eine ungeheure Leistung, wenn man sich klarmacht, dass die Motetten innerhalb der jetzt fertiggestellten Gesamtausgabe 11 Bände und zusammengerechnet etwa 2000 Notenseiten umfassen. Proske selbst konnte nur einige wenige Stücke davon publizieren. Franz Xaver Witt, der ebenfalls ein Anhänger der Reformbewegung war, unternahm 1863 einen Vorstoß in Sachen Lasso-Gesamtausgabe beim Verlag Breitkopf und Härtel; dort sah man indes nur geringe Chancen.
Weitere Initiativen scheiterten, so auch diejenige von Julius Joseph Maier. Er war Konservator der Musiksammlung der Königlichen Hofbibliothek (der heutigen Bayerischen Staatsbibliothek) und hatte 1858, wie vorher schon Proske, Pläne zu einer Edition von Lassos Motetten. Erst 1881 zeigte der Verlag Breitkopf und Härtel Interesse, da die 1862 bei eben diesem Verlag begonnene Palestrina-Ausgabe offenbar erfolgreich lief. Die Finanzierung für Lasso erwies sich jedoch als schwierig: Subskriptionsaufrufe für eine geplante Gesamtausgabe stießen jedenfalls auf wenig Interesse. Einem heute in der Bischöflichen Zentralbibliothek in Regensburg aufbewahrten Brief Maiers vom 11. Februar 1882 an den Verlag ist zu entnehmen, dass ohne Hilfe durch die bayerische Regierung die Aufgabe nicht durchführbar sei. Die Regierung war für den Plan aber nicht zu gewinnen. Und in Maiers Brief wird erstmals die Bayerische Akademie der Wissenschaften im Zusammenhang mit einer Lasso-Ausgabe ins Spiel gebracht. Doch auch hier sah Maier schwarz: Er schrieb an den Verlag: „Die der bayr.[ischen] Akademie der Wissenschaften zu Gebot stehenden Mittel seien so karg gemessen, daß sie kaum für die dieser Anstalt allein nahe liegenden rein wissenschaftlichen Unternehmungen ausreichend seien.“ Im Jahr 1882 gab es also keine Chance, die Akademie ins Boot zu holen.
Erst 1894 konnte eine Gesamtausgabe begonnen werden. Maiers Nachfolger als Kustos der Musiksammlung der Königlichen Bibliothek Adolf Sandberger, der übrigens später der erste Ordinarius für Musikwissenschaft an der Münchner Universität werden sollte, und der Gründer und Leiter der Kirchenmusikschule Regensburg Franz Xaver Haberl konnten im Einvernehmen mit dem Verlag die Ausgabe 1894 beginnen, im 300. Todesjahr Lassos. Bis 1927 kamen 21 Bände auf den Markt, die heute sogenannte Alte Lasso-Gesamtausgabe.
Vier Werkcorpora waren publiziert: Sandberger gab in fünf Bänden die Kompositionen mit italienischem Text heraus; außerdem die französischen Chansons in drei Bänden und schließlich in zwei Bänden die deutschen Lieder. Haberl, von Beruf Pfarrer, zudem Musiker und Musikwissenschaftler, wie Proske und Witt ein Vertreter der am 16. Jahrhundert orientierten Kirchenmusikreform, gab zehn der elf Motettenbände heraus. Er konnte dabei auf die Partituren von Carl Proske zurückgreifen; dessen Arbeit war also letztlich doch nicht umsonst gewesen und Haberl rühmt in der Einleitung zum ersten Motettenband Proskes Leistung. Den elften Band brachte Sandberger nach Haberls Tod heraus. Mit den 21 Bänden war etwa die Hälfte der Werke Lassos publiziert. Die Ausgabe wurde aus finanziellen Gründen abgebrochen. Damit war ein aus heutiger Sicht kühnes Unternehmen beendet, denn der im zweiten Band der Ausgabe enthaltene Editionsplan zeigt, dass man letztlich noch keinen vollen Überblick über Lassos Gesamtwerk hatte.
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg nahm sich die Bayerische Akademie der Wissenschaften der Lasso-Ausgabe an. Der Musikwissenschaftler Rudolf von Ficker, Nachfolger Sandbergers als Ordinarius für Musikwissenschaft an der Münchner Universität, wurde 1949 in die Akademie gewählt und gründete daraufhin die Musikhistorische Kommission, und schon 1951 berichtet das Jahrbuch der Akademie von Bestrebungen, die Lasso-Ausgabe fortzuführen, was bei Breitkopf und Härtel aber nicht möglich war. Deshalb lesen wir im Akademie-Jahrbuch 1955 über Verhandlungen mit dem Bärenreiter-Verlag, der schließlich von 1956 bis 1995 in 26 Bänden die sogenannte Neue Reihe herausgab, die alles das umfasst, was in der Alten Gesamtausgabe fehlte, also die 70 Messen, die über 100 Magnificat, die diversen Zyklen etc. Die Neue Reihe basiert auf dem gesamten gedruckten und wichtigem handschriftlichen Quellenmaterial. Jeder Band enthält eine Einleitung zu den enthaltenen Werken, die Editionsrichtlinien, ein Verzeichnis sowie eine Beschreibung der Quellen, einen Kritischen Bericht und schließlich einen Abbildungsteil. Sie entspricht damit den Anforderungen an eine moderne kritische Gesamtausgabe.
Diesen Maßstäben genügten die in den Jahren 1894 bis 1927 entstandenen alten Bände aber nicht, da dort für die Edition jeweils nur eine (und meist nicht die beste) Quelle herangezogen worden war. Eine Revision der Alten Ausgabe wurde deshalb ins Auge gefasst, um diese auf ein Niveau zu heben, das den heutigen Anforderungen entspricht. Diese Neuausgabe nahm nun doch der Verlag Breitkopf und Härtel in sein Programm auf. 1958 begann Horst Leuchtmann mit vorbereitenden Quellenforschungen, wie das Jahrbuch der Akademie mitteilt. Diese Arbeiten führten letztendlich zur 2001 erschienenen dreibändigen Bibliographie der Drucke mit Musik Lassos.
Leuchtmann legte in den Jahren 1968 bis 1990 acht revidierte Bände der alten Ausgabe vor, lediglich zwei Bände mit italienisch textierten Werken stammen nicht von ihm. Leuchtmann schrieb zudem die maßgebliche Biographie Lassos und gab dessen an den Prinz Wilhelm gerichtete Briefe heraus, um nur zwei seiner wichtigsten Publikationen zu nennen. 1996 wurde es meine Aufgabe, zunächst die Bibliographie der Lasso-Drucke fertigzustellen, sodann die elf Motetten-Bände der Alten Ausgabe neu zu edieren. 2003 erschien der erste Motettenband, und im Frühjahr 2022 wird der elfte und letzte Band gedruckt vorliegen.
Wissenschaftliches Vorgehen
Wie erstellt man eine wissenschaftliche Ausgabe? Der Vorgang ist im Prinzip einfach: Das Sammeln der Quellen für ein Stück steht am Anfang. Danach vergleicht man die Quellen und wählt aus den Drucken und Handschriften die beste aus, schließlich ediert man das Stück anhand dieser Quelle. Das kann der älteste Druck sein; falls dieser qualitativ nicht taugt, greift man auf einen späteren Druck oder eine Handschrift zurück. Bei Lasso haben wir das Glück, dass es von ihm selbst benutztes Aufführungsmaterial in der Bayerischen Staatsbibliothek gibt, in das er in einem Fall auch selbst Korrekturen bei der Textunterlegung eingetragen hat. Die Abbildung unten rechts zeigt das in kleiner, zierlicher Handschrift geschriebene „Et Dum fleret monumentum“. Notenautographe von ihm haben wir leider nicht.
Wenn der Notentext erstellt ist, verfasst man den kritischen Bericht, der die diversen Abweichungen der Quellen voneinander auflistet. Das geschieht durch einen exakten Vergleich aller herangezogenen Quellen. Der kritische Bericht kann unter Umständen ziemlich umfangreich ausfallen. Da Lasso äußerst breit überliefert ist, konnte es schon vorkommen, dass insgesamt bis zu 30 Quellen für ein Stück durchzuarbeiten waren. Das war die Ausnahme; aber mehr als 20 Quellen, gelegentlich auch ziemlich schlechte, waren keine Seltenheit.
Schließlich ist eine Einleitung zu schreiben, die meist über Besonderheiten von Stücken oder auch über deren Verwendung berichtet, zudem über Stückgruppen, über Quellen- und Überlieferungsfragen etc. Der Textteil der Bände enthält zudem eine exakte und oft umfangreiche Liste der herangezogenen Quellen; einige Seiten enthalten Faksimiles; abgedruckt sind jeweils die Einleitungen der ursprünglichen Herausgeber, die in Anmerkungen kommentiert sind; am Ende eines jeden Bandes steht ein Stückregister und ein Literaturverzeichnis.
An einem Beispiel sei nun erläutert, wie die Arbeit konkret abläuft und zu welchen oft spannenden Ergebnissen sie führen kann. Die Abbildung auf der nächsten Seite unten links zeigt einen Ausschnitt aus einem Salve Regina aus Mus.ms. 2748 der Bayerischen Staatsbibliothek; das Stück ist auf den 14. August 1581 datiert, wir haben die älteste Quelle für die Komposition vor uns. Die Handschrift gehört zum Aufführungsmaterial der Münchner Hofkapelle, das Stück ist hier von Minimalia abgesehen fehlerfrei überliefert, die Quelle liegt der Edition in Band 13 der Gesamtausgabe zugrunde.
Doch betrachten wir die Handschrift näher. Der Text beginnt mit „Salve Regina, mater misericordiae“, das ist der auch heute noch gebräuchliche lateinische Salve Regina-Text. Jeweils in der ersten Zeile einer jeden Stimme fällt aber auf, dass der Text stellenweise sehr eng unterlegt ist, außerdem wirkt die Schrift an diesen Stellen jeweils blass. Auch die Noten sind dort enger gesetzt und blasser als sonst. Offenbar wurde also korrigiert. Ursprünglich standen an dieser Stelle wohl ein anderer, kürzerer Text und auch weniger Noten; es wurde deshalb weniger Platz benötigt.
Bei der Ansicht der Quelle im Original war zu erkennen, was ursprünglich geschrieben stand: Statt „Salve Regina, mater misericordiae“ war „Salve, Regina misericordiae“ zu lesen, „mater“ fehlte. Wie kam es dazu? Beim 1545 bis 1563 abgehaltenen Konzil von Trient war eine Liturgiereform beschlossen worden, die in den folgenden Jahrzehnten in den Diözesen – nicht immer problemlos – durchgesetzt wurde. Dabei wurden verschiedene liturgische Texte geändert; so auch das Salve Regina, an dessen Beginn das Wort „mater“ eingefügt wurde. Am Münchner Hof wurde auf Geheiß Herzog Wilhelms V. in den Jahren 1581 bis 1583 die neue Liturgie eingeführt. Im Zug der Liturgiereform hatte Lasso zahlreiche neue Werke zu liefern, um die Musik an die neue Liturgie anzupassen.
Die Marienverehrung steigert sich erheblich und deshalb hat er gerade in der Zeit der Liturgiereform am Hof zahlreiche marianische Antiphonen wie das Salve Regina komponiert. Offenbar hatte Lasso aber zunächst den neuen, am Anfang geänderten Text noch nicht zur Verfügung; er hat deshalb den alten Text vertont und ins Chorbuch eintragen lassen. Und nachdem man bemerkt hat, dass die Fassung nicht dem reformierten Text entsprach, hat man in der Quelle die Korrekturen vorgenommen. In der Gesamtausgabe habe ich Lassos ursprüngliche Fassung, also die Vertonung von „Salve, Regina misericordiae“ ediert. Selbstverständlich wird im kritischen Bericht dann die zweite Fassung als Notenbeispiel wiedergegeben. Die Einfügungen gegenüber der ursprünglichen Fassung sind in Klammern gesetzt.
Gerade dieses Salve Regina Lassos, offenbar das beliebteste und verbreitetste aus seiner Feder, hat eine Reihe weiterer Änderungen über sich ergehen lassen müssen. Nur zwei Beispiele will ich erwähnen. Im Jahr 1582 wurde das Salve Regina bei Adam Berg in München erstmals gedruckt; unterlegt ist der beim Konzil von Trient beschlossene Text „Salve Regina, mater misericordiae“. Lassos Musik war nicht nur bei den Katholiken, sondern auch bei den Protestanten beliebt und weit verbreitet. In der neuen Konfession wurden aber nicht alle Texte übernommen. Nicht zuletzt auf Maria bezogene Texte wurden deshalb geändert. Abgebildet ist das Exemplar des Erstdrucks von Lassos Salve Regina aus der evangelischen Lateinschule im thüringischen Saalfeld. Man hat den katholischen Originaltext gestrichen und handschriftlich durch Text ersetzt, der für evangelische Gottesdienste geeignet war; am Anfang wird „Salve regina, mater misericordiae“ zu „O Domine Jesu, fons misericordiae“ geändert.
Protestantische Umtextierungen finden sich aber nicht nur handschriftlich in Drucke eingetragen oder überhaupt in Handschriften. Im Nürnberger Druckhaus der Katharina Gerlach hat man unser Salve Regina von Haus aus protestantisch mit „Salve aeterne pater misericordiae“ unterlegt. Ein Exemplar des Nürnberger Drucks aus dem Jahr 1588 zeigt jedoch eine Umtextierung des ursprünglich protestantischen Textes. Es war im Besitz des Jesuitenkollegs Hildesheim. Da den Jesuiten mit dem evangelischen Salve aeterne pater nicht gedient war, wurde der evangelische Text rekatholisiert. Insgesamt sind für unser Stück sieben Textfassungen überliefert: die ältere und die reformierte katholische Fassung, zudem fünf Umtextierungen für den Gebrauch in evangelischen Gottesdiensten, was letztlich zeigt, dass Lasso überkonfessionell sehr geschätzt war.
Das besprochene Salve Regina ist sicherlich ein herausragender Fall. Aber auch sonst stößt man permanent auf Neues: So findet man immer wieder Texte, die zum Teil gravierend von Lassos Original abweichen. Liebeslieder werden zu geistlichen Motetten umgestaltet. Parodien auf liturgische Texte werden entschärft. Deftige Texte, in denen vom Saufen die Rede ist, können durch liturgischen Text ersetzt werden etc. Nicht selten steckt folgender Gedankengang dahinter: Die Musik ist gut, aber der Text ist schlecht. Durch einen „besseren“ Text wird das Stück insgesamt „besser“.
Wenn Stücke durch Änderungen oder den Austausch des Texts gleichsam umfunktioniert werden, tut sich selbstverständlich ein neues Feld ihrer Rezeption auf. Gleichzeitig aber will der neu unterlegte Text oft nicht recht zur Musik passen; dies ist gerade bei Lasso ein Problem, da er ein Meister der musikalischen Textausdeutung ist. Oft lässt sich auch die Druckgeschichte ziemlich präzise verfolgen, wenn nämlich sichtbar wird, dass ein bestimmter Druck einem in einer anderen Stadt, bei einem anderen Verlag publizierten ganz klar zugrunde liegt. Dergleichen wird nicht zuletzt an markanten Fehlern sichtbar, wobei man insgesamt aber sagen muss, dass die Qualität der Drucke mit Musik Lassos ziemlich hoch ist, wenn man von einigen Ausreißern absieht.
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Was macht man sonst als Mitarbeiter einer Gesamtausgabe? Selbstverständlich publiziert man in wissenschaftlichen Zeitschriften Ergebnisse, die nicht in einen Gesamtausgabenband eingeflossen sind. Auf wissenschaftlichen Tagungen trägt man vor und tritt dabei in einen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen. Diverse Tagungen konnte ich selber mit organisieren und veranstalten: So 1994, in Lassos 400. Todesjahr an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, und 2017 ebenfalls dort über den erwähnten reich illuminierten Codex mit Lassos Bußpsalmen. Zudem ergab sich Gelegenheit, an den Universitäten München, Augsburg und Wien, außerdem an der Münchner Musikhochschule und an der Abteilung für Alte Musik der Hochschule für Künste Bremen über Lasso zu unterrichten.
Ganz zentral ist es schließlich, Ergebnisse der Arbeit und deren Bedeutung einem breiten Publikum zu vermitteln und damit aus dem elfenbeinernen Turm heraus zu holen. In der Hauszeitschrift Akademie Aktuell der Bayerischen Akademie der Wissenschaften habe ich mehrfach über Lasso geschrieben, in der Mediathek der Akademie bin ich verschiedentlich mit Beiträgen vertreten. Dazu kommen öffentliche Vorträge. In der Bayerischen Akademie der Wissenschaften habe ich einen Band der Lasso-Ausgabe vorgestellt, außerdem die Datenbank Orlando di Lasso, seine Werke in handschriftlicher Überlieferung. Dies geschah jeweils in Verbindung mit Konzerten des Münchner Vokalensembles Die Singphoniker, die im vollbesetzten Plenarsaal der Akademie neu erschienene CD’s mit Musik Lassos präsentierten, bei denen ich im Hintergrund tätig war und Beiträge für die CD-Booklets geliefert habe.
Wenn dann die Tagespresse mit Artikeln auf derartige Veranstaltungen wie die soeben geschilderten reagiert, oder wenn auf wissenschaftliche Tagungen im Rundfunk hingewiesen wird – so geschehen vor der Bußpsalmentagung 2017 – dann wird klar, dass man eben nicht fürs Bücherregal oder gar für die Schublade arbeitet. Auch die angesprochene Zusammenarbeit mit praktischen Musikern ist essentiell. Im Austausch lernt man wechselseitig; es zeigt sich, dass Theorie und Praxis zusammengehören.
Im vergangenen Jahr 2021 ist die Lasso-Gesamtausgabe fertiggestellt worden. Zu danken habe ich der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und vor allem den Projektleitern Theodor Göllner und Ulrich Konrad. Das Ereignis wurde mit einem kleinen Symposion und einem Konzert gefeiert. Mir bleibt noch der Wunsch, dass die Ausgabe die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen möge.