“Selten heißt schließlich nicht seltsam oder monströs. Selten heißt nur selten. Es sind womöglich nur Menschen, über die seltener Geschichten erzählt werden.“
Carolin Emcke, 2017, 140.
Rund um die Phänomene der Trans- und Intersexualität gibt es eine Reihe von ethischen und rechtlichen Fragen, die im 20. Jahrhundert aufgebrochen sind, wenn wir etwa an mögliche medizinische Interventionen denken oder auch Themen wie das Personenstandsrecht und den Anspruch auf rechtliche Gleichstellung im Bereich von Ehe und Familie. Die katholische Kirche und Theologie besitzen für solche ethischen und rechtlichen Fragen keine genuine Regelungskompetenz. Aus der christlichen Offenbarung oder dem christlichen Menschenbild – wenn es das im Singular überhaupt gibt – lassen sich keine allgemein verbindlichen Antworten ethischer oder rechtlicher Natur herleiten.
Die Aufgabe der Moraltheologie besteht meines Erachtens darin, kritisch zu prüfen, welche moralischen Ansprüche im Raum des katholischen Christentums als Gottesgebote oder als Anweisungen der Schöpfungsordnung zirkulieren. Ich werde daher dasjenige Denken in den Blick nehmen, mit dem sich die katholische Kirche in den Debatten um die Rechte queerer Personen gesellschaftspolitisch positioniert und das ihren Umgang mit queeren Gläubigen leitet. Dabei teile ich die Prämisse, dass nicht Homosexuelle, Trans- oder Interpersonen begründen müssen, „warum ihnen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit zusteht, sondern alle, die ihnen dieses Recht absprechen wollen.“
Mir ist bewusst, dass der von mir vertretene Ansatz einer Autonomie der Moral manchen theologisch unzulässig scheint. Hier ist nicht der Ort, darauf näher einzugehen. Nur so viel: Wer Moral als theonom-vertikale Anordnung empfindet, der erteilt religiösen Instanzen allzu schnell die Lizenz, sich von moralischen Wahrheiten zu dispensieren. Eine solche Religion kann keine ethisch überzeugenden Antworten geben. Und ist nicht das die Situation, in die sich der Katholizismus der letzten, sagen wir, zweihundert Jahre manövriert hat? Wer Autonomie attackiert, macht Religion zu etwas moralisch Obskuren.
Das katholische Geschlechterprotokoll
Die Erwartung des herkömmlichen katholischen Geschlechterprotokolls an das korrekte Verhalten der Menschen lautet: „Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine Geschlechtlichkeit (sexualem identitatem) anerkennen und annehmen (agnoscere et accipere)“ (Katechismus der Katholischen Kirche Nr. 2333). Damit ist aus lehramtlicher Sicht das Wesentliche gesagt. Was es bedeutet, die eigene Geschlechtlichkeit anzunehmen, erläutert der Katechismus noch in der gleichen Nummer. Im zweiten Satz wird die geschlechtliche Identität unvermittelt mit Verhaltens-Erwartungen katholischer Ehemoral konfrontiert. Das Verhältnis der Person zu sich selbst als geschlechtliches Wesen wird von Anfang an einer sexuellen Anweisung unterworfen: „Die leibliche, moralische und geistige Verschiedenheit und gegenseitige Ergänzung (differentia et complementaritatis) sind auf die Güter der Ehe (bona matrimonii) und auf die Entfaltung des Familienlebens hingeordnet.“ Die geschlechtliche Identität des ersten Satzes ist demzufolge die Identität eines entweder weiblichen oder männlichen Körpers, der mit spezifischen moralischen und geistigen Merkmalen verbunden ist. Männliche Körper werden durch weibliche, weibliche Körper durch männliche ergänzt. Zweck dieser Ergänzung sind die Güter der Ehe, das heißt gemäß traditioneller Auffassung vorrangig die Zeugung eines Kindes. Inzwischen gilt auch der sexuelle Genuss von Mann und Frau als ein Gut, solange sie ehelich verbunden sind.
Eine sexuelle Orientierung, die von dieser Hinordnung auf das andere Geschlecht abweicht, wird als „objektiv ungeordnet“ bewertet. Homosexualität widerspricht dem ursprünglichen Schöpfungsplan, so hat es Benedikt XVI. ausgedrückt. Sexuelles Verhalten, das nicht gegengeschlechtlich vollzogen wird, bedeutet folglich eine Nicht-Anerkennung, eine Nicht-Annahme der geschlechtlichen Identität. Ein Mensch, dessen Körper die Komplementarität von Mann und Frau im lehramtlichen Sinne nicht darstellen oder sexuell ausleben will oder kann, ist dazu verurteilt, allein zu bleiben – denn er gilt als ungeeignet, eine intime Partnerschaft auf wahrhaft menschliche Weise zu gestalten. Queere Geschlechtlichkeit ist gleichsam eine Irregularität. Die hingegen von den Eheleuten vorgelebte gegenseitige Ergänzung – hier ist wohl an die moralische und geistige Dimension zu denken – zeigt ihren Kindern die Schönheit der katholischen Geschlechterordnung.
Der dritte Satz der Nummer 2333 des Katechismus behauptet abschließend, dass die „Harmonie des Paares und der Gesellschaft zum Teil davon (abhängt), wie Gegenseitigkeit, Bedürftigkeit und wechselseitige Hilfe von Mann und Frau gelebt werden.“ Würden sich die Menschen an das katholische Protokoll halten, stünde es demnach gut um das Wohlergehen von Ehe und Familie wie der Gesellschaft im Ganzen. Der Katechismus verspricht Harmonie und Ordnung, denn Komplementarität verhindert Rivalitäten und Konflikte zwischen den Geschlechtern. Dafür ist nicht viel vonnöten, bloß die Anerkenntnis der je eigenen männlichen oder weiblichen Geschlechtsidentität. Schon Paulus wusste, dass Gott kein Gott der Unordnung, sondern des Friedens ist (1 Kor 14,33).
Die katholische Protokollanweisung enthält das Versprechen einer harmonischen und friedlichen Gesellschaft, im Kleinen wie im Großen. Und wer sich nicht an die Gebote der objektiven Ordnung hält? Wer aus der Reihe tanzt? Der ist jemand, der aufgrund einer Auflehnung gegen die Weisheit des Schöpfers trouble verursacht, der Konflikte schürt, den gesellschaftlichen Frieden und damit das Gemeinwohl gefährdet.
„Ketzer der Liebe“
Aber die Liebe – die hält sich, wie wir wissen, nicht ans katholische Protokoll: „Gefühle mögen es nun einmal nicht, in eine feste Ordnung gebracht zu werden“, schreibt Yukio Mishima in „Bekenntnisse einer Maske“, diesem berühmten autobiographischen Roman aus dem Jahr 1949 über das homoerotische Begehren, dessen Anderssein nicht vorgesehen ist und sich die Liebe nicht vorstellen kann. Die Homosexualität ist „jene Zone der Erotik“, wie Thomas Mann 1922 erkennt, „in der das allgültig geglaubte Gesetz der Geschlechterpolarität sich als ausgeschaltet, als hinfällig erweist, und in der wir Gleiches mit Gleichem (…) verbunden sehen.“ Das Ringen um die sittliche Bewertung der Homosexualität aufgrund ihres Andersseins nimmt vieles von den heutigen Debatten um queere Lebensweisen vorweg.
Dass es bei der katholischen Sorge um die Bewahrung der ‚objektiven Ordnung‘ um das Sexualleben der Menschen geht, ist offensichtlich. Alle nicht-ehelichen und alle nicht-heterosexuellen Beziehungen sind aus lehramtlicher Sicht Strukturen der Verlockung zur Sünde. Die Phänomene der Homo-, Trans- und Intersexualität verbindet die Eigenschaft, dass sie mit einem von der Norm abweichenden Liebesleben verbunden sind, das kirchlich ängstlich als permanente Gelegenheit zur Sünde beäugt wird. Die kirchliche Doktrin zeigt aus diesem Grund bis heute wenig Empathie für die „Ketzer der Liebe“, für die Außenseiter der Geschlechtlichkeit, seien sie nun homo-, bi-, trans- oder intersexuell. Ich beschränke mich auf diesen Aspekt der kirchlichen Bewertung sexueller Minderheiten, weil er das Zentrum des lehramtlichen Unbehagens an sexueller und geschlechtlicher Vielfalt bildet. Zu beachten ist, dass sich das Lehramt bisher lediglich zur Homosexualität etwas ausführlicher geäußert hat; und auch das erst viele Jahrzehnte nach der Etablierung des Begriffs in den Sexualwissenschaften. Das in den entsprechenden Dokumenten formulierte Urteil über gleichgeschlechtliche Sexualität basiert auf Grundsätzen, auf deren Basis die Bewertung der Liebesbeziehungen anderer queerer Personen leichtfällt. Das Lehramt tut, worin es geübt ist, es gibt auf selbstreferentielle Weise Antworten auf neue Fragen, damit es zu keiner Kollision mit früheren Aussagen kommt.
Eine Liebe, die der konventionellen Geschlechterordnung nicht entspricht, ist der katholischen Kirche zutiefst suspekt. Die Empfindungen der Liebenden sind für die Hüter der objektiven Ordnung nicht der Rede wert. Das Tabu bringt sie zum Schweigen. Das nicht konforme Begehren kann sich daher nur codiert äußern. Das gilt bis weit in das 20. Jahrhundert hinein. Der Literaturwissenschaftler Heinrich Detering, der die „literarische Produktivität“ des Tabus der ketzerischen Liebe „von Winkelmann bis zu Thomas Mann“ untersucht hat, zieht am Ende seiner Studien dieses Fazit: „Lauter produktive Effekte des Zwangs zu Camouflage, lauter kleine Siege der Literatur über Sprachlosigkeit und Sprechverbot, gar ein ‚Gegendiskurs‘ gegen Eingrenzungen, Sanktionsdrohungen, Pathologisierung: Über die Bewunderung für die literarischen Leistungen dieser Texte könnte am Ende doch in Vergessenheit geraten, dass sie alle von einem übermächtigen Zwang bestimmt sind, von Demütigung und Isolation, dass sie nicht nur eine Reihe von Siegen darstellen, sondern zugleich eine einzige Niederlage. Listenreiche, findige, kunstvolle, zu Selbstbehauptung und Gegenwelt entschlossene Sklavensprache, aber Sklavensprache doch.“
Sexuelle Utopien?
Mit zwei Beispielen möchte ich veranschaulichen, was Detering meint. Das erste stammt aus dem 17. Jahrhundert und wird von Stephen Guy-Bray aus queerer Sicht als seltenes Zeugnis der Freundschaft zwischen zwei Frauen in der Renaissance interpretiert. Die Autorin Katherine Philips (1632–1664) schreibt in einem Gedicht mit dem Titel „Friendship’s Mystery, To my Dearest Lucasia“:
Come, my Lucasia, since we see
That Miracles Mens faith do move,
By wonders and by prodigy
To the dull angry world let’s prove
There’s a Religion in our Love.
Guy-Bray deutet diese Zeilen als die poetische Proklamation einer neuen Religion gleichgeschlechtlicher Liebe. Diese Religion kann nur begriffen werden durch die Erfahrung der beiden Frauen – wie der christliche Glaube sich den Menschen erschließt durch Wunder, die auf Erden geschehen. In der zweiten Strophe wählt Philips christliche Metaphern und Figuren, um die gleichgeschlechtliche Liebe auszudrücken.
Our Election is as free
As Angels, who with greedy choice
Are yet determin’d to their joys.
Die Theologie ist vertraut mit der Aufgabe, auf den ersten Blick Konträres wie Freiheit und Vorherbestimmung zusammenzudenken. Die Autorin überträgt dies auf ihre Liebe zu Lucasia. Die intime Beziehung der beiden Frauen ist wie das Dasein der Engel: zur Freude bestimmt und sie ergreifend „with greedy choice“. Die gleichgeschlechtliche Liebe ist völlig natürlich und von Gott gewollt. Im weiteren Gedicht wird die Freundschaft als Vereinigung zweier Personen entfaltet, die ihre Einsamkeit besiegen und sich besser erkennen. Vor allem ist es eine Beziehung, die Wechselseitigkeit und Gleichheit lebt (mutuality and equality), auch sexuell.
Das zweite Beispiel ist ein Gedicht von August von Platen (1796–1835), dessen 1896 und 1900 veröffentlichte Tagebücher „das erste authentische autobiographische Zeugnis eines deutschen Dichters über seine homosexuelle Selbsterkenntnis und das Leiden an seiner Homosexualität“ sind. Platens erotische „Neigung“ zur „Männerliebe“ (das sind seine Worte) ist nicht zu bestreiten. „Ich brauche mich dessen nicht zu schämen, was mein eigenes Gewissen gutheißt“, notiert Platen in seinem Tagebuch. Selbst wenn er „nie einen Menschen finden werde“, wie er melancholisch voranschickt, dem er Freundschaft und Liebe „schenken kann“. Platen litt in seinem Leben verzweifelt unter dem „Widerstreit von homoerotischem Empfinden und dessen Stigmatisierung“. Er hat seinen „Gegendiskurs“ mit den folgenden berühmten Zeilen geführt:
Ich bin wie Leib dem Geist, wie Geist dem Leibe dir;
Ich bin wie Weib dem Mann, wie Mann dem Weibe dir,
(…)
Ich bin der Sonne Pfeil, des Mondes Scheibe dir;
Was willst du noch? Was blickt die Sehnsucht noch umher?
Wirf Alles, Alles hin: du weißt, ich bleibe dir!
Das redende Ich bestimmt sich, seine homoerotische Liebe „in seiner Bezogenheit auf das angeredete Du hin.“ Hier wird „eine paradoxe Ineinssetzung von diametral Gegensätzlichem behauptet (…). Das Ich ist dem Du zugleich ‚wie Weib dem Mann‘ und ‚wie Mann dem Weibe‘“. Der Text legt eine Fährte für die Auslegung, bleibt aber eine Tarnung. Liest man die Verse jedoch im Wissen um das homoerotische Ich, wird die Homoerotik „offensiv zur Geltung gebracht“, und zwar auf eine Weise, die eine private wie eine gesellschaftliche Utopie beinhaltet. Noch einmal Detering: „Nur in der homosexuellen Beziehung ist jene völlig gleichberechtigte Austauschbarkeit und damit jene Aufhebung der Geschlechterrollen möglich, die in der heterosexuellen immer utopisch bleiben muss. Aus der privaten Utopie einer frei ausgelebten Sexualität, die Platen im Gedicht entwerfen ließ, was er im Leben zu unterdrücken suchte, wird eine ihrem Anspruch nach menschheitliche Utopie entwickelt.“
In der homoerotischen Literatur zeigt sich, wie sozial auferlegte Identitäten von Weiblichkeit und Männlichkeit unterlaufen werden können. Es wird demonstriert, dass es mehr Arten gibt, Mensch zu sein, als die bisherigen Kategorisierungen erlauben.
Verletzendes Reden
Die Verschiedenheit männlicher und weiblicher Körper, an der sich das katholische Geschlechterprotokoll orientiert, weicht in den beiden Beispielen homoerotischer Dichtung dem freien wechselseitigen Begehren und Lieben. Die katholische Kirche würdigt diese menschheitliche Utopie mit keinem Wort. Sie denkt dabei nur an zwei Dinge, an Sexualität – und an sich selbst, also an Autorität. Um es pointiert zu sagen: Es gibt für sie keinen richtigen Sex mit den ‚falschen‘ Körpern. Sie meint nicht nur bestimmen zu können, in welchen Stellungen männliche und weibliche Körper sexuell interagieren sollen; sie denkt vor allem, dass sexuelles Verhalten nicht in Ordnung ist, wenn in ihm Körper involviert sind, die keinen Zeugungsakt vollziehen oder zumindest simulieren können. „Die Geschlechtsorgane von Mann und Frau passen perfekt zusammen. Sie verschwinden gleichsam ineinander und ermöglichen so in der Sexualität personale Begegnung und Zeugung neuer Menschen“. Personen, die davon ausgehen, dass die anatomische Gestalt ihres Körpers sie nicht darauf festlegt, wen sie lieben können, damit es anerkennungswürdig ist, gelten als Opfer der Genderideologie.
Der im katholischen Raum seit inzwischen mehr als zwei Jahrzehnten kursierende Vorwurf der Genderideologie ist eine Form von hate speech, von sprachlicher Gewalt. Denn wer Andersdenkende als ideologisch bezeichnet, der bezichtigt sie, die „wirklichen, tatsächlichen Umstände“ in ihr Gegenteil zu verkehren. Sprachwissenschaftlich gilt die Sprechhandlung Vorwurf als ein probates aggressives Mittel, um Kommunikation eskalieren zu lassen. Durch den Ideologievorwurf soll die Glaubwürdigkeit der Person, die gegenteiliger Überzeugung ist, desavouiert werden. Nur auf der eigenen Seite sei Wahrheit und Vernunft zu finden. Wer anders denke, vertrete lediglich partikulare Interessen. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Ideologie „meist in einem antonymem Verhältnis zu etwas verwendet, das sich als Wahrheit, Wirklichkeit, Wissenschaft, Erkenntnis (oder auch plumper als ‚gesunder‘ Menschenverstand) geriert.“
Diejenigen, die in öffentlicher Kommunikation mit dem Ideologievorwurf operieren, heischen um „Akklamation durch Dritte.“ Der Vorwurf der Genderideologie versteht sich im katholischen Raum bei denen, die ihn einsetzen, vermutlich als eine Form von Evangelisierung in einem bestimmten sozialen Milieu. Ein Musterbeispiel, bei dem zusätzlich das argumentum ad hominem eingesetzt wird, bildet die folgende Aussage: „Für den gesunden Menschenverstand ist die Akzeptanz der Homosexualität selbstverständlich undenkbar. Der Mensch aber, wenn er starrköpfig ist, ist im Stande, bis zu seinem Lebensende jede beliebige Absurdität zu verteidigen. Begegnet man also wieder einer solchen Absurdität, so ist es viel angemessener, sich nicht auf sie zu konzentrieren, sondern vielmehr auf die Analyse der Persönlichkeit dessen, der diese von sich gibt (…). Üblicherweise bestätigt sich die folgende Faustregel: die Apologie der Deviation rührt von dieser selbst beziehungsweise von einer anderen her.“ Es stimmt: Zweifelnd könnte man „nicht so außer sich sein. Um zu hassen braucht es absolute Gewissheit. Jedes Vielleicht wäre da störend.“
Vier Hindernisse
Codierte Liebeslyrik auf der einen, hate speech auf der anderen Seite. Ist die katholische Kirche in der Lage, ihr Urteil über die Ketzer der Liebe zu revidieren? Akzeptiert sie queere Identitäten und Lebensweisen und verabschiedet sie sich von der Behauptung, diese seien schöpfungswidrig? Dass sich das Lehramt noch nicht durchringen kann, seine Position zu ändern, ist bekannt. Ich sehe vier Hindernisse, die der Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt im Wege stehen.
(1) Die erste Hürde ist altehrwürdig und findet in der christlichen Theologie bis heute Verwendung. Bekanntlich sei es die Natur, die der Moral der menschlichen Sexualität die Grenze zwischen Erlaubtem und Unerlaubtem ziehe. Betont wird, dass diese Natur, „etwas, das ‚natürlich‘ ist für alle“, der Person übergeordnet und damit ihrer gestaltenden Verfügung entzogen ist. Bei genauerer Betrachtung fällt das Argument in sich zusammen. Zum einen ist es nicht selten lediglich der ‚gesunde Menschenverstand‘ – oder: Männerverstand –, der das sozial Übliche zum Natürlichen erklärt. Zum anderen tritt das Recht der Natur im Bereich der Sexualität weniger als das Recht der menschlichen Vernunftnatur auf (secundum rationem) als vielmehr das Recht, das sich auf bestimmte biologische Gesetzmäßigkeiten der Reproduktion bezieht (secundum naturam), die wir mit den Tieren gemeinsam haben.
Menschliches Sexualverhalten an biologischen Gesetzmäßigkeiten zu messen, unterbietet eine zentrale Intention des Naturrechts, die darin besteht, die Freiheit personaler Existenz zu verteidigen. Im Bereich von Sexualität und Geschlechtlichkeit gilt die eben skizzierte Variante des ‚naturalisierten‘ Naturrechts bis in die Gegenwart hinein als Schutzwall gegen die Emanzipationsansprüche sexueller Minderheiten. Begreift man Naturrecht als Freiheitsrecht, weil ohne Freiheit vom Wesen des Menschen nicht sinnvoll zu sprechen ist, büßt das Naturrecht der biologischen Gesetzmäßigkeiten seine strenge normative Geltung ein. Die Frage ist berechtigt: „Warum sollte einem veränderten oder uneindeutigen Körper weniger Würde, weniger Schönheit oder weniger Anerkennung zukommen?“ Theologisch gewendet: Warum sollte sich der Wille Gottes mehr in biologischen Prozessen als in personalen Freiheitsvollzügen zeigen?
Um an dieser Stelle nicht missverstanden zu werden: Ich kann keinen Grund erkennen, der naturwissenschaftlichen Aussage nicht zuzustimmen, dass die menschliche Spezies zur Gattung der Lebewesen zählt, die sich auf zweigeschlechtliche Weise fortpflanzen. Grundlage dieser Definition von sex ist die evolutionäre Tatsache der menschlichen Reproduktionsstrategie, die auf zwei verschiedenen Keimzellen beruht, die zwei Geschlechter konstituieren. Auf dieser biologischen Betrachtungsebene ist weiterhin von zwei Geschlechtern mit typischen Merkmalen zu sprechen; auch wenn diese Merkmale nicht von jedem Individuum auf die gleiche Weise verwirklicht werden. Es gehört zur Natur der menschlichen Art, wie wir immer besser begreifen, dass es Variationen und Zwischenformen in der sexuellen Entwicklung, der sexuellen Orientierung und in der Geschlechtsidentität gibt – sowie das Phänomen der Intersexualität, das als solches mit seiner geschlechtlichen Uneindeutigkeit aber nicht die Zweigeschlechtlichkeit im oben definierten Sinne dementiert. Meines Erachtens ist es wissenschaftlich gesichert zu sagen, dass es das männliche und das weibliche Geschlecht mit Variationen gibt, die hinsichtlich einer Vielzahl biologischer Merkmale ein Kontinuum, ein Spektrum zwischen männlich und weiblich bilden. Binarität und Vielfalt bzw. Uneindeutigkeit schließen sich nicht aus, was womöglich für die gereizten Debatten um die Geschlechtlichkeit ein Angebot zur Verständigung sein könnte. Ich denke daher nicht, dass „mit der Behauptung der Natürlichkeit der Geschlechter sich immer der Anspruch an ihre unveränderliche Eindeutigkeit“ verbindet.
Wie der Mensch als das von Natur aus zur kulturellen Überformung befähigte und bestimmte Lebewesen die eigene Sexualität und Geschlechtlichkeit auf vielfältige Weise gestaltet und normiert, unterliegt sozialen und kulturellen Bedingungen und Veränderungen, die sich wissenschaftlich rekonstruieren lassen. Für diese alte Einsicht hat sich im letzten halben Jahrhundert der Begriff Gender etabliert. Die moralische Ordnung der Geschlechtlichkeit ist Produkt menschlicher Autonomie, die natürliche Phänomene berücksichtigt, ohne aus ihnen unmittelbar sittliches Sollen abzuleiten. Das heißt zum Beispiel: Die Forderung, nur heterosexuelle Intimbeziehungen moralisch zu achten, ignoriert die natürliche „fundamentale Bedingung“ und „feste innere Struktur“ der Liebesfähigkeit nicht-heterosexueller Personen.
Um herauszufinden, welche moralischen Maßstäbe an sexuelles Verhalten anzulegen sind, genügt es nicht, auf die Faktizität des Begehrens hinzuweisen; sondern hier zählt die Freiheitsnatur des Menschen, die vor allem den wechselseitigen Respekt von Selbstbestimmung und Integrität verlangt. Weil Homo-, Trans- oder Intersexualität keine Güter verletzen und keinen Schaden verursachen, werfen sie keine moralischen Fragen auf. Hinsichtlich der Homosexualität haben dies Autoren wie Kurt Tucholsky schon in den 1920er Jahren artikuliert: „Die Schädlichkeit der Homosexualität ist nicht nachgewiesen.“
(2) Die zweite Hürde wird mit der Heiligen Schrift errichtet und findet sich beispielhaft in einem lehramtlichen Dokument aus dem Jahr 1986. Die biblischen Belege für eine Verdammung gleichgeschlechtlicher Sexualkontakte seien eindeutig. Wir hätten es demnach mit einem theokratischen Gesetz zu tun. Die Glaubenskongregation will mit diesem Urteil jene korrigieren, die seit den 1960er Jahren in der Interpretation der einschlägigen biblischen Texte exegetisch zu anderen Schlüssen gekommen sind. Deren Urteil, dass die Bibel homoerotische Liebesbeziehungen weder kennt noch verurteilt, sei nicht ausschlaggebend, weil diese Auslegung der Tradition widerspreche, die gleichgeschlechtliches Verhalten stets negativ beurteilt habe.
Zum gegenteiligen Ergebnis kommen kirchliche Dokumente, die den Befund, dass in der Bibel von liebevollen Beziehungen zwischen Männern oder Frauen die Rede ist, als Argument für die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Beziehungen betrachten. Biblische Texte lassen sich offenkundig sowohl für eine queer-feindliche als auch für eine queer-freundliche Haltung benutzen. Dieses Dilemma gegenteiliger Schlüsse aus der Lektüre der Bibel ist nicht neu. Aus moraltheologischer Sicht lässt es sich auflösen. Ob eine moralische Überzeugung mit Sätzen einer Heiligen Schrift übereinstimmt oder nicht, ist für die Geltung einer sittlichen Norm nachrangig. Nicht die Bibel legt die Moral, die Moral legt die Bibel aus.
(3) Als dritte Hürde fungiert ein bestimmtes Konzept der Sakramentalität. Der Gedanke lautet: Das Verhältnis Gottes zu den Menschen weist bestimmte Merkmale auf, die nur in einer heterosexuellen ehelichen Partnerschaft zur zeichenhaften Darstellung kommen können: „Wenn man fragt, wer von beiden – Mann oder Frau – das schöpferische Wort Gottes, und wer von beiden – Mann oder Frau – den empfangenden (responsorischen) Charakter der Schöpfung personifizieren bzw. repräsentieren kann, dann wird einsichtig, warum die jüdisch-christliche Ikonographie Schöpfung, Synagoge und Kirche immer weiblich und den Schöpfer und den göttlichen Logos immer männlich konnotiert.“
Als sakramental begreift sich diese Wahrnehmung von Wirklichkeit, weil sie unter dem Sichtbaren eine tiefere Schicht vermutet, ein Geheimnis, „das sich letztlich erst im Blick auf Jesus Christus enthüllt.“ Die Kirche sei „möglicherweise (…) mit ihrem sakramentalen Verständnis der Geschlechterdifferenz das letzte Bollwerk gegen eine ungeheure Vergleichgültigung“ – eine Vergleichgültigung, die sich im oberflächlichen Umgang mit Sexualität in westlichen Gesellschaften zeige. Es geht Karl-Heinz Menke mit diesen Überlegungen um den Aufweis, warum Frauen nicht zu Priestern geweiht werden können. Aber dieses sakramentale Verständnis der Geschlechterdifferenz spielt auch in der Sexualmoral eine wichtige Rolle und wird dort gegen die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Beziehungen eingesetzt. Das bedeutet, wer autonom, das heißt mit sittlichen Kategorien, sexuelle Beziehungen beurteilt, denkt oberflächlich. Die Asymmetrie zwischen Schöpfer und Geschöpf müsse gespiegelt, repräsentiert werden in der Asymmetrie zwischen Mann und Frau. Nur wer diese theologische Tiefenschicht der Ehe erkenne, könne nachvollziehen, weshalb davon abweichende Sexualitäten theologisch unvorstellbar sind: Sie können die Relation Gottes zum Menschen nicht darstellen, weil sie gleichgeschlechtlich sind. Der Passauer Bischof Stefan Oster schließt sich diesem Konzept nahtlos an und verkündet: „Wenn (…) der Mensch selbst berufen ist, Sakrament zu sein und wenn zugleich auch die Kirche als Sakrament ‚innigster Vereinigung‘ von Gott und Menschheit beschrieben wird, wenn die Schrift Christus und die Kirche als Braut und Bräutigam beschreibt, dann ist für den Sinn von Sexualität aus ihrem Ursprung her ebenfalls ‚innigste Vereinigung‘ gemeint und damit auch Treue, Dauerhaftigkeit und Fruchtbarkeit. (…) In diesem Sinn sind dann die Ehe und die darin gelebte Sexualität ‚heilig‘, geheiligt durch Gott und im Ursprung von ihm so gemeint.“
Das „Verhältnis von Braut und Bräutigam“ sei so fest mit dem Geheimnis von Schöpfung und Erlösung verbunden, dass es für gläubige Menschen als Norm für die menschliche Sexualität anzuerkennen sei. Umkehr zum sakramentalen Verständnis oder Anpassung an die „Liberalität in Liebesdingen“ – zwischen diesen Optionen habe sich die Kirche zu entscheiden. Vertikale Glaubenserkenntnis (das heißt bei Oster die durch Schrift und Lehramt geschenkte Erkenntnis des ‚ursprünglich von Gott gewollten‘) schlägt „horizontal gewonnene humanwissenschaftliche Erkenntnisse und die Berücksichtigung lebensweltlicher Normalität.“ Der Glaube läutert die „wissenschaftliche Analyse“ und die menschliche Freiheit. Diese Idee läuft auf eine religiöse Selbstermächtigung hinaus, sich von Ethik zu dispensieren. Das moralische Urteil steht im Akt der Unterwerfung unter religiöse Autorität immer bereits fest. Wer davon abweicht, dem werden keine Gründe der praktischen Vernunft dargelegt, sondern wird zur Umkehr aufgerufen. Ein ethikfreies Amt will keine sittliche Freiheit für die Gläubigen – es will am Ende knechtische Unterwürfigkeit.
Ich bin wie Weib dem Mann, wie Mann dem Weibe dir, hatte Platen gedichtet. Damit war das sexuelle Verhältnis von Ich und Du befreit vom heterosexuellen Protokoll. Die Männlichkeit und Weiblichkeit zugeschriebenen Eigenschaften stehen Männern wie Frauen zur Verfügung; sie sind menschliche Fähigkeiten. Sie sind fluide. Im katholischen Modell erstarren sie wieder in alter Polarität. Dort heißt es dann, dass auch in homosexuellen Beziehungen das Rollenmodell männlich/weiblich (als Kopie!) realisiert werde – eine im Vergleich zu Platen wahrlich beschränkte Sicht auf die menschliche Geschlechtlichkeit. Aus freien religiösen Assoziationen über die Sakramentalität der Ehe lassen sich keine ethischen Gebote ableiten. Ist es Ahnungslosigkeit, es dennoch zu versuchen – oder eine autoritäre Gesinnung, die sich nicht darum schert, ob die eigene Moral dem Gegenüber vernünftig zu vermitteln ist?
Dabei könnte es anders sein; selbst im orthodoxen Denken. Gegenüber Gott wird vom Menschen Unterwerfung erwartet, die weiblich konnotiert ist, weshalb es zu einer symbolischen Feminisierung von Männlichkeit kommt. Männer sollen marianisch werden, Frauen sollen marianisch bleiben. Das ist bei Joseph Ratzinger nachzulesen. Katholische Queerness ist ein Vorrecht der Männer. Der Grund ist unschwer zu erraten. Auf diese Weise schützen sich Männer vor Frauen im Amt. Es bleibt bei der Asymmetrie der Geschlechter bei gleichzeitiger Überschreitung von Geschlechtsidentität. Das könnte ein Grund sein, warum der Katholizismus für queere männliche Personen so attraktiv erscheint, ein bekanntes Beispiel ist Oscar Wilde. Er steht auf der Ebene etwa der ästhetischen Gestaltung für eine andere Form von Männlichkeit.
Aus ethischer Hinsicht ist der dogmatische Gedankengang kein starkes Argument. Man kann die Wirklichkeit so betrachten, wie es Menke und mit ihm viele andere tun. Aber moralische Forderungen aus religiöser Symbolik abzuleiten, bringt das Moralische um seine Pointe. Denn wer schützt die Menschen vor der Willkür derjenigen, die aus ihrer besseren Einsicht in die Tiefenschicht oder Symbolik der Wirklichkeit für sich in Anspruch nehmen, anderen moralische Vorschriften zu machen? Es scheint mir, dass es am Ende nicht um Ethik geht, wenn die Akzeptanz queeren Liebeslebens als Ausdruck einer oberflächlichen Kultur diskreditiert wird. Das führt mich zum vierten Hindernis.
(4) In der Theologischen Quartalschrift hat der Trierer Moraltheologe Johannes Brantl im letzten Jahr folgende Überlegung vorgetragen: Das „Anliegen einer Weiterentwicklung der Sexuallehre [sollte] sich nicht an gesamtgesellschaftlichen Erwartungen und Plausibilitäten, partikularen Interessen einzelner Gruppen oder Opportunitätsfragen orientieren, sondern vielmehr bei den für Kirche und Theologie maßgeblichen Quellen von Heiliger Schrift und Tradition ansetzen und das eigene Profil durchaus selbstbewusst inmitten der gegenwärtigen Pluralität von Vorstellungen eines gelingenden Lebens stark zu (sic!) machen.“
Die zentralen Normen – die Exklusivität ehelicher Sexualität, der Vorrang der Generativität und die Missbilligung gleichgeschlechtlicher Praktiken und Beziehungen – werden mit Benedikt XVI. „humanökologisch“ begründet, also mit dem Buch der Natur, aus dem der Mensch bestimmte Pflichten gegenüber seiner entweder weiblichen oder männlichen Körperlichkeit entnehmen könne. Zu beachten sei „zudem, dass die für eine christliche Anthropologie maßgeblichen biblischen Schöpfungserzählungen das Modell der Heteronormativität und den Gesichtspunkt der Fortpflanzung in Verbindung mit der Zweigeschlechtlichkeit des Menschen besonders würdigen.“ Das „Merkmal der Gegengeschlechtlichkeit“ sei „biblisch fundiert“ und Teil des eigenen Profils katholischer Morallehre. Die Forderung einer Segnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften finde „innerhalb der Bibel keinerlei Anhaltspunkte“, wie auch die Päpstliche Bibelkommission 2019 noch einmal festgestellt habe.
Am Ende seiner Überlegungen greift Brantl auf den „Erfahrungsvorsprung der kirchlichen Tradition und Gemeinschaft vor dem Einzelnen zurück“, was dem kirchlichen Lehramt „sozusagen einen Argumentationsvorteil“ verschaffe. Ob sich Frauen oder sexuelle Minderheiten in diesem katholischen Erfahrungsvorsprung und Argumentationsvorteil gut aufgehoben fühlen, müsste man diese fragen; oder handelt es sich um die erwähnten „partikularen Interessen einzelner Gruppen“? Mich irritiert, wie hier ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, das kirchliche Lehramt verstehe sich besonders gut auf die Heiligkeit der Sitten.
Der Text von Brantl ist ein Dokument der Sorge, dass eine Änderung der Lehre mit der Bewahrung des Profils oder der Identität katholischer Morallehre nicht vereinbar ist. Diese Identität soll gegen gesamtgesellschaftliche Plausibilitäten (weniger gegen ethische Einwände) verteidigt werden. Eine Kritik der kirchlichen Morallehre auf der Grundlage sittlicher Autonomie ist daher nicht statthaft. Hier gelten andere Maßstäbe. Die von Brantl verteidigten normativen Aussagen gehören eher zur Gattung der Kirchengebote. Es sind Gebote, die von der kirchlichen Hierarchie den Gläubigen auferlegt werden, um bestimmte Gewohnheiten im Interesse der Identität eines Gemeinschaftserlebens zu fixieren. Wer sich an sie hält, soll sicher sein, katholisch zu sein und katholisch zu bleiben. Der Rückgriff auf die katholische Identität hebelt die ethischen Einwände aus. Er exkludiert die Ketzer der Liebe und verwandelt deren Ringen um Würde in ein partikulares Interesse. Die Missachtung der Anliegen sexueller Minderheiten wird zum katholischen Erfahrungsvorsprung umgedeutet. Die Morallehre verkriecht sich ins katholische Schneckenhaus.
Negierte Phänomene
Dieses vierte Hindernis der Identität hat eine Eigenschaft, die es besonders tückisch macht. Über die Frage, wie aus exegetischer oder naturrechtlicher Perspektive queere Lebensweisen zu beurteilen sind, lässt sich in der theologisch-ethischen Debatte mit Argumenten trefflich streiten. Ein bibel- oder humanwissenschaftlicher Erkenntnisgewinn kann zu veränderten Urteilen führen. Auf diese Weise ist in die Bewertung von Homosexualität ohne Zweifel Bewegung in die katholische Theologie gekommen. Wird hingegen konfessionelle Identität zum Kriterium, geraten solche Erkenntnisse ins Hintertreffen – was sich daran zeigt, dass sie relativiert oder mitunter vollends in Frage gestellt werden. Wie durch Semantik Homo- und Transsexualität negiert werden können, zeigt die Aussage, man wolle Personen „seelsorglich und psychologisch“ begleiten, die „homosexuelle oder transsexuelle Empfindungen haben“.
Das entspricht dem an dieser Stelle von vielen 1997 unbemerkt geänderten Katechismus, der nur tiefsitzende homosexuelle Tendenzen kennt, die objektiv ungeordnet sind (KKK 2358) – und nicht mehr, wie zuvor, von einer nicht selbstgewählten Veranlagung spricht. Das heißt: Es geht nicht um die Empfindungen Homo- oder Transsexueller, sondern um homo- oder transsexuelle Empfindungen. Wird so gesprochen, um das Subjekt wieder wegen seiner nonkonformen Empfindungen (und die daraus folgenden sexuellen Handlungen) beschuldigen zu können? Oder soll die Option der Konversion (oder zumindest der Enthaltsamkeit) propagiert werden?
Ein Zeichen von Negation ist auch, den Erfahrungen und Empfindungen queerer Personen in der Theologie keinen Raum zu gewähren. Darum lernt man viel mehr über das Wesen der menschlichen Liebe in der Literatur als in kirchlichen Dokumenten oder theologischen Traktaten. Soll die Akzeptanz sexueller Vielfalt und fluider Geschlechtlichkeit in der Glaubensgemeinschaft keine Heimat finden, weil man fürchtet, damit deren tradierte Identität und festgefügte asymmetrische Ordnung aufs Spiel zu setzen? Ich vermute, dieses Motiv steht vielfach hinter der Kritik an Veränderungen der Doktrin. Wer autonom leben will, könne und solle dies in der modernen Gesellschaft an anderer Stelle tun. Diese gegenkulturelle Strategie im Umgang mit Diversität mag sozialpsychologisch oder kirchenpolitisch nachvollziehbar sein, moraltheologisch sehe ich kein überzeugendes Argument, sich nicht endlich auf die Seite der Ketzer der Liebe zu schlagen.
Die zu Beginn zitierte Formel des Katechismus (Jeder Mensch, ob Mann oder Frau, muss seine Geschlechtlichkeit anerkennen und annehmen) entpuppt sich als Formel zur Verhinderung der Anerkennung und Annahme von Vielfalt und Diversität im Bereich von Sexualität und Geschlechtlichkeit. Sie geht von einer sexualethischen Pflicht des Individuums gegenüber einer bestimmten mit der Zweigeschlechtlichkeit der Spezies verbundenen Differenz zwischen weiblichen und männlichen Körpern aus. In einer Ethik der Autonomie lautet die Norm: Du sollst jeden Menschen als Person achten und die seine Würde schützenden Rechte anerkennen und respektieren, ungeachtet seiner sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität. Nicht die Anatomie des anderen Körpers setzt meiner (sexuellen) Selbstbestimmung Grenzen, sondern die Freiheit der anderen Person.