Gemeinsam stark

Die Rolle der Europäischen Union in der multipolaren Weltordnung

Im Rahmen der Veranstaltung Die neue multipolare Weltordnung, 10.04.2024

© vjanez / canva.com

Sie werden bestimmt schon nach zwei Minuten den Unterschied sehen zwischen einem großen Wissenschaftler und einem einfachen Außenminister. Ich werde das Thema aus der Sicht eines europäischen Politikers betrachten und anfangen – da ich selbstverständlich gut zugehört habe – mit den Punkten, die Sie, verehrter Herr Münkler, dargelegt haben.

I.

Man muss sich vorstellen: Wenn wir es schaffen würden, dass diese fünf großen Akteure, die vier Länder USA, Russland, China und Indien sowie die Europäische Union, in dieser Welt an einem Strang ziehen! Welche Chance hätte die Welt bei der Stabilisierung des Friedens, aber auch bei der Bekämpfung der Armut, der Erreichung der Klimaziele, um einige Beispiele zu nennen. Welches immense Potenzial würde darin liegen, um die Welt wirklich auf eine bessere Schiene zu setzen.

Was mich nach meinen 20 Jahren im Amt geprägt hat, sind zwei Daten, zwei Ereignisse gegen Ende meiner Amtszeit: Das ist zum einen der 24. Februar 2022 und das ist der 7. Oktober 2023. Man träumt manchmal davon, dass es diese Ereignisse gar nicht gegeben hätte, aber es gab sie eben. In diesen zwei Jahrzehnten, in denen ich als Außenminister und in der europäischen Politik aktiv war, habe ich Geduld gelernt. Aber jetzt am Ende des vergangenen Jahres habe ich mir wirklich die Frage gestellt, ob wir diese Welt noch zusammenhalten können oder ob sie nicht völlig aus den Fugen gerät.

Wenn internationales Recht, wenn die Charta der UNO so mit Füßen getreten wird – und nicht von irgendjemandem, sondern von einem Mitglied des Sicherheitsrats mit Vetorecht –, gibt es dann noch politische Einflussmöglichkeiten? Darauf direkt die nächste Frage – und ich bin wirklich kein Pessimist und auch kein Schwarzseher: Aber haben wir in der Welt noch irgendwo Einfluss, natürlich zuerst als Kollektiv, als Europäer, in Verbindung mit den USA und zusammen mit anderen, die wir den Westen nennen? Haben wir nicht kollektiv versagt in den letzten zwei Jahrzehnten, so dass es überhaupt zu diesen zwei Ereignissen hat kommen können?

Ich bin ein Europäer, das heißt ich bin kein Fatalist und ich schätze wirklich alles das, was wir hier gemeinsam an Freiheit genießen – auch die Freiheit, uns kritisch mit uns selbst auseinanderzusetzen und mit Fragen der Politik. Und darum danke ich der Katholischen Akademie, dass ich hier sein darf und mit einem so großen Wissenschaftler und mit Ihnen allen über die Europäische Union reden darf, eben auch kritisch.

II.

Man muss, ich glaube auch vor sehr gebildeten Menschen, immer wiederholen, dass die europäische Einigung im Kalten Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist und vor allem, wenn auch nicht nur, auf zwei Füßen steht: Deutschland und Frankreich. Die Idee damals war, dass diese beiden Länder, die sich immer wieder bekriegt hatten, dies nun nicht mehr tun. Und das Geniale dabei war damals, dass man nicht nur diese beiden Länder hineingenommen hat, sondern dass man es globaler gesehen hat, dass man kein Duett, sondern ein Sextett geschaffen hat: die drei Beneluxländer, plus Italien und dann eben Deutschland sowie Frankreich. Sie wissen, dass wir es schließlich bis auf 28 Mitglieder gebracht hatten – gut, einer hat uns verlassen. Aber ich weiß nicht, ob der ganz glücklich ist. Und es ist gut möglich, dass dieser Staat vielleicht in zehn Jahren wieder an unsere Tür klopft, um erneut Mitglied zu werden. Denn diese Situation, in der die Briten jetzt sind, hätten sie sich wohl so nicht erträumt.

Aber im Zentrum stehen Deutschland und Frankreich – und das weiß man sehr gut, wenn man aus Luxemburg ist, weil man deren Konflikte lange am eigenen Leibe gespürt hat: Dass Deutschland und Frankreich sich nicht mehr bekämpfen, sondern dass sie zusammen an einem Tisch sitzen, diese zwei total verschiedenen Kulturen, Sprachen, Mentalitäten, vor allem auch Egos, das ist ja nicht nichts. Dass man beiden in der Europäischen Union eine gemeinsame Ambition gegeben hat, nämlich demokratisch und friedlich zu sein, im Interesse aller in Europa, das ist eine Erfolgsgeschichte. Die Europäische Union, das weiß ich genau, ist nicht hundertprozentig perfekt. Aber wir haben immerhin 80 Jahre erlebt, in denen es zwischen den Ländern, die in der Europäischen Union sind, keinen Krieg gab. Das gilt nicht für ganz Europa. Wir wissen, dass in den 90er Jahren diese schrecklichen Kriege auf dem Balkan wüteten.

Europa ist auch noch immer, auch wenn wir sehr gut aufpassen müssen, dass es so bleibt, da hat Herfried Münkler ganz recht, eine große wirtschaftliche Macht: Die USA vereinen 24 Prozent des Weltwirtschaftsvolumens auf sich, die Europäische Union immerhin 22 Prozent und China 15 Prozent. Allerdings werden in den nächsten Jahren grundlegende Fragen zu beantworten sein. Es müssen Weichen gestellt werden: Vielleicht haben sie mitbekommen, dass unter der Leitung von zwei Italienern, Mario Dragi und Enrico Letta, große Analysen über den Binnenmarkt erstellt werden, aber besonders auch darüber, wie die Wirtschaft in Europa in der Welt konkurrenzfähig bleiben kann. Dabei kann man sich auf nationaler Ebene anstrengen so viel man will – es geht nicht mehr mit nur nationalen Maßnahmen. Auch die Wirtschaftspolitik muss föderativer, europäischer werden. Dabei sind wir natürlich bei einem Punkt, bei dem viele in Deutschland direkt Zuckungen bekommen. Nämlich die Entscheidung zu treffen und mitzutragen, dass die großen Mittel, die man für eine europäische Wirtschaftspolitik braucht, vielleicht auch Mittel sein können, ja müssen, die durch große Anleihen zu beschaffen sind. Europa leistet auch heute noch 50 Prozent aller weltweiten Entwicklungshilfe. Das ist eine gewaltige Leistung. Und was die Menschenrechte angeht, was die Rechtsstaatlichkeit angeht, so sind wir sicherlich nicht perfekt, aber schon sehr fortschrittlich. Und wir genießen eine europäische Lebensweise und diese europäische Lebensweise verdient es, nachhaltig geschützt zu werden: meines Erachtens natürlich auch intensiv nach innen, aber vor allem auch als Modell nach außen.

III.

Die Europäische Union hat nur eine Chance in dieser multipolaren Welt, wenn die Länder effektiv zusammenstehen. Nehmen Sie nur ein Beispiel: Für Putin gab es in den letzten zehn Jahren keine Europäische Union mehr; es gab nur noch europäische Staaten und er versuchte, diese gegeneinander auszuspielen. Mit einem gewissen Erfolg. In den kommenden Wahlen für das Europäische Parlament im Juni 2024 werden wir wohl erleben, dass dabei Parteien am rechten Rand, am extrem rechten Rand, die die Integration Europas kaputtschlagen wollen, stark zulegen werden. Wählen dürfen dann junge Menschen schon mit 16 Jahren und wir müssen aufpassen, dass nicht die Stimmen, die gegen die Integration Europas sind und die die Europäische Union zerschlagen wollen, so wie Putin es will, überhandnehmen.

In der wichtigen französischen Zeitung Le Monde fand sich vor ein paar Wochen ein großer Text, der konstatierte, dass das deutsch-französische Tandem durch den Ukraine-Krieg zerrüttet sei. Ein erstes Warnzeichen: Die Aussage von Präsident Macron vom 26. Februar 2024, dass er für den Ukrainekrieg nicht ausschließt, dass auch EU-Truppen oder Nato-Truppen in einem gewissen Moment in der Ukraine eingesetzt werden könnten, war ein zweiter Akt der Entfremdung. Vor allem als Bundeskanzler Scholz dann replizierte, dass es mit Deutschland weder in der EU noch in der NATO zu einem Einvernehmen kommen werde, europäische Soldaten in der Ukraine einzusetzen.

Dann kam der dritte Akt – das war der 15. März 2024: An diesem Tag waren die führenden Politiker des Weimarer Dreiecks in Berlin zusammengekommen: der deutsche Bundeskanzler, der französische Präsident und auch der polnische Ministerpräsident. Sie sind sich vor den Kameras in die Arme gefallen, so dass, wenn Wolfgang Schäuble noch leben würde, er sagen würde: „Der Streit isch over“.

Aber so einfach ist es natürlich nicht. Aber man hat gespürt, dass, wenn Deutschland und Frankreich wirklich verschiedene Wege gehen, die Situation kompliziert wird. Ich glaube, dass Deutschland und Frankreich und die meisten anderen in der Europäischen Union ganz klar wissen, dass Putin nicht gewinnen darf. Es gibt sicher Nuancen und vielleicht muss man auch verstehen, dass Deutschland, vor allem Kanzler Olaf Scholz, aber auch seine Vorgängerin, die transatlantischen Beziehungen immer in den Mittelpunkt gestellt haben. Anders übrigens als Kanzler Gerhard Schröder. Er hatte damals meines Erachtens richtig gehandelt, als er 2002 zusammen mit Frankreich gegen den Irak-Krieg votierte. Aber Kanzler Scholz – siehe seine Aussage die Leopard-2-Panzer erst dann zu liefen, wenn auch die amerikanischen Abrahams-Panzer geliefert werden – agiert so, dass er ein totales Einverständnis mit den USA sucht und das transatlantische Bündnis der Kooperation mit Frankreich vorzieht.

In Frankreich versteht man aber, oder zumindest spürt man, dass Deutschland in der Außenpolitik nicht dieselbe strategische Kultur hat wie man selbst. Deutschland ist 1955 in die NATO und erst 1973 in die UNO aufgenommen worden. Frankreich sieht sich als Atommacht und Ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat in einer anderen Position. Die Franzosen akzeptieren, dass Deutschland wirtschaftlich die stärkste Kraft in der Europäischen Union ist, aber auf dem Feld der Außenpolitik sehen sich die Franzosen selbst an der Spitze. Ich glaube, wenn die Deutschen und die Franzosen in der Europäischen Union verschiedene Wege gehen, ist das akzeptabel. Denn die Diversität ist ja eine Stärke der Europäischen Union. Auch die zivile Atomnutzung ist übrigens ein Punkt, in dem sich beide Länder sehr uneins sind, aber auch damit kommt man zurecht.

Aber ich muss deutlich sagen, dass Deutschland und Frankreich nicht auf zwei verschiedenen Gleisen fahren können, wenn es um die EU-Außenpolitik geht, zumindest um die zentralen Fragen der Außenpolitik. Weder was die Ukraine und Russland angeht, noch was Israel und Palästina betrifft, darf Uneinigkeit herrschen. Hier darf die Multipolarität keinen Platz haben. Denn wenn das geschieht, wenn hier ganz unterschiedlich agiert wird, wird die europäische Außenpolitik gar nicht mehr wahrgenommen.

Ich will zwei Beispiele etwas ausführlicher darlegen. Wir hatten, was Israel und Palästina angeht, bis zum Brexit eine gemeinsame Position in der EU: Jerusalem ist die Hauptstadt der beiden Staaten und die Grenzen von Palästina sind die Grenzen von 1967. Das wurde dann nach dem Brexit-Votum aufgegeben, ganz klar von Boris Johnson, der damals britischer Außenminister war. Und verschiedene andere Länder in der Europäischen Union haben sich auch von dieser gemeinsamen Regelung verabschiedet. Wir haben also jetzt, was Israel und Palästina angeht, keine gemeinsame Position mehr in der Europäischen Union.

Das zweite Beispiel ist – Sie können sich vielleicht erinnern – der UNO-Pakt für Migration. Manche EU-Staaten waren dafür, andere dagegen, wieder andere enthielten sich. Immer wenn die Europäische Union – das habe ich in der Praxis immer gespürt und auch deutlich gesagt – in grundsätzlichen und wichtigen Fragen keine gemeinsame Position hat, dann zählen wir nicht auf der Weltbühne, dann wird über uns gelacht. Und darum ist hier ein entscheidender Punkt, vor allem, wenn wir uns in einer multipolaren Welt bewegen werden, an dem wir arbeiten müssen.

IV.

Wir sind mit ein paar fundamentalen Fragen konfrontiert, die Herfried Münkler schon angeschnitten hat. Wir müssen wissen, dass sie sich ab November 2024 noch deutlicher stellen könnten. Wenn in den USA ein anderer Präsident gewählt wird, einer, der es schon einmal war. Wenn es dann zu einem Deal mit Putin käme, eine Idee, die Trump ja wiederholt erwähnt hat, also das Konzept „Land gegen Frieden“, würde es darauf hinauslaufen, dass Russland die Krim und den Donbass zugeschlagen bekommt. Mit dem Rest der Ukraine soll sich dann die Europäische Union herumschlagen. Wenn das über die Köpfe der Ukraine und auch über die Köpfe der Europäischen Union zustande käme, müssten wir wissen, wie wir zu reagieren hätten.

Ich meine, das allererste wäre, dass die Ukraine dann Mitglied in der NATO werden müsste. Ich rede hier von rund 80 Prozent der Fläche und Einwohnerzahl der Ukraine, was ja noch immer ein großes Land ist. Ob hier ein Konsens herzustellen ist, weiß ich allerdings nicht. Wir müssten uns der Gefahr bewusst werden, dass das eine Zerreißprobe werden würde, nicht nur für die Ukraine, sondern auch für die Europäische Union.

Auf militärischem Niveau steckt die Ukraine gerade in massiven Schwierigkeiten. Was im Moment das Äußerste ist, was man hoffen kann, ist, dass sie die Stärke haben, die Positionen zu halten. Es ist nicht mehr die Rede von Offensiven und ich will hier natürlich nicht in der Öffentlichkeit zu viel darüber sagen. Ich will nur bemerken, was auch in den letzten zwei Jahren unsere Aufgabe in der EU war, die wir weiterführen müssen: Die Ukrainer brauchen Munition, um sich zu wehren. Sie brauchen diese Munition nicht, um Russland anzugreifen. Wenn wir in Europa nicht imstande sind, das Nötige zuverlässig zu liefern, dann wird die Ukraine eines Tages nicht mehr bestehen. Die Ukraine kann diesen Krieg nicht stoppen, sie muss ihn überleben. Wenn nicht, dann hat Putin auf der ganzen Linie gewonnen und er steht vor Polen.

Die zweite große Frage: Was geschieht mit der NATO. Ich bin mir nicht so sicher, dass, auch wenn Trump gewählt werden würde, die Amerikaner hier ohne Widerstand zuschauen würden, wenn die NATO zerschlagen würde. Aber wir müssen klarhaben, wie wir mit der nuklearen Frage umgehen. Wir haben in Europa zwei Nuklearmächte, Frankreich und Großbritannien. Aber sehen wir uns die Zahlen an: Die Amerikaner haben 5200 atomare Sprengköpfe, die Russen 5400, China zurzeit 410, Frankreich rund 290 und Großbritannien im Moment 225.

Jetzt ist die Frage, die auch in Frankreich diskutiert wird und von Präsident Macron in Schweden angesprochen wurde: Diese Waffen dienen der Abwehr gegen Angriffe auf essentielle Interessen Frankreichs. Der Präsident hat für diesen Fall die Macht, die Atomwaffen einzusetzen. Aber was würde geschehen, wenn die NATO einmal zerschlagen ist und Putin uns angreift: Was kann dann oder was wird dann die Antwort sein? Ich denke nicht jeden Morgen daran, bin aber sicher, dass diese Frage progressiv auf uns zukommt. Vielleicht wird sie sich überhaupt nicht stellen, das hoffen wir, aber wir müssen darüber nachdenken.

Die Europäische Union hat im Ukra­inekrieg Großartiges geleistet. Man darf nicht immer sagen, es ist nicht genug, es war zu langsam. Ich kann mich an die ersten Sitzungen der Außenminister erinnern, nach dem 24. Februar 2022. Das war nicht einfach. Wir waren so durcheinander und so aufgewühlt, überlegten, ob wir Waffen liefern sollten oder nicht. Sie wissen, dass in Deutschland eine große Debatte darüber entbrannte. Aber das hat sich ganz schnell gedreht, als wir die schrecklichen Kriegsbilder gesehen haben. Und ich glaube, dass wir hier auch im Rahmen der Charta der Vereinen Nationen gehandelt haben. Artikel 51 sagt, dass ein Land, wenn es angegriffen wird, eine Koalition bilden kann mit anderen Ländern, um sich zu verteidigen. Und wir sind als Europäische Union wie auch als NATO eine Koalition, die der Ukraine hilft, sich zu wehren gegen diese Angriffe von Putin. Wir haben übrigens auch ziemlich schnell Sanktionen verhängt. Ob sie wirken oder nicht wirken – das ist eine Sache. Aber wir haben als Europäische Union gezeigt, dass wir nicht nur Interessen haben, sondern dass wir auch Solidarität zeigen müssen, wenn ein Land derart überfallen wird und entsprechende militärische Mittel zur Verfügung stellen. Es ist total falsch und völlig unverantwortlich zu sagen, der Krieg wäre vorüber, wenn die Europäische Union und andere keine Waffen mehr liefern würden. Vielleicht in der Ukraine, aber Putin hätte auf der ganzen Linie gewonnen und was dann?

Es tut mir auch weh, wenn man die Diskussionen in der Slowakei sieht, dass diejenigen, die keine Waffen mehr liefern wollen, für den Frieden sind, und die, die der Ukraine helfen wollen, als Kriegstreiber gelten. Wir müssen unsere Linie halten: Wir stehen zu den Sanktionen und wir müssen große Anstrengungen unternehmen, dass die Ukraine die Mittel bekommt, um sich weiterhin zu wehren. Die nächsten Wochen und Monate werden entscheidend sein. Wenn Putin durchkommt mit Gewalt, dann bleibt das natürlich nicht auf die Ukraine begrenzt, dann stehen alle Türen offen. Dann ist es so, dass das Gesetz des Stärkeren über die Stärke des Gesetzes siegt, auch auf anderen Kontinenten.

V.

Ein zweites wichtiges Thema für Europa ist der Nahost-Konflikt. Für den Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 gibt es keinerlei Rechtfertigung; das war Barbarei in höchster Potenz. Wenn so barbarisch operiert wird und dann noch Geiseln genommen werden, dann ist das Horror und Terror zusammen, der nicht zu überbieten ist. Wie kommt man aber jetzt aus dem Konflikt heraus? Wenn ich sage „man“, so sind das natürlich zuerst Israel und Palästina, aber es ist auch eine Frage an die internationale Gemeinschaft. Sie wissen, dass Israel 1948 gegründet wurde und die UNO die Existenz des Staates Israel anerkannt hat, auf der Grundlage einer Teilung des Landes. Das Existenzrecht Israels steht natürlich nicht zur Disposition. Allerdings müssen wir auch wissen, dass in diesem Teilungsakt auch ein zweiter Staat entstehen sollte, damals sagte man nicht für die Palästinenser, sondern für die Araber. Wir kennen die Geschichte: Er kam nicht zustande, stattdessen kam es zu Kriegen, zu Vertreibung, zu Flucht und zu unermesslichem Leid.

Wenn uns als Europäer die Frage gestellt wird, ob Palästina das Recht auf einen Staat hat, müssen wir als Europäische Union dazu Ja sagen. Dann sind wir bei dieser komplizierten aber doch einfachen Zwei-Staaten-Lösung. Persönlich glaube ich sogar, dass Israel nicht zur Ruhe kommt, solange die Palästinenser nicht ihren eigenen Staat haben. Und wenn wir denselben Fehler machen wie die internationale Gemeinschaft, die sich in den letzten Jahren nicht darum gekümmert hat, dieses Problem nicht mehr sehen wollte, bis es so explodiert ist wie es eben explodiert ist, dann wird es keine Lösung geben. Ich glaube, dass die internationale Gemeinschaft hoffen muss und alles dafür tun muss, dass sowohl auf israelischer wie auf palästinensischer Seite ein legitimer Verhandlungspartner an die Macht kommt, um zu einer Zwei-Staaten-Lösung zu finden.

Wenn ich Premierminister Netanjahu kritisiere, ist das so, wie wenn ich früher z. B. den italienischen Premierminister Berlusconi kritisierte habe. Das ist mein Recht, das ist das Recht eines jeden. Wenn ich Premierminister Netanjahu kritisiere, bin ich nicht antisemitisch, denn er hat mit seiner Siedlungspolitik in den letzten 20 Jahren eine Zwei-Staaten-Lösung verhindert, nie zum Zug kommen lassen. Als ich 2004 Minister wurde, lebten 300.000 Siedler im Westjordanland und in Ostjerusalem –
heute sind es 700.000.

Und die zweite Kritik richtet sich an die Siedler, die gegen die Palästinenser im Westjordanland Gewalt anwenden, die unmenschlich ist und die gestoppt werden muss. Und sogar unsere amerikanischen Freunde sagen jetzt endlich dasselbe. Ich hoffe, dass es in der Europäischen Union eine einheitliche Position geben wird, sie sich an die Spitze setzen und sich mit den Amerikanern verständigen. Was mir Hoffnung macht, ist zum Beispiel, dass ich im November 2023 noch die Familienangehörigen verschiedener Geisel in meinem Außenministerbüro in Luxemburg empfangen habe. Dort hat mir eine Frau aus Metz, die auf diesem von der Hamas überfallenen Konzert war, als das Drama geschah, gesagt: „Wenn dieser Krieg vorüber ist, hoffe ich, dass das israelische und das palästinische Volk sich zusammensetzen und Frieden suchen.“

Wenn wir immer in UNO-Verfahren stecken, oder wenn wir streiten über Kommas und Punkte in Deklarationen, kommen wir nicht voran. Aber so kann es ja in dieser Region nicht weitergehen. Israel muss in Sicherheit leben können und die Palästinenser in Würde. Ich glaube, dass das machbar ist in einer multipolaren Welt.

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