Erbe und Auftrag

Das Passionsspiel im Oberammergau

Im Rahmen der Veranstaltung Passionsspiele in Bayern, 01.07.2022

Trotz großer Bedenken des Gesundheitsministeriums und vieler anderer konnte am 14.Mai 2022 die Premiere des Passionsspiels stattfinden und damit die Reihe der über 100 Aufführungen eröffnet werden. Am Vormittag begann der Tag mit einem feierlichen ökumenischen Gottesdienst im Passionstheater. Kardinal Reinhard Marx und Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm standen ihm vor und predigten im Dialog. Direkt im Anschluss wurde eine große Zahl von Oberammergauern geehrt, die sich in den vergangenen Jahren um das Spiel verdient gemacht hatten. Um 14.00 Uhr begann dann der erste Teil des Spiels.

In der Pause gaben Ministerpräsident Markus Söder zusammen mit Bürgermeister Andreas Rödl einen großen Empfang in einem eigens aufgestellten Zelt für ca. 900 Leute – Prominenz aus Politik, Kultur, Kirche und Wirtschaft waren hier versammelt. Viele Gesichter konnte man sehen, die aus dem Fernsehen oder aus der Zeitung bekannt sind. Angenehm kurze Reden würzten das ausgezeichnete Essen und die regen Unterhaltungen; wohl durchdacht schien die Tischordnung zusammengestellt; Menschen sollten zusammengebracht werden, die sich sonst kaum treffen würden – ich wurde z. B. mit der bayrischen Prominenz der Grünen an einen Tisch gebeten, für mich eine interessante Begegnung.

Der zweite Teil des Spiels verlief dann wie der erste mit großer Präzision, spannend und erhebend bis tief in die Nacht. Die Premiere war ein voller Erfolg! Viele Presseleute waren da – unaufdringlich und doch fast omnipräsent. Alles schien geplant und lief doch so selbstverständlich, als wäre es alltäglich, prominent und doch wie gewohnt, ländlich-einfach und doch hochkultiviert, selbstbewusst und doch wieder bescheiden. Der Rahmen des Spiels war gleichermaßen beeindruckend wie das Spiel selbst. Er inszenierte etwas Besonderes. Ja, die Oberammergauer Passionsspiele sind im Reigen der Passionsspiele wohl unbestritten etwas Besonderes. Wo liegt die Ursache dafür? Warum kommen so viele Prominente zumindest Süddeutschlands? Warum kommen Tausende aus aller Welt?

Ich denke, das liegt zum einen an den Oberammergauern und ihrem Verhalten zum Spiel, zum zweiten am Charakter des Spiels selbst und zum dritten gegenwärtig wohl auch an dem, was die letzten Inszenierungen an Botschaften ausgestrahlt haben. Lassen Sie mich zu den drei Aspekten einige Anmerkungen machen.

Die Oberammergauer und ihre Passion

Das Passionsspiel, so erscheint es einem Fremden, liegt für viele Oberammergauer im Zentrum ihrer Interessen. Alle kennen die Geschichte und fühlen sich ihr verpflichtet. Für ganz viele bietet die Passion einen Gewinn, sei es geschäftlich, sei es ideell oder auch nur das Ansehen betreffend. Ich möchte das an fünf Punkten festmachen.

1. Geschichte und Intention

Das Spiel geht zurück auf ein Gelübde. Im Jahr 1633 wütete die Pest in der ganzen Gegend – schlimmer als Corona heute, da es ja überhaupt keine medizinischen Mittel gab und ein Gesundheitssystem im heutigen Sinn nicht existierte. Die Pest kam durch einen von auswärts nach Hause gekommenen Mitbürger. Die Leute suchten Zuflucht im Gebet und gelobten: Wenn das Sterben aufhört, spielen wir alle zehn Jahre das „Spiel vom Leiden, Sterben und der Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus“. Tatsächlich ist von diesem Tag an niemand mehr an der Pest gestorben.

So spielen die Oberammergauer seither alle zehn Jahre die Passion Christi. Da war zunächst ein rein religiöses Interesse. Zur Erinnerung an die Rettung aus großer Not die Leidensgeschichte Jesu spielen basiert auf der Erkenntnis: Leiden und Sterben erscheinen menschlich sinnlos, bekommen aber durch Jesu Leiden und Sterben eine andere denn eine nur zerstörerische Qualität, sie sind der Weg zur Auferstehung. Auferstehung empfanden die Leute damals, als sie, die in Todesangst lebten, eine plötzliche Wende erfuhren. Sie spielten aus Dank.

2. Die Passion als Einnahmequelle und als Träger des Ansehens

Doch immer schon kamen die Leute der umgebenden Orte und ab der Mitte des 18. Jahrhunderts auch immer mehr von weiter her. Die Oberammergauer waren arm. Die Landwirtschaft warf nicht viel ab, die seit langem gepflegte zusätzliche Einnahmequelle, die Schnitzarbeiten, mussten mühsam vertrieben werden. Diese konnte man nun denen, die zum Spiel kamen, vor Ort anbieten. Dazu mussten jene, die von weither kamen, hier Quartier nehmen und auch essen. Hotel-Gewerbe und Gastronomie waren zwei zusätzliche Einnahmequellen.

Und dann kam am Ende des 18. Jahrhunderts der Tourismus. Dieser begann in der Schweiz. Engländer kamen, bewunderten und bestiegen die Berge, waren aber auch angezogen von der Bevölkerung, die man als naturnah, urwüchsig und vor allem freiheitsliebend einstufte (siehe der Volksheld Wilhelm Tell). Die Älpler lassen sich von keinem Fürsten unterdrücken, sie sind nicht verhätschelt von zivilisatorischem Schnickschnack, sie gehen ihren Weg in harter Arbeit und pflegen eine Volkskultur, die dem verspielten, teilweise als pervers empfundenen Rokoko-Getue haushoch überlegen ist. An diesem Image partizipierten die Oberammergauer. Die Qualität ihres Spiels sprach sich herum. Und die Menschen kamen – im 19. Jahrhundert immer mehr und mehr.

Der Spielplatz wurde zu klein. Bis dato, also fast 250 Jahre lang, hatten die Oberammergauer auf dem Friedhof bei der Kirche gespielt. Doch dann verlegten sie das Spiel an den Platz, an dem heute das Passionstheater steht. Im Jahr 1900 haben sie dieses gebaut. Das so lange dauernde Spiel von zwei Mal drei Stunden im Freien war doch immer wetter-gefährdet. Das Haus machte wetterunabhängig.

3. Das Spiel der ganzen Gemeinde

Von Anfang an hatte das Spiel im Denken und Fühlen der Oberammergauer jene Bedeutung gehabt, wie es auch heute noch der Fall ist. In Oberammergau dreht sich alles um das Spiel. Es ist ein Spiel aller am Ort. Es ist nicht das Spiel der Kirchgemeinde, es ist das Spiel der bürgerlichen Gemeinde. Deshalb können alle mitspielen, die am Ort geboren sind und hier leben. Als es fast nur Katholiken gab, war klar, dass alle Spieler eben nur Katholiken waren. Als Protestanten kamen, wurden sie auch hinzugenommen. Und da heute auch Muslime hier leben und einige schon hier geboren sind, gehören sie auch zum Spiel. Und selbstverständlich gehören damit auch jene, die der Kirche den Rücken gekehrt haben oder noch nie der Kirche angehörten oder die sich zu keiner Religion bekennen, auch dazu. Die Passion ist das Spiel aller.

Das ist Vorschrift: Alle Mitwirkenden im Spiel müssen Oberammergauer sein, müssen (seit 1960) mindestens 20 Jahre hier wohnen oder gewohnt haben. So spielen beim gegenwärtigen Spiel auch einige Muslime mit, die aber eben schon Oberammergauer sind
– so einer der beiden Judasdarsteller
und vor allem der zweite Spielleiter Abdulla Kenan Karaca1. Die Regie des Ganzen führt Christian Stückl, ein gelernter Bildhauer, ein Mann genialer Ideen und großer Führungsqualität.

Die Stehenden Bilder und die Entwürfe der Bühne und der Kostüme schuf (wie schon 2000 und 2010) Stephan
Hagenauer, ein Oberammergauer Schreiner mit einem genialen Kunstsinn, der inzwischen auf großen Bühnen Bühnenbilder gestaltet. Für das neue Spiel hat er die Bühne umbauen lassen, so dass eine stilistische Einheit erzielt werden konnte. Die Musik organisiert und leitet (und komponierte einige Passagen neu) in hoher Profession der Oberammergauer Markus Zwink, der sich die Dirigate mit einer Kollegin und einem Kollegen teilt.

Als noch alle oder fast alle Bürger katholisch waren, war es selbstverständlich, dass der katholische Pfarrer als Theologe oder die Patres des nahen Ettaler Klosters eine führende Rolle spielten bei der Gestaltung des Textes oder auch bei der Regie. Doch sprachen immer die politische Gemeinde und damit auch die gewählten Vertreter entscheidend mit, zumal, wenn irgendwelche Änderungen anstanden oder geplant wurden. Und wenn es auch innerhalb dieser Gemeinde Spannungen und Rivalitäten gab (und immer gibt), die Mehrheit entscheidet. Die Gemeindevertreter wählen den Spielleiter und die Truppe, die alles organisiert. Bei der Wahl der Rollen hat allerdings (zumindest die letzten Male) der gewählte Spielleiter das letzte Wort.

4. Der kirchliche Einfluss

Wenn der Pfarrer, wie schon gesagt, früher auch immer fürs Spiel Bedeutung hatte und Einfluss nehmen konnte, war dies nie unhinterfragt. Es konnte auch zu Konflikten kommen mit der Kirche. Seit der Zeit, als immer mehr Menschen aus aller Welt kamen, hat nicht nur der Ortspfarrer als Theologe sein Placet gegeben, sondern der Bischof als der zuständige Glaubenshüter sprach eine missio canonica aus, die dem Spiel gleichsam eine offizielle Note gab und die vor allem weltweit als Empfehlung verstanden wurde – und damit sehr werbewirksam war.

Im Jahr 1970 kam es zu einem großen Konflikt zwischen den Oberammergauern und dem Münchner Kardinal Julius Döpfner, dem Repräsentanten der katholischen Kirche. Im Spiel gab es Passagen, die man als antisemitisch deuten konnte. Döpfner verlangte, dass diese Passagen verändert werden, das Spiel sollte die Erkenntnisse des II. Vatikanischen Konzils berücksichtigen, dass wir Katholiken das Judentum in anderem Licht sehen müssten als dies sich in der Geschichte entwickelt hatte. Doch da kam die Oberammergauer Mentalität durch. Von außen lassen wir uns schon gleich gar nichts sagen, auch nicht von einem Kardinal. Die Folge war, der Kardinal verweigerte die empfehlende missio canonica, d. h. er bekundete damit: Wir, die offizielle katholische Kirche, stehen nicht mehr hinter dem Spiel.

Und das zeigte sich dann als nicht förderlich. Die Besucherzahl ging empfindlich zurück. So verhandelten die Oberammergauer mit dem Nachfolger des Kardinals. Sie erreichten für die nächsten Spiele einen modus vivendi. Da die örtlichen Pfarrer – inzwischen gab es neben dem katholischen auch einen evangelischen – sich in vielem gar nicht einig waren, was die Sache sehr behinderte, einigte man sich (auf diese Weise auch dieses Problem elegant lösend) auf folgenden Modus: Die Gemeinde schlägt dem Erzbischof von München und Freising drei Theologen vor, die sie sich als Berater vorstellen kann. Der Bischof wählt – in Absprache mit dem evangelischen Landesbischof – einen von diesen dreien aus und beauftragt ihn als kirchlichen Berater, der eben dahingehend berät und darauf achtet, dass die Kirche das Spiel empfehlen kann.

Seit dem Jahr 2000 bin ich dieser Berater, von den Kardinälen Wetter und Marx berufen. Und da die Vorbereitung immer schon drei Jahre vor der Premiere beginnen, bekomme ich also seit 1997 mit, was dieses Spiel hier für eine Rolle spielt. Da im Jahr 2000 noch jede Veränderung vom Gemeinderat genehmigt werden musste und Christian Stückl – damals zusammen mit Otto Huber – große Änderungen im Text, in den stehenden Bildern und auch im inszenatorischen Bereich vorhatte, konnte ich durch theologischen Rat und praktisch-theologische Hinweise nicht nur die kirchlich-theologischen Belange einbringen, sondern in höherem Maß einiges dazu helfen, dass die Neuerungen theologisch einsichtig wurden und auch denen, welchen die traditionellen Szenen wichtig waren, helfen zu verstehen.

2010 gab es auch Neuerungen zu besprechen, aber da hatte der Gemeinderat dem Spielleiter schon große Freiheiten zugestanden und meine Rolle beschränkte sich auf Beratung an einigen Stellen – wie dies auch 2022 in noch geringerem Maß vonnöten war. Stückl ist selbst theologisch sehr versiert und hat als genialer Regisseur faszinierende Ideen, die sich in die kirchlich-theologischen Vorstellungen gut einbinden lassen.

5. Das Spiel färbt ab

Was aber von den Oberammergauern noch gesagt werden muss: Sie sind nicht nur die urwüchsigen, selbstbewussten Älpler, sondern viele am Ort haben eine Spielleidenschaft, d. h. sie haben den Willen, sich künstlerisch auszudrücken und damit dem Alltäglichen Qualität zu vermitteln. Das scheint vererbt zu sein. Vom Kindergarten an bereiten sich viele auf das Spiel vor – durch Stimmbildung, durch Sprecherziehung, durch Singen einiger sehr eingängigen Passionslieder und vielem mehr.

So können wir zusammenfassend sagen: Das Passionsspiel in Oberammergau ist getragen vom Willen der Oberammergauer, dem Gelübde zu entsprechen, für die aus aller Welt Kommenden ein perfektes Spiel zu bieten, dabei auch in der Hotellerie und im Gastgewerbe zu verdienen, die Schnitzwerke zu verkaufen, den Tourismus über das jeweilige Passionsjahr hinaus zu fördern und vor allem den Namen Oberammergau in aller Welt bekannt zu erhalten.

Dies erreichen sie nicht nur durch das bisher schon Gesagte, sondern auch durch eine perfekte und langfristige Werbung. Z. B. werden beim Pestspiel, das je ein Jahr zuvor aufgeführt wird, nicht nur die Spieler getestet, sondern es wird auch schon weiträumig auf die Passion hingewiesen. Oder das öffentlich bekanntgegebene Datum, an dem sich die mitspielenden Männer nicht mehr rasieren dürfen, lenkt den Blick auf die Passion. Noch viele andere medienwirksame Meldungen wecken das öffentliche Interesse nicht nur in der Region. Soviel zur
ersten Besonderheit der Oberammergauer Passion.

Ein zweiter Faktor, der für das weltweite Interesse an der Passion verantwortlich ist, dürfte der besondere Charakter des Spiels sein.

Zum Charakter des Spiels

Es ist ein Mysterienspiel, das in dramatischer und zugleich meditativer Weise die Passion Jesu darstellt. Es gab und gibt in Europa und in der Welt immer noch viele Passionsspiele, wie wir eben gehört haben. Aber das Oberammergauer unterscheidet sich von den anderen, wie mir scheint, durch vier im Spiel selbst liegenden Besonderheiten.

1. Dramatik

Da ist die Dramatik der Darstellung. Mehr als 600 Leute (in der Vor-Corona-Zeit 1000) erscheinen einige Male gleichzeitig auf der Bühne. Die Szenenfolge ist so gestaltet, dass selbst bei dem, der den Inhalt bis ins Detail kennt, noch Spannung aufkommt. Wortkombinationen überraschen, Szenenfolgen lassen Zusammenhänge ahnen, Bekanntes wird durch Verfremdung zur Überraschung.

2. Meditative Einschübe

Das Zweite sind die meditativ-ruhigen Zwischenszenen, die dem Gemüt Raum geben zu verweilen und das Gesehene und Gehörte als für sich bedeutend erkennen lassen. Solche Ruheräume entstehen z. B. durch die lebenden Bilder. Da werden verwandte Geschehnisse aus früherer Zeit, also aus dem Alten Testament, von lebenden Personen in der Hinterbühne inszeniert, die sich (wie auf einem gemalten Bild) stumm in Pose aufstellen. Diese Bilder sind zugleich deutende Hinweise für die szenischen Darstellungen, ordnen sie in die Heilsgeschichte ein und lassen somit große Zusammenhänge ahnen.

Vor allem die gleichzeitig ertönende Musik und die meditativen Texte des Chores verstärken diese Ruhezonen.

3. Die Musik

Die anrührende, romantisch eingefärbte Musik gibt dem Ganzen den Charakter eines Oratoriums. Sie ist sehr qualitätsvoll und wurde von dem Lehrer Rochus Dedler (1779–1822) komponiert. Für neu inszenierte Teile der letzten (drei) Aufführungen hat Markus Zwink, der gegenwärtige musikalische Leiter des Chores und des Orchesters, sie in größeren Passagen ergänzt.

4. Der Text

Eine weitere Besonderheit des Oberammergauer Spiels ist die Textgestaltung. Den Grundtext des jetzigen Spiels hat der Oberammergauer Pfarrer Joseph Deisenberger (1799–1883) um das Jahr 1862 geschrieben. Dieser Text wurde in den folgenden Aufführungen immer nur leicht abgewandelt. Doch für die letzten drei Aufführungen wollte Christian Stückl, seit 1990 Spielleiter, größere Passagen verändern. Das führte natürlich in Oberammergau zu vielen Diskussionen und Auseinandersetzungen. Hier konnte ich als Berater vor allem bei den Spielen im Jahr 2000 ein wenig mithelfen, die Sinnhaftigkeit der Änderungen zu begründen. Gleichzeitig konnte ich die berechtigten Anliegen derer, die möglichst viel von der Tradition behalten wollten, wenigstens teilweise stützen.

Auch die aktuelle Inszenierung kennt neu gefasste Textteile, die Christian Stückl (wie schon bei den letzten drei Aufführungen) oftmals noch während der Proben neu formulierte. Er hat sich dabei – neben mitbeteiligten Oberammergauern – auch beraten lassen vor allem auch von Vertretern (US-amerikanischer) jüdischer Organisationen, und das ist weltweit einmalig. Die Vertreter des Weltjudentums haben großes Interesse, dass ausgerechnet das Oberammergauer Spiel (dem sie Weltcharakter zuschreiben) religiöse und kulturelle Besonderheiten des Jüdischen korrekt darstellt, damit nicht – wie in der Geschichte leider über die Maßen geschehen – irgendwelche antisemitischen Tendenzen aufkommen. Um dieses Anliegen voranzutreiben, haben die Oberammergauer schon ab 1990 Vertreter der jüdischen Weltorganisationen eingeladen und ihre Vorschläge in hohem Maße aufgenommen, was dem Spiel eine besondere Note gibt und gerade auch viele christlichen Aussagen vertieft erkennen lässt.

So konnte in den letzten Aufführungen deutlicher als bei Passionsspielen an anderen Orten gezeigt werden: Jesus war Jude, und das christliche Heilsgeschehen setzt die jüdische Heilsgeschichte fort, ja ist Teil dieser Geschichte, so dass wir nicht trennen dürfen zwischen Altem und Neuem Testament. Das Alte Testament ist auch für uns Christen vollgültig Heilige Schrift. Das Neue setzt sie nur fort. Im Spiel wird dies mehrfach betont, besonders beeindruckend, wenn z. B. jüdische Gebetstexte in hebräischer Sprache gebetet und gesungen werden, verbunden mit im Judentum üblichen Zeichenhandlungen.

Soviel zum besonderen Charakter des Oberammergauer Passionsspiels: die Dramatik, die meditativen Elemente, die Musik und der Text in seiner jüdisch-christlichen Ausgewogenheit. Nun noch ein paar Anmerkungen zur neuen Inszenierung von 2022.

Das Spiel 2022

Es war eine Zitterpartie. Als Christian Stückl am 6. Januar dieses Jahres die im März 2020 (wegen der Corona-Pandemie) abgebrochenen Proben wieder aufnehmen wollte, sagte ihm einen Tag zuvor der Bayrische Gesundheitsminister:
„Stellen Sie sich darauf ein, dass Sie möglicherweise umsonst proben und das Spiel heuer wieder nicht stattfinden kann.“

Stückl und die Oberammergauer waren zuversichtlich, gleichzeitig aber auch sorgsam. Niemand durfte zur Probe auf die Bühne kommen ohne vorherigen Covid-Test. Das war natürlich zusätzlich belastend; denn immer wieder war der eine oder die andere Corona-positiv – auch wenn sie nichts spürten oder kein Anzeichen der Krankheit hatten. Dennoch hat alles geklappt. Am 14. Mai 2022 war die Premiere. Bis Oktober wird es 104 Mal aufgeführt. Zirka eine halbe Millionen Menschen werden es sehen und erleben.

Die verschobene Neuinszenierung aktualisiert die Dramatik des Geschehens in zeitgenössischer Weise. Die Gründe dafür sind vielfältig. Das Publikum ist heute ein anderes als vor zwanzig und auch vor zwölf Jahren. Viele kennen die damals noch selbstverständlich bekannten theologischen Details nicht mehr. Die Fragestellungen haben sich verschoben – und verschoben sich aktuell durch die gegenwärtige Corona-Erfahrung und auch den Ukraine-Krieg nochmals. Da das Passionsspiel die Botschaft von Leiden, Tod und Auferstehung Jesu Christi den Menschen als aufbauendes und bestärkendes Ereignis vermitteln will, muss es die Ängste und Hoffnungen der heutigen Menschen aufgreifen. So kommen in der Darstellung von Leid und Tod Christi in dramatischer Weise die Fragen nach Sinn und Zukunft des menschlichen
Daseins in den Blick.

Die Neuinszenierung von 2022 verdeutlicht wichtige Elemente der Botschaft Jesu nicht nur für gläubige oder christlich sozialisierte Menschen, sondern auch für kirchenferne und nichtchristliche Zuschauerinnen und Zuschauer.

Ein paar Szenen seien angesprochen: Wie schon beim Spiel 2000 und 2010 beginnt Jesus nach seinem Einzug in die Stadt und in den Tempel nicht sofort damit, die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel zu vertreiben, sondern er stellt sich zunächst als der Messias vor, der sein Volk religiös erneuern und die Gottesbotschaft ins Zentrum heben will. Dies geschieht von Anfang an in Auseinandersetzung mit den religiösen Autoritäten.

Zitate aus den Reden Jesu (besonders aus der Bergpredigt, den Streitgesprächen mit den Pharisäern und den Klagen Jesu) sowie aus anderen biblischen Stellen, vornehmlich den Propheten, verdeutlichen diese seine Grundlinie. Daraus ergibt sich auch ein sozialer Anspruch, der ein Engagement für eine gerechte Gesellschaft einschließt. Jesus will diesen aber nicht (vordergründig) politisch einlösen, sondern religiös, was bedeutet: Er will nicht die Strukturen, sondern die Herzen der Menschen verändern.

Erst nachdem diese Grundbotschaft Jesu deutlich geworden ist, vertreibt er die Händler aus dem Tempel und reinigt damit das Heiligtum vom Kommerz und den weltlichen Geschäften.

Besonders soll im Spiel auch die historische Situation spürbar, vor allem fühlbar werden. Das jüdische Volk war durch die römische Besatzungsmacht politisch und vielfach auch gesellschaftlich eingeschränkt. Vom Anfang an erscheinen römische Soldaten (fast bedrohlich), und eine Spannung schwelt im Raum.

Pilatus, der römische Statthalter, taucht schon vor dem Prozess auf und setzt den Hohen Priester Kajaphas unter Druck, dem zivilrechtlich die Ordnungsmacht anvertraut war. Pilatus bedroht ihn und wirft ihm vor, er würde nicht genügend achtsam sein. Er solle gefälligst im Umfeld der religiösen Aktivitäten noch sorgfältiger als bisher für die äußere Ruhe sorgen. Im Prozess selbst verspottet Pilatus in zynischer Weise Jesu Machtlosigkeit gleichermaßen wie die jüdische Religion als Ganze. „Seht da, der Mensch“ heißt dann: Schaut doch dieses Häufchen Elend an! Warum soll ich den hinrichten lassen, der mag sich als König der Juden ausgeben, ist aber doch nur eine machtlose Figur, nicht wert sich überhaupt mit ihm zu befassen.

Innerhalb des Hohen Rates, der obersten religiösen Autorität, wird die Auseinandersetzung um Jesu Verurteilung heftiger geführt als in früheren Aufführungen – noch heftiger als 2010. Die Anhänger Jesu treten verstärkt auf und argumentieren selbstbewusst gegen seine Feinde, unterliegen aber der Mehrheit.

Auch die Figur des Judas ist in seiner Tragik nochmals verdeutlicht. Er ist der verratene Verräter. Kajaphas täuscht ihn über die Folgen der Auslieferung. Judas will nur ein Treffen Jesu mit dem Hohen Rat erzwingen, damit Jesu Reich-Gottes-Botschaft politischer vorangetrieben würde; will also mitnichten Jesu Tod. Er bereut seine Tat und wirft das Geld, das man ihm nicht als Lohn, sondern als eine Zugabe aufgedrängt hatte, in den Tempel. Die Tragik des Judas liegt in seiner menschlich-religiösen Haltung: Er glaubt nicht an eine Vergebung, er kann sich selbst nicht verzeihen, erwartet von niemandem eine Vergebung und flieht als Verzweifelter in den Tod.

Der Mensch, dem selbst das Religiöse in erster Linie nur ein Element für eine politische oder sonstige irdische Aktivität gilt, begreift nicht den Kern der christlichen Botschaft vom Allerbarmer, der auch einem Verräter noch eine Chance gibt. So verzweifelt Judas und erhängt sich. Anders Petrus! Auch er verrät Jesus, wenn auch nur aus taktischen Gründen. Die Inszenierung stellt den Verrat des Petrus parallel zum Verrat des Judas. Petrus verleugnet Jesus dramatisch, um sich nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Als ihm sein Versagen bewusst wird, reut es ihn gleichermaßen wie den Judas. Er reagiert zunächst auch verzweifelt, erinnert sich aber an die Worte und an das Handeln Jesu. Er weint bitterlich, tritt aber dann erhobenen Hauptes von der Bühne in der Gewissheit: Der Herr wird mir verzeihen.

Einige andere Besonderheiten mögen einem Theologen auffallen wie z. B. eine Verfremdung des Vaterunser-Textes wie auch die Verkürzung der Abendmahls-Worte. Dadurch wird zwar der Charakter eines Pascha-Mahles verstärkt, das spezifisch Christliche aber ausgeblendet, was einen kirchlich Sozialisierten irritieren mag, einem nicht kirchlich Sozialisierten aber die Sache verständlicher macht als ein inszenierter Lobpreis des Ewigen. Der kirchlich sozialisierte Zuschauer wird jedoch das Fehlende automatisch ergänzen, da er es bei jeder Messe hört, so dass es, wenn auch in Irritation, dennoch anwesend ist.

Besonders schwierig ist immer die Auferstehungs-Inszenierung. Heuer hat sich Stückl entschieden, einfach die Osternachts-Liturgie einzusetzen.

Jesus wird nach der Beweinung durch seine Mutter und die beim Kreuz gebliebenen Treuen in ein Tuch eingewickelt, zu Grabe getragen, aber das Grab ist nicht sichtbar. Damit entfällt die Darstellung der Wächter am Grab. Ein Engel sagt den Frauen: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten. Er ist nicht hier, er ist auferstanden.“ Der Auferstandene erscheint (im Gegensatz zu 2000 und 2010) nicht. Der Engel aber sagt zu den Frauen nochmals: „Sucht ihn nicht hier, er ist auferstanden.“

Maria von Magdalena greift das Engelwort auf und verkündet: „Ich weiß, dass mein Erlöser lebt!“ Am Licht, das der Engel trägt, entzünden die hinzukommenden Jüngerinnen und Jünger ihre Kerzen. Diese zurückhaltende bildliche Inszenierung, die den Charakter des numinos unbegreiflich Heiligen verdeutlichen will, wird durch die große Oster-Musik ausgeglichen, ja diese ersetzt weitere Bilder. Die Gemeinde der Glaubenden bezeugt beim Verlassen der Bühne: Der, dessen Sterben wir so dramatisch miterlebt haben, lebt. So verdeutlicht die letzte Szene, was die Theologie sagt: Die Auferstehung, geschichtlich nur am Rande greifbar, ist ein „Geheimnis des Glaubens“.

Diese wenigen Hinweise auf die aktuelle Inszenierung mögen deutlich machen: Dem Spiel geht es nicht in erster Linie um eine Inszenierung biblischer Berichte und Erzählungen, sondern (gleichsam als ein fünftes Evangelium) um die Vermittlung wichtiger, die Gegenwart tangierender christlicher Botschaften, ja der christlichen Kernbotschaft selbst, die für alle Menschen gelten soll. Durch Christus werden Leiden und Sterben anders einordbar, Jesu Auferstehung gibt Hoffnung auf eine bleibende Zukunft.

Schluss

Mit großem Engagement haben die Oberammergauer – wie in den Jahrzehnten zuvor – das Passionsspiel des Jahres 2022 angepackt. Sie fühlen sich in der Pflicht, das Gelübde der Vorfahren in einer Weise einzulösen, die dem Sinn des damaligen Versprechens entspricht, nämlich die Zuversicht und den (christlichen) Glaube an eine bleibende Zukunft zu bestärken. Das Spiel ist also mitnichten ein „museales Volkstheater“. Es ist ein „Theater des Volkes für das Volk“, das Hoffnung vermitteln will.

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