Anlässlich des 100. Todestages des Schriftstellers Franz Kafka im Juni 2024 fand am 27. Mai ein Vortragsabend in der Katholischen Akademie in Bayern statt, der die Frage nach dessen jüdischer Identität in den Mittelpunkt stellte. Dazu waren zwei Experten unterschiedlicher Fachrichtungen eingeladen: der Judaist und Religionswissenschaftler Prof. em. Dr. Karl Erich Grözinger von der Universität Potsdam und die Literaturwissenschaftlerin Prof.in Dr. Liliane Weissberg von der University of Pennsylvania, USA. 180 Teilnehmende verfolgten die Veranstaltung im Saal und 40 im Stream.
Karl-Erich Grözinger, unter anderem Autor des bereits in 5. Auflage erschienen Buches Kafka und die Kabbala. Das Jüdische im Werk und Denken von Franz Kafka, machte in seinem Vortrag auf die Problematik der verschiedenen Kafka-Deutungen aufmerksam. Anhand des Romans Der Proceß illustrierte er eindrücklich die Wichtigkeit, den jüdischstämmigen Autor und seine Texte vor dem Hintergrund seines gesellschaftlich-religiösen Kontextes zu verstehen – ein Aspekt, der oft übergangen werde. Ein Blick in Kafkas Tagebücher, seine persönlichen Briefkorrespondenzen oder in seine private Bibliothek untermauern diese Notwendigkeit: Obwohl Kafka oft über sein mangelhaftes Wissen über das Judentum klagte, setzte er sich intensiv damit auseinander und erlebte das jüdische Festjahr bewusst mit. Insbesondere die hohen jüdischen Herbstfeiertage, die mit dem Neujahrsfest Rosch ha-Schana beginnen und ihren Höhepunkt mit dem Versöhnungstag Jom Kippur erreichen, wirkten Grözinger zufolge intensiv auf Kafkas Schreiben. So habe Kafka neben Der Proceß, Das Urteil, In der Strafkolonie und Die Verwandlung während dieser Festtage geschrieben. Auffällig sei zudem, dass in all diesen Werken die Themen Schuld und Gericht, die an diesen Feiertagen von zentraler Bedeutung sind, eine wesentliche Rolle spielen.
Anschaulich ergänzt wurde Grözingers Vortrag durch eingestreute Zitate des Schriftstellers sowie durch Zitate aus jüdischen Schriften und Traditionen wie dem Talmud und der Jom Kippur Liturgie. Diese wurden von den Schauspielern Clara Walla und Max Faatz von der Otto Falckenberg Schule unter der dramaturgischen Leitung von Marcus Boshkow lebhaft und eindrucksvoll vorgetragen.
Liliane Weissberg, die ihren anschaulich bebilderten Vortrag unter die Frage Franz Kafka – ein jüdisches Leben? stellte, beleuchtete darin, Kafkas jüdische Identität anhand seiner Biografie. Sie begann mit dem Hinweis, dass ein deutschsprachiger Schriftsteller jüdischer Herkunft nicht automatisch als Jude bezeichnet werden könne. Anschließend widmete sie sich Kafkas Welt und seiner Biografie: die Geburt Kafkas im Jahr 1883, die Situation der Juden in Böhmen und besonders in Prag und die jüdisch-religiöse Sozialisation innerhalb der Familie. In Kafkas Familie wurde das Judentum kaum gepflegt. In seinem berühmten Brief an den Vater wirft er diesem vor, keine richtige jüdische Erziehung erhalten zu haben, weshalb ihm das Judentum fremd sei. Kafka habe das Judentum erlernen wollen. Sein Interesse am Zionismus wurde durch seine Prager Schulfreunde, besonders Max Brod, geweckt, und er wollte selbst nach Palästina reisen oder auswandern.
Weissberg thematisierte auch Kafkas Nachleben. So wurden Kafkas Schriften 1933 bei den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten vernichtet. Er selbst entging aufgrund seines frühen Tods der Verfolgung, seine drei Schwestern starben jedoch in Konzentrationslagern.
Zudem ging Weissberg auf den Streit um den Nachlass Kafkas ein, bei dem es darum ging, ob die Kafka-Originale in der israelischen Nationalbibliothek oder im Deutschen Literaturarchiv Marbach aufbewahrt werden sollen. Weissberg schloss ihren Vortrag: Vielleicht können wir heute etwas an Kafkas Judentum wahrnehmen, das für ihn nicht selbstverständlich war.
Im abschließenden Gespräch, moderiert vom Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Markus May, diskutierten Karl Erich Grözinger und Liliane Weissberg angeregt und kontrovers über Kafkas Beziehung zum Judentum und darüber, ob und wie sich Jüdisches in den Schriften Kafkas widerspiegelt. Während Liliane Weissberg den Schriftsteller als einen Suchenden im Hinblick auf die jüdische Religion beschreibt, spricht Karl Erich Grözinger ihm mehr Wissen über die jüdische Tradition zu.