Nach dem Gesprächsabend mit Abt Nikodemus Schnabel OSB im Februar 2024 ging es ein paar Monate später um eine weitere Perspektive und Sichtweise auf die jüngsten Entwicklungen im Nahen Osten: Am 24. Juni 2024 war der israelische Historiker Prof. Dr. Moshe Zimmermann, emeritierter Professor für Moderne Geschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, zu Gast in der Katholischen Akademie. Im ersten Teil der Veranstaltung referierte er zum Thema „Religiöse Strömungen in der israelischen Gesellschaft als Faktor im Nahostkonflikt“. Anschließend beantwortete er im Gespräch mit Akademiedirektor Dr. Achim Budde eine Reihe von Fragen, die das Publikum – rund 175 Personen im Saal sowie mehrere Hundert im Livestream – online einbringen konnte.
In seinem Vortrag, der inhaltlich auf seiner für den Deutschen Sachbuchpreis 2024 nominierten Publikation Niemals Frieden? Israel am Scheideweg beruhte skizzierte Moshe Zimmermann seine kritischen Einschätzungen zur historischen Entwicklung des Zionismus seit dem späten 19. Jahrhundert: Dieser sei in Ursprung und Grundidee säkular gewesen und habe das Judentum nicht als Religionsgemeinschaft, sondern neu als Volk bzw. Nation im Sinne des modernen Nationalismus definiert. Bis zur „politischen Wende“ 1977 habe der säkulare Zionismus Politik und Gesellschaft in Israel bestimmt, dann aber eine religiös-nationalistische Metamorphose erlebt. Eine entscheidende Rolle habe der Sechs-Tage-Krieg 1967 gespielt, der durch die Eroberung religiös bedeutsamer Regionen wie des West-jordanlands eine „nationalreligiöse Romantik“ ausgelöst habe. Vor diesem Hintergrund erstarkten laut Professor Zimmermann drei politisch-gesellschaftliche Lager, die 1977 ein Regierungsbündnis eingingen: die Nationalisten/Revisionisten (Likud), die „religiösen Zionisten“ und die Ultraorthodoxen. In diesem Zusammenhang thematisierte der Historiker auch die Ganz-Israel-Ideologie und den Siedlungsbau.
Im zweiten Teil der Veranstaltung, der vor allem auf Fragen des Publikums beruhte, wurden manche Inhalte des Vortrags vertieft bzw. neue Aspekte eingebracht. So ging es um die Definition des Jude-Seins und das Verhältnis von Nation und Religion im Nahen Osten. Gesprochen wurde zudem über die Demonstrationen gegen die im Land umstrittene Justiz-reform der Regierung Netanjahu und den inneren Streit um den Umgang mit den Ereignissen des 7. Oktober 2023. Viel Interesse bestand auch an der Frage, wie der Nahostkonflikt langfristig zu lösen sei. Trotz der aktuellen Lage bestehe noch Hoffnung, so Moshe Zimmermann, bestimmten „rationalen Kräften“ im Nahen Osten könnte eine „Trendwende“ gelingen. Ausgangspunkt für Verhandlungen sei die schon 1947 von der UNO angestrebte Zweistaatenlösung; dabei sollten sowohl in Israel als auch in Palästina Angehörige beider Nationen bzw. Religionen gleichberechtigt leben können. Die Vorstellung, es gebe einen Staat nur für die Araber und einen nur für die Juden sei rassistisch und überholt. Gerade aus wirtschaftlichen Gründen sei darüber hinaus ein föderatives Band zwischen den zwei Staaten unter der teilweisen Abgabe von Souveränität – wie in der EU – denkbar.
Der Vortragsabend klang schließlich bei Wein und Brot aus.