Globale Gerechtigkeit als Grundlage für die Gestaltung internationaler Wirtschaftsbeziehungen

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Im Beitrag von Christian Hecker werden neben berechtigten ökonomischen Interessen wie der Sicherung der notwendigen Rohstoffe und Vorleistungsgüter sowie der Verlässlichkeit der Lieferketten auch ethische Aspekte angesprochen, meist bei der Bewertung von Folgen der Deglobalisierung und des zunehmenden Standortwettbewerbs.

Implizite und explizite ethische Forderungen im Beitrag von Christian Hecker

Besonders hervorgehoben wird der Zusammenhang von Einkommensverlusten für große Teile der Bevölkerung bzw. des Abbaus sozialstaatlicher Leistungen mit der Stärkung populistischer Kräfte, was die Demokratie in verschiedenen Ländern gefährden könne. Dies liege nicht im Interesse der Wirtschaft, weil es auch die Akzeptanz der Marktwirtschaft gefährden würde. Außerdem nimmt Hecker Bezug auf Fragen der Fairness des Wettbewerbs, z. B. hinsichtlich der Korruptionsbekämpfung und der unterschiedlichen Mindeststandards für den Schutz der Umwelt und für menschliche Arbeitsbedingungen. Hier kommen sowohl globale öffentliche Güter als auch individuelle Rechte von Arbeitnehmer:innen in den Blick. Auch auf die Menschenrechte wird explizit Bezug genommen. Dabei sieht Hecker die einzelnen ökonomischen Akteure in der Verantwortung (Corporate citizenship), plädiert aber zugleich für eine ethisch fun-
dierte Ordnungspolitik. Letztere müsse u. a. dafür sorgen, dass es nicht durch Moral Hazard zu einer Verlagerung von Risiken auf den Staat kommt bei gleichzeitiger privater Aneignung von Gewinnen. Besonders hervorheben möchte ich den Gedanken Heckers, dass staatliche Ordnungspolitik auch das Ziel haben müsse, die Wahrnehmung von Verantwortung durch die Unternehmen selbst zu fördern. Dies dürfte auch deshalb möglich sein, weil die Kontrolle der Lieferketten und die Diversifizierung der Herkünfte der Rohstoffe und Vorprodukte auch im Interesse der Unternehmen selbst liegt. Schwierigkeiten globaler Ordnungspolitik ergeben sich freilich daraus, dass die Nationalstaaten häufig einer Übermacht multinationaler Konzerne gegenüberstehen, eigentlich nur gemeinsam ordnungspolitisch handlungsfähig sind, nationalistische Präferenzen aber die dafür nötige Zusammenarbeit erschweren.

Eine notwendige Basis der Argumentation: Globale Gerechtigkeit

Mit dem Stichwort Menschenrechte ist schon der globale Bezug angesprochen. Sie sind moralische und bei rechtlicher Positivierung auch juridische Rechte, die per defintionem allen Menschen zukommen. Aber auch die Bewahrung globaler öffentlicher Güter erfordert global koordiniertes Handeln. Wie oft so verschränken sich auch hier moralische Einsichten und Eigeninteressen, weshalb die Begründung globaler Gerechtigkeit in einer Kombination von kontraktualistischen und kantischen Ansätzen erfolgen kann, was hier nicht näher entfaltet werden kann (vgl. aber Kruip, 2010). Gerade in der katholischen Denktradition (vgl. Kruip, 2009) ist spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil die globale Perspektive unverzichtbar. So heißt es in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes (1965): „Aus der immer engeren und allmählich die ganze Welt erfassenden gegenseitigen Abhängigkeit ­ergibt
sich als Folge, daß das Gemeinwohl, […] heute mehr und mehr einen weltweiten Umfang annimmt und deshalb auch Rechte und Pflichten in sich begreift, die die ganze Menschheit betreffen. Jede Gruppe muß den Bedürfnissen und berechtigten Ansprüchen anderer Gruppen, ja dem Gemeinwohl der ganzen Menschheitsfamilie Rechnung tragen.“ (GS 26) Jüngst hat auch Papst Franziskus in seiner Enzyklika Fratelli tutti (2020) dies noch einmal bekräftigt: „Wir müssen uns aber zusammenschließen in einem ‚Wir‘, welches das gemeinsame Haus bewohnt.“ (FT 17) Und mit Bezug auf das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das er in einen globalen Horizont einordnet, betonte er: „Wir alle tragen eine Verantwortung gegenüber dem Verwundeten, das heißt gegenüber dem eigenen Volk und allen Völkern der Erde. Tragen wir Sorge für die Zerbrechlichkeit jedes Mannes, jeder Frau, jedes Kindes und jedes älteren Menschen mit dieser solidarischen und aufmerksamen Haltung der Nähe des barmherzigen Samariters.“ (FT 79) Solange man um die Not anderer weiß und etwas dagegen tun kann, dürfen eben geographische Distanz und verschiedene Zugehörigkeiten keine Rolle spielen.

Trotz des biblischen Bezugs meint Franziskus, das Gleichnis äußere sich „doch in einer Weise, dass jeder von uns sich von ihm ansprechen lassen kann“ (FT 56), unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Religion. In der Tat finden wir solche globalen Bezüge in vielen Menschenrechtserklärungen oder Grundrechtechartas. In der Präambel des Grundgesetzes (1949) heißt es, das deutsche Volk sei „von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ Und in Art 1 (2) GG ist explizit von der „Gerechtigkeit in der Welt“ die Rede: „Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“ Ein Jahr zuvor war in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 auch schon von den „gleichen und unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen“ die Rede, welche „die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt“ bildeten. Für unseren Kontext ist insbesondere der Art 28 (AEMR) relevant: „Jeder hat Anspruch auf eine soziale und internationale Ordnung, in der die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten voll verwirklicht werden können.“ Damit ist klar, dass den Staaten auch die Aufgabe zukommt, dafür zu sorgen, dass sie selbst, aber auch andere Akteure auf nationaler und internationaler Ebene, insbesondere eben auch Wirtschaftsunternehmen, Menschenrechte nicht verletzen.

Am ehesten dürfte sich dies auf der Basis einer globalen sozialen und ökologischen Marktwirtschaft realisieren lassen (Kruip, 2022). Märkte haben große Vorteile für die Koordination von Angebot und Nachfrage, die Innovationsfähigkeit und wirtschaftliche Dynamik. Sie sind sicherlich besser als Planwirtschaften, die meist auch mit autoritären Regimen verknüpft sind. Auch der internationale Freihandel bietet in der Regel allen Beteiligten große Vorteile. Jedoch brauchen Märkte geeignete Rahmenordnungen, damit es wirklich Wettbewerb gibt, damit er fair ist, damit globale öffentliche Güter bereitgestellt und soziale Risiken abgesichert werden. Sonst finden Marktwirtschaften keine breite Akzeptanz, weil sie zu viele ausschließen oder an den Rand drängen.

Ideale und Nichtideale Theorie

Nicht alle Staaten haben bislang eine gute Rahmenordnung im Sinne einer ökologischen und sozialen Marktwirtschaft. Selbst in Deutschland gibt es diesbezüglich Mängel. Auf globaler Ebene sind die nötigen Ordnungsstrukturen noch viel rudimentärer, weshalb man die Forderung nach einer globalen ökologischen und sozialen Marktwirtschaft als utopisches Ideal oder in der Terminologie von John Rawls als „Ideale Theorie“ betrachten kann. Man kann einwenden, dass es doch viel dringlicher wäre, die konkreten Einzelprobleme direkt anzugehen, als ein Ideal auszuformulieren. Rawls entwickelt seine Theorie der Gerechtigkeit jedoch zunächst als eine solche Ideale Theorie, weil sie nach seiner Auffassung „die einzige Grundlage für eine systematische Behandlung dieser dringenderen Probleme abgibt“ (Rawls, 1993: 25). Auch wenn es in der Moralphilosophie umstritten ist, ob eine Ideale Theorie nötig ist, um daraus Schlussfolgerungen für notwendige Anwendungen abzuleiten (Schaub, 2010; Valentini, 2012), schließe ich mich der Einschätzung von Rawls an. Aber neben der Idealen Theorie braucht es zweifelsohne eine Nichtideale Theorie (Rawls, 1993: 277), die in einer Situation Orientierung bietet, die vom Ideal einer wohlgeordneten Gesellschaft noch weit entfernt ist, beispielweise, weil sich viele nicht an moralische Regeln halten und die für die Gerechtigkeit nötigen Institutionen noch fehlen. Dann wird man nicht allen moralischen Forderungen gerecht werden können, sondern muss zu einem gewissen Pragmatismus bereit sein. Insbesondere darf die Ideale Theorie nicht ideologisch dazu missbraucht werden, erneut Menschenrechte zu verletzen und unzumutbare Opfer zu fordern.

Trotzdem sollte man das Ideal nicht aus dem Auge verlieren. Für notwendige Übergangsmaßnahmen lassen sich aber Kriterien formulieren. Sie müssen (a) moralisch zulässig, d. h. zumutbar und mit einer fairen Lastenverteilung verbunden sein sowie die Entstehung neuer Ungerechtigkeiten vermeiden. Sie müssen schließlich (b) politisch möglich und durchsetzbar sein und (c) auch unter widrigen Umständen voraussichtlich nachhaltig effektiv sein. Ein großes Problem ist die Abwägung der Dinglichkeit verschiedener Ungerechtigkeiten (synchron und diachron) und das notwendige Handeln bei fehlendem
Wissen und unter Unsicherheit (Herzog, 2012).

Grundsätzlich gilt: Ist die Rahmenordnung wie derzeit auf internationaler Ebene nur rudimentär vorhanden, verlangt dies mehr staatliche Interventionen, nach Möglichkeit in multilateraler Kooperation, und zugleich größere Verantwortung auf Seiten der Unternehmen. Man darf jedenfalls nicht staatliche Interventionen und unternehmerische Verantwortung ablehnen, weil die Probleme doch ordnungspolitisch zu lösen seien, wenn eine solche ordnungspolitische Lösung unrealistisch ist. Auf der anderen Seite darf man aber auch nicht übertriebenem Staatsinterventionismus und unrealistischen Erwartungen an (selbstverständlich gewinn­orientierte) Unternehmen das Wort reden. Im Blick auf das deutsche Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz und die EU-Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive – CSDDD) kann es nach dem bisher Gesagten nicht darum gehen, ob sie überhaupt gebraucht werden, sondern nur noch darum, wie sie auszugestalten sind, damit die damit verbundenen Ziele auch erreicht werden. Da gibt es sicherlich Zielkonflikte und trade-offs. So wäre es problematisch, wenn sie, wie auch Hecker erwähnt, zu einem übermäßigen Friend-Shoring führen würden, also dazu, dass der Handel mit Staaten mit niedrigeren Menschenrechtsstandards zum Schaden der dort arbeitenden Menschen stark reduziert würde, so dass sie noch mehr der Armut ausgeliefert würden (vgl. Felbermayr u. a., 2022).

Was noch zu bedenken wäre

Das Folgende ist keine Kritik am Beitrag von Hecker, der auf begrenztem Raum selbstverständlich nicht alle Aspekte des Themas ansprechen könnte. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass intensiver über eine Differenzierung nach unterschiedlichen Gütern nachgedacht werden könnte. De-Risking und Re-Shoring sind möglicherweise bei Medikamenten oder Nahrungsmitteln anders zu bewerten als bei weniger problematischen Gütern. Sowohl Import- als auch Exportländer haben berechtigterweise Interessen hinsichtlich der Sicherheit bei der Versorgung mit medizinischen Gütern und hinsichtlich der Nahrungssicherheit, wobei in besonderen Notlagen auch stärkeres gemeinsames Handeln der Staaten erforderlich ist, um beispielsweise eine gerechte Verteilung von Impfstoffen sicherzustellen. Die Erhaltung globaler öffentlicher Güter (Heimbach-Steins u. a., 2012; Kaul, Grunberg & Stern, 1999) kann auch eine Einschränkung des Handels erforderlich machen, wenn die Transporte von Waren mit hohen ökologischen Kosten verbunden sind. Bei allen Überlegungen müssen alle möglicherweise Betroffenen in der Beurteilung einbezogen werden, besonders Menschen an den Peripherien, indigene und andere besonders vulnerable Gruppen. Rohstoffförderung und -exporte kommen häufig nur bestimmten Eliten in den Ländern des Globalen Südens zugute und erfolgen auf Kosten der Menschen in den Herkunftsregionen (vgl. Kruip, Müßig & Zikesch, 2019). Man kann sich dann auch nicht zur Legitimierung des Handels darauf berufen, dass der Herkunftsstaat für die Bedingungen von Rohstoffförderung und -export zuständig sei. Viele autoritäre Regime entscheiden nämlich höchst undemokratisch nicht zugunsten der eigenen Bevölkerung. Neben der Verantwortung der Unternehmen sollte auch stärker an die Verantwortung der Konsument:innen appelliert werden. Auch könnte die Erfahrung der inzwischen ca. 50 Jahre alten Bewegung des Fairen Handels bei der Gestaltung von Lieferketten stärker berücksichtigt werden (vgl. Wein, 2012). Da in vielen Ländern des Globalen Südens leider keine wirklich effektive Ordnungspolitik betrieben wird, müsste der internationale Politikdialog für eine bessere Ordnungspolitik intensiviert werden, was ohne eine stärkere globale Vernetzung von zivilgesellschaftlichen Organisationen nicht erfolgreich sein dürfte.

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