Der Krieg gegen die Ukraine lässt Menschen in ihrer Solidarität zusammenwachsen, die sich vorher gar nicht kannten. Sie spüren instinktiv: Krieg richtet sich immer gegen die Menschen, auch gegen die, in deren Namen er geführt werden soll.
´s ist leider Krieg: Matthias Claudius
Im Krieg schweigen die Musen, so ein altes Sprichwort. Gott sei Dank ist dem nicht so, auch wenn die Künste gegenüber Waffen ohnmächtig scheinen. Immer wieder haben Künstler:innen und Intellektuelle Position bezogen. Ein Literat, der seine Stimme gegen den Krieg erhoben hat, war Matthias Claudius.
Dieses Anti-Kriegs Lied von Matthias Claudius ist häufig fehlgedeutet worden. Die erste Fehldeutung war die falsche zeitliche Datierung: Es stammt nicht aus der napoleonischen Kriegszeit, sondern entstand aus Anlass des bayerischen Erbfolgekriegs 1778. Claudius war im fernen Hamburg über den drohenden Krieg entsetzt. Es gibt bei einem Krieg keine örtliche Distanz, so lautet die erste Konsequenz.
Die zweite Fehldeutung war der Vorwurf einer „quietistischen Unverbindlichkeit“ an Claudius: Hier delegiere ein Gläubiger die Verantwortung an den Engel Gottes: „Rede du darein!“ Claudius geht es neben seiner gläubigen Haltung aber um die Verantwortung des Einzelnen, sich nicht mitschuldig am Krieg zu machen. Dazu würde auch ein Schweigen gehören.
Das Gedicht von Claudius ist das Gegenteil von Schweigen. Karl Kraus hat das Wort „leider“ in diesem Gedicht in das poetische Gedächtnis eingebrannt. Er nannte dieses „leider“ den „tiefsten Komparativ von Leid“. Das sprachliche Oxymoron der Steigerung von Leid mit „leider“ will dieses Gedicht zum Ausdruck bringen: Krieg ist immer eine unermessliche und unverzeihliche Steigerung des Leids für die betroffenen Menschen.
Die Klage des Friedens: Erasmus von Rotterdam
Eine theologische Antikriegsschrift war die Klage des Friedens von Erasmus von Rotterdam. Diese Querela Pacis verstand er als eine pazifistische Intervention; er schrieb sie 1517 anlässlich einer geplanten Friedenskonferenz im nordfranzösischen Cambrai, zu der alle Herrscher Europas zu einem Gipfeltreffen geladen waren. Erasmus war zu dieser Zeit Berater bzw. Erzieher des späteren Kaisers Karl V. Die Konferenz fand jedoch nie statt. Dennoch veröffentlichte Erasmus seine Schrift. Er forderte darin die größtmögliche Anstrengung weltlicher Herrscher, gewalttätige Konflikte zu vermeiden. Eher sollen die Mächtigen auf Vermögen und Land oder sogar ihre Macht verzichten, als einen Krieg zu beginnen.
Erasmus lässt in dieser Schrift den Frieden als eine personifizierte Figur auftreten. Der Friede beklagt, dass die Menschen am meisten leiden würden, wenn er vertrieben werde. Es gehe ihm nicht um sein eigenes Los, sondern um das Wohl der Menschen. „Die außerordentlichen Annehmlichkeiten, die ich mit mir bringe, sich selbst vorzuenthalten und sich stattdessen ein viermal Verderben bringendes Ungeheuer herbeizurufen, grenzt das nicht an Wahn?“ Erasmus wendet sich zunächst an die Herrscher und Magistraten, kommt dann aber auch auf das Volk zu sprechen: „Vom größten Teil des Volkes wird der Krieg verflucht, man betet um Frieden. Einige wenige nur, deren gottloses Glück vom allgemeinen Unglück abhängt, wünschen den Krieg.“ Krieg werde immer aus Krieg gesät, Rache verursache wieder Rache. Nur der sei ein wahrer Herrscher, der von seinen Ansprüchen absehe.
Der Krieg gegen die Ukraine: Es gibt kein jenseits des Volkes mehr
Der russische Präsident Putin lässt sich von solchen Überlegungen eines Erasmus von Rotterdam nicht beeinflussen, er verfolgt ganz andere geopolitische Ziele: Dominanz gepaart mit Angst und Schrecken. Dabei unterschätzt er allerdings die von Erasmus angesprochenen Wünsche des Volkes nach Frieden.
Zum Helden im post-heroischen Zeitalter ist mittlerweile der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj geworden. Seine Biographie lohnt eine nähere Betrachtung. Nach seinem Jurastudium wurde er Schauspieler und gründete mit seiner Kabaretttruppe eine Fernsehproduktionsgesellschaft. 2015 trat Selenskyj auf dem meistgesehenen Fernsehsender der Ukraine 1+1 in der satirischen Fernsehserie Diener des Volkes als Geschichtslehrer Wassilyi Petrowytsch Holoborodko auf. Die Figur Holoborodko ist von der Korruption ukrainischer Politiker angewidert, so macht Wassilyj Petrowytsch über Social Media Wahlkampf, sammelt Geld über eine Crowd-Funding-Kampagne und wird unversehens zum Präsidenten gewählt. Als ehrlich bleibender Präsident räumt Holoborodko dann in der notorisch korrupten ukrainischen Politik auf. Die Fernsehserie wurde zum Grundstein für Selenskyjs politischen Durchbruch.
In seinem politischen Programm blieb Selenskyj bewusst vage und bot damit eine Projektionsfläche für die Hoffnungen vieler Ukrainer:innen. Die ukrainische Öffentlichkeit war von der mangelhaften Korruptionsbekämpfung und der Dominanz der alten Kräfte“ in der Ukraine seit langem enttäuscht. Bei einem Treffen im Januar 2019 mit verschiedenen Botschaftern der EU-Länder nach seinem politischen Programm gefragt, verwies Selenskyj auf seine Berater. Er forderte daraufhin seine Anhänger auf, ihm Programmvorschläge zu machen, und veröffentlichte ein Vier-Seiten-Programm. Das Programm reichte von der Einführung direkter Demokratie und Volksabstimmungen über eine Beteiligung aller Ukrainer am nationalen Reichtum von Geburt an, über freie Universitätswahl für herausragende Abiturienten bis hin zum Straßenbau auf europäischem Niveau.
Nach seinem Wahlsieg erklärte Selenskyj das Aufräumen mit Korruption und Elitenherrschaft zu seinen Zielen und distanzierte sich von den Oligarchen, die ihn vorher unterstützt hatten. Er machte die Wünsche seines Volkes wirklich zu seinem Ziel: die Ausrichtung nach Europa und das Leben in Freiheit. Das bedrohte den russischen Präsidenten, der seine Herrschaft auf Autokratie baut und nicht auf Demokratie. Selenskyj konnte so in einem post-heroischen Zeitalter zum neuern Heros werden.
Die Frauenforscherin Christina von Braun endet ihr Buch Geschlecht (2021) mit dem Hinweis, dass man das 21. Jahrhundert einmal als das „Zeitalter der Frau“ bezeichnen werde. Es werde jedoch auch in die Geschichte eingehen als das Zeitalter, in dem eine Handvoll starker Männer das Unternehmen Patriarchat an die Wand fuhr. Sie schrieb diese Zeilen unter dem Eindruck des Amtsgebarens des amerikanischen Präsidenten Trump. Die Schlussthese von Christina von Braun muss nun wohl ergänzt werden: in den beiden Personen von Putin und Selensky stehen sich neben dem politischen Konflikt auch zwei Männerbilder gegenüber. Die Zukunft wird Selensky gehören, wie immer der Krieg ausgehen mag. Es gibt kein jenseits des Volkes mehr.
Diese Erkenntnis wird auch die Zukunft der Kirche bestimmen.