Kein Jota soll vergehen?!

Das Gesetz im Urchristentum

Im Rahmen der Veranstaltung Alles was Recht ist – Kooperations-VA mit WUB, 01.10.2021

© El Greco / Wikimedia Commons, public domain

Nicht weniger als 194 Belege finden sich im Neuen Testament für das Wort νόμος (Gesetz). Eine beachtliche Zahl: In 27 Schriften des Neuen Testaments knapp 200 Belege. Dabei kann das Wort in sehr unterschiedlichem Sinn verwendet werden. Der Begriff bezeichnet etwa – ohne Vollständigkeit zu beanspruchen – das mosaische Gesetz (Lk 2,22; Joh 7,19; Apg 13,38), das schriftlich vorliegende Gesetz (Mt 12,5; Lk 16,17; 24,44; Joh 1,45), die mündliche Überlieferung und Auslegung des Gesetzes (Joh 12,34; Röm 2,18), aber auch einzelne kultische und soziale Normen (Lk 2,23–24; Apg 15,5) sowie eine Art Schöpfungsweisheit (Röm 2,14–15), die sich in der Natur vom Menschen sehr gut erkennen lässt.

Die zahl- und facettenreichen Belege und die breitflächige Verteilung des Begriffs auf verschiedene Schriften des Neuen Testaments unterstreichen die Bedeutung des Themas. Das Gesetz stellt im Urchristentum einen eigenen Diskussionsgegenstand dar. Die Urchristen ringen um die Gültigkeit des jüdischen Gesetzes und erinnern sich an die Gesetzesauslegung Jesu. Sie interpretieren in unterschiedlichen sozialen Kontexten das Gesetz und generieren auch neue Gesetze – mit Blick auf die ererbte Tradition und angesichts aktueller Herausforderungen.

Das Thema „Gesetz im Urchristentum“ ist – die vielen Belegstellen machen dies deutlich – kaum in einem Vortrag erschöpfend zu behandeln. Drei Stimmen zur Bedeutung des Gesetzes möchte ich im Folgenden näher analysieren: die Verkündigung des historischen Jesu, das Gesetzesverständnis von Paulus und das Gesetz im Matthäusevangelium. Die Einzelanalysen sollen schließlich in einer Synthese zusammengefasst und mit einigen weiterführenden Impulsen versehen werden.

Gesetz und Reich Gottes: Der historische Jesus

Die kanonischen Evangelien erinnern einen Jesus, der sich mit dem Gesetz Israels, dem mosaischen Gesetz, mit der mündlichen Auslegung des Gesetzes, aber auch mit der Gültigkeit und konkreten Anwendung einzelner Normen beschäftigt. Zu verweisen ist hier auf die zahlreichen Streitgespräche mit Pharisäern und Schriftgelehrten ­
(Mk 2,18–22; 7,1–13; 10,2–9). Wiederholt wird Jesus wegen seiner Haltung zum Gesetz kritisiert und bezichtigt, das Gesetz zu übertreten. Die Evangelien dürften hier einen historischen Sachverhalt festhalten, der die urchristliche Verkündigung in jüdischen Kontexten belastete. Erfunden hätte man diese gesetzeskritische Haltung Jesu wohl eher nicht. Sie wird, auch wenn die frühen Christen die Haltung ihres Meisters rechtfertigen mussten, in den Jesuserinnerungen aufbewahrt.

Die gesetzesrelevanten Themen, zu denen sich Jesus äußert, sind vielfältig. Es geht um die Frage nach Reinheit und Unreinheit, um die Gültigkeit und Reichweite des Sabbatgebots, das Schwören, die Ehescheidung oder auch um die Praxis und den Geltungsrahmen der Nächstenliebe. Jesus wird bewusst als Gesprächspartner in Gesetzesdiskursen gesucht und nach der Summe des Gesetzes gefragt: „Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ (Mt 22,36)

Der Überlieferungsprozess dürfte manche Traditionen zum Verhalten Jesu gegenüber dem Gesetz herausgefiltert haben. Die Schriften sind auf verschiedene Adressatenkreise ausgerichtet, für die das Thema „Gesetz“ nicht gleichermaßen relevant erscheint. Das Thema braucht – um es mit einem locus classicus der historisch-kritischen Exegese zu formulieren – einen „Sitz im Leben“: eine Relevanzbasis, um weitererzählt zu werden; eine Relevanzbasis, die etwa im Matthäusevangelium stärker gegeben ist als im Markusevangelium. Der Begriff νόμος (Gesetz) wird im Markusevangelium an keiner Stelle verwendet.

Die vorhandene Breite der Überlieferung aber lässt auf einen markanten Zug im Wirken Jesu schließen. Das jüdische Gesetz und die Frage nach der Auslegung und Gültigkeit des Gesetzes sind für den historischen Jesus ein zentrales Thema.

Vor einer einseitigen gesetzeskritischen Bestimmung Jesu ist aber zu warnen. Eine naive Gegenüberstellung von Gesetz und Evangelium trifft den historischen Sachverhalt nicht: Trotz aller Dispute und der Kritik Jesu an der Auslegung des Gesetzes ist Jesus ganz im Judentum seiner Zeit beheimatet. Er erkennt grundlegend das Gesetz an und tut, was für einen Rab-
bi seiner Zeit gängig und keineswegs außergewöhnlich war: Er diskutiert das Gesetz und nimmt an innerjüdischen Diskursen des pluriformen Frühjudentums über das Gesetz teil. Im vierten Band seines epochalen Werks zum historischen Jesus A Marginal Jew begreift John P. Meier Jesus als „Palestinian Jew engaged in the legal discussions and debates proper to his time and place. It is Torah and Torah alone that puts flesh and bones on the spectral figure of ‘Jesus the Jew’. No halakic Jesus, no historical Jesus.“

In seiner Haltung zum Gesetz steht Jesus auf dem Boden des Judentums. Das Ringen um das richtige Gesetzesverständnis zeugt nicht vom Willen, das Gesetz zu minimieren oder gar auszusetzen. Es belegt vielmehr die Anerkennung und Würdestellung des Gesetzes in der Sicht Jesu.

Gleichwohl lässt sich die Haltung Jesu gegenüber dem Gesetz nur schwer systematisieren. Den einen entscheidenden hermeneutischen Interpretationsschlüssel, der alle Aussagen zum Gesetz erklären könnte, gibt es nicht. Verantwortlich dafür sind die Quellenlage und wohl auch das Selbstverständnis Jesu. Die Quellen bieten nur einen Ausschnitt der Verkündigung, wurden auf die Adressaten hin ausgerichtet und von den Autoren bearbeitet und übersetzt.

Die Aussagen erscheinen zu disparat, um ein kohärentes System daraus zu formen. Aus den verschiedenen Traditionen in unterschiedlichen Gattungen und Schriften lässt sich keine Systematik gewinnen. Es stellt sich die Frage, ob Jesus selbst eine solch einheitliche Gesetzeshermeneutik praktizierte oder intendierte. Die Aussagen erscheinen jeweils situativ veranlasst zu sein. Überraschend, unvorhersehbar und originell interpretiert Jesus selbstbewusst das Gesetz: „Amen, ich sage euch.“ (Mk 3,28) Allenfalls wird man induktiv und in aller Vorsicht einige Tendenzen und Triebkräfte aus der Überlieferung der Evangelien zusammenstellen können. Sie bieten zwar kein formvollendetes Bild, aber doch einige charakteristische Markenzeichen der Gesetzesinterpretation Jesu.

Eng mit dem Gesetzesverständnis Jesu verbunden ist die Reich-Gottes-Botschaft, die zweifellos die Verkündigung Jesu bestimmt. Das Markusevangelium fängt zutreffend die Bedeutung des Reichs ein, wenn es das öffentliche Auftreten Jesu mit dem Wort beginnen lässt: „Das Reich Gottes ist nahegekommen.“ (Mk 1,15) Der Herrschaftsantritt Gottes stellt die Systemmitte der Botschaft Jesu dar: das Prisma, durch das auf Welt und Mensch, aber eben auch auf das Gesetz geblickt wird.

Aus der Botschaft vom nahen Gottesreich ergeben sich neue Wertigkeiten, die zu einem neuen Gesetzesverständnis, einer radikalen oder entschärfenden Interpretation beitragen. So fordert die Nähe des Gottesreichs ein überbietendes Ethos (Mt 5,20.39–41). Das um sich greifende Reich Gottes bewirkt eine „offensive Reinheit“ (G. Theißen), die sich aus der Zuwendung Gottes zum Menschen ergibt und den Menschen – jeden Menschen! – zum Adressaten der Reich-Gottes-Botschaft macht.

Die Gottes- und Nächstenliebe und die Barmherzigkeit (Mt 9,13; 23,23) stellen für Jesus die Essenz des Gesetzes dar. Er warnt vor einer nur oberflächlichen Erfüllung des Buchstabens, ohne den Sinn und die Stoßrichtung eines Gesetzes zu verstehen (Mt 15,3–9). Anstelle eines veräußerlichten Gesetzesgehorsams und einer legalistischen Haltung sind Gesetze von ihrem Ursprungssinn her zu deuten (Mt 19,8). Ziel ist der Mensch. Der Blick auf die einzelne Person und deren Geschichte (Mk 3,3–4; Lk 13,16) ermöglicht eine situationssensible Anwendung der Gesetze.

Albert Schweitzer nannte die Ethik – und so auch die Gesetzesinterpretation – Jesu eine „Interimsethik“: zu sehr von der akuten Erwartung des nahen Gottesreichs geprägt, als dass sie dauerhaft praktiziert werden könnte. So einfach scheint mir die Sachlage nicht zu sein. Das Reich Gottes ist für Jesus keineswegs nur eine futurische Größe. Vielmehr wird das Reich Gottes schon Wirklichkeit, wenn Menschen nach anderen Maßstäben handeln. Die Gesetzesinterpretation Jesu steht und fällt also nicht mit der akuten zeitlichen Nähe des Reichs. Sie steht und fällt mit der Annahme, dass – wann auch immer – das Gottesreich vollendet wird. Von diesem Ende her ergeben sich neue Plausibilitäten und Grundsätze. Die Verkündigung Jesu erscheint mir insofern dauerhafter und nachhaltiger als bisweilen angenommen: Nicht das Futur, sondern die realisierbare Gegenwart des Gottesreichs prägt das Gesetzesverständnis Jesu. Die Gebote und das Gesetz sind daran zu messen, ob und inwiefern sie dem Reich in dieser Welt zum Wachstum verhelfen.

Gesetz und Gnade: Paulus

Für den vorchristlichen Paulus ist das Gesetz die Radnabe seines Jude-Seins. Er ist gesetzestreuer Pharisäer, ja sogar ein Vorzeigepharisäer, ein Eiferer für das Gesetz: „Ich übertraf im Judentum viele meiner Altersgenossen in meinem Volk weit und eiferte über die Maßen für die Überlieferungen meiner Väter.“ (Gal 1,14) Im Zuge seiner Hinwendung zum Christusglauben verändert sich das Verständnis des Gesetzes: „Beschnitten am achten Tag, vom Geschlecht Israel, vom Stamm Benjamin, Hebräer von Hebräern; dem Gesetz nach ein Pharisäer; dem Eifer nach ein Verfolger der Gemeinde; der Gerechtigkeit nach, die im Gesetz ist, untadelig geworden. Aber was auch immer mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Verlust gehalten.“ (Phil 3,5–7) Die Spannung ist nicht zu übersehen, die Paulus ein Leben lang begleiten und seine Theologie prägen soll: aus Gewinn wird Verlust, an die Stelle des Gesetzes treten ein anderes Gesetz und eine neue Sichtweise.

Mit der Lebenswende von Paulus ist ein neues Verständnis des Gesetzes verbunden. Das Gesetz macht nicht gerecht und rettet nicht. Vielmehr – so Paulus – offenbart das Gesetz die Sünde (Röm 3,20): Vor dem Hintergrund des Gesetzes tritt das Fehlverhalten des Menschen deutlich hervor. Eigentlich sollte das Gesetz zur Gerechtigkeit führen, doch es stellt den Menschen unter einen Fluch: „Denn in der Schrift heißt es: Verflucht ist jeder, der sich nicht an alles hält, was zu tun das Buch des Gesetzes vorschreibt.“ (Gal 3,10) Niemand kann das Gesetz ganz erfüllen. Also ist das Gesetz nicht zielführend: Es erreicht nicht zur Gänze, was es eigentlich sollte.

Paulus geht noch einen Schritt weiter: Das Gesetz reizt den Menschen sogar zur Sünde (Röm 7,8) und verkehrt das ursprüngliche Anliegen ins Gegenteil. Es setzt im Menschen ein Aufbegehren frei, einen emanzipatorischen Überschlag, das zu tun, was eigentlich verboten ist.

In Jesus wählt Gott einen anderen Weg. Gott kommt dem Menschen entgegen: Der Mensch wird gerettet durch die Menschwerdung und Hingabe des Sohnes. Dieser neue Bund wendet sich nicht mehr allein an Israel, sondern an alle Menschen. Stellte das Gesetz einen Zaun um Israel dar, öffnen sich nun die Tore: Nicht die Beschneidung, sondern die Taufe inkorporiert in die neue Heilsgemeinde. An die Stelle der Gesetzesobservanz tritt der Glaube: die existentielle Bindung an Jesus Christus. Für Paulus hat das Gesetz seine soteriologische, heilsrelevante Funktion verloren. Der Glaube an Jesus rettet (Röm 10,9). Beides wirkt zusammen: die Gnade Gottes und die Annahme dieser Gnade. Insofern kann Paulus von Christus als dem τέλος, dem Ende, aber auch dem Ziel und der Vollendung des Gesetzes sprechen (Röm 10,4): Die Rettung des Menschen, die letztlich das Anliegen des Gesetzes war, aber durch das Gesetz nicht erreicht wurde, wird in Christus vollendet.

Doch deshalb ist das Evangelium für Paulus keineswegs regel- oder gesetzesfrei. Paulus synthetisiert das Gesetz Israels in spiritueller und ethischer Hinsicht, wenn er schreibt: „Denn das ganze Gesetz ist in einem Wort erfüllt: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.‘“ (Gal 5,14) Paulus kennt Imperative und Ermahnungen, Tugend- und Lasterkataloge. Er kritisiert Fehlverhalten in den Gemeinden und redet seinen Adressaten ins Gewissen. Nein, gesetzesfrei ist die Konzeption von Paulus nicht. Die Gesetzeskritik bezieht sich auf das Gesetz als Heilsweg, auf Zulassungsbedingungen, veräußerlichte Vorschriften der Reinheits- und Kulttora und einen buchstabenbezogenen Gesetzesgehorsam, in dem sich der Mensch in falscher Sicherheit wiegt.

Die Konzentration auf die Liebe als Essenz des Gesetzes ist entscheidend für den paulinischen Missionserfolg. Ohne Beschneidung und die rituellen Bestimmungen der Tora ist die Verkündigung von Paulus nicht nur praktikabler, sondern auch kulturell anschlussfähiger. Just dies mögen seine Gegner auch kritisiert haben: Paulus mache die Gnade allzu billig und opfere das altehrwürdige Gesetz für sein Missionsziel (Gal 2,16–17).

Wie begründet Paulus seine Sicht? Er spricht von einer Offenbarung, die ihm zuteilwurde (Gal 1,12). Er versieht seine Verkündigung mit göttlicher Autorität. Selbstbewusst sieht er sich als Apostel Jesu Christi, von Gott berufen und mit einer neuen Einsicht beschenkt (Gal 1,1).

Die Tatsache, dass sich viele Menschen aus der Völkerwelt seiner Verkündigung zuwenden, ist für Paulus ein weiteres Argument für sein Evangelium. Man möchte fast von einer normativen Kraft des Faktischen sprechen: Der Geist wirkt offensichtlich auch ohne Beschneidung. Das Werden und Wachsen der Gemeinden bestätigt die paulinische Verkündigung und ratifiziert die veränderte Sicht des Gesetzes.

Daneben steht die nüchterne Einsicht: Das Gesetz rettet nicht, weil der Mensch stets hinter den Regelungen zurückbleibt. Schon in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht bezeichnet Paulus das Gesetz als sekundär bzw. defizitär: Es wurde erst nach Abraham Mose gegeben; inhaltlich stellt es – im Vergleich zum Glaubensgehorsam Abrahams – einen Rückschritt dar. Paulus kann das Gesetz nur als heilsgeschichtliches Durchgangsstadium begreifen: als einen Zuchtmeister (Gal 3,24–25), der für begrenzte Zeit Schlimmes zu verhindern half. Letztlich aber kann sich der Mensch nicht selbst durch das Gesetz retten.

Die Tatsache, dass sich die Ansicht von Paulus schließlich durchsetzen konnte, hat aber keineswegs nur inhaltliche Gründe. Der faktische Erfolg der paulinischen Mission wurde sicherlich auch durch die leichtere Umsetzbarkeit, die kulturelle Übersetzungsleistung und die Öffnung der Zulassungsbedingungen – durch den Wegfall der Beschneidung – ermöglicht. Im Zuge der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. wird die Jerusalemer Kerngemeinde vertrieben. Die Gegner des Paulus und die Repräsentanten des noch gesetzeskonformen Wegs geraten in politische Wirren.

Während die paulinische Predigt in der Völkerwelt Fuß fasst, trocknet der judenchristliche Weg mehr und mehr aus. Bis ins 3. Jahrhundert hinein finden sich noch vereinzelte antipaulinische Spuren und Tendenzen. Die Ebioniten etwa – die sich als die treuen Israeliten verstehen und womöglich aus der Urgemeinde hervorgingen – treten als Gegner der „antigesetzlichen“ Haltung von Paulus auf. Irenäus bemerkt, dass die „Ebioniten (…) nur das Evangelium des Matthäus gelten lassen und Paulus verwerfen, den sie einen Verächter des Gesetzes nennen. Die Prophezeiungen legen sie gar zu seltsam aus. Die Beschneidung und die übrigen Gebräuche nach dem Gesetz und die jüdischen Lebensformen haben sie beibehalten, wie sie auch Jerusalem als das Haus Gottes verehren.“ (Adv. Haer. 1,26,2) Sie sollen Paulus einen „Falschapostel“ (Epiphanius, Pan. 30,16,8) genannt und mit Schmähreden überzogen haben (Origenes, Hom. in Jer. 19,12). In ernste Verlegenheit bringen sie das mit Paulus argumentativ vertretene Gesetzesverständnis nicht. Weder die Beschneidung noch die Kulttora setzen sich gesamtkirchlich durch.

Gesetz und Evangelium: Das Matthäusevangelium

Das Matthäusevangelium wendet sich an eine judenchristliche Gemeinde. Der Ablöseprozess von der Synagoge scheint entweder noch im Gange oder schon vollzogen zu sein. Im Rahmen dieses Ablöseprozesses beschäftigt sich das Matthäusevangelium mit dezidiert jüdischen Themen: nicht zuletzt mit der Gültigkeit und Interpretation des Gesetzes.

Ein polares Bild entsteht. Einerseits stellt Jesus in den Antithesen der Bergpredigt pointiert seine vollmächtige Auslegung dem Gesetz gegenüber: „Ihr habt gehört (…). Ich aber sage euch.“ (Mt 5,21–45) Andererseits wird die Gültigkeit des Gesetzes betont, wenn Jesus sagt: „Meint nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.“ (Mt 5,17) Kein Buchstabe des Gesetzes soll vergehen: „Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist.“ (Mt 5,18)

Gerade mit Blick auf die judenchristlichen Adressaten hält Matthäus an der Relevanz und Gültigkeit des Gesetzes fest. Der scheinbare Widerspruch zu den gesetzkritischen Aussagen Jesu muss infolgedessen aber aufgelöst werden. Dies erreicht Matthäus durch die Konzentration auf die Summe des Gesetzes. An der Essenz des Gesetzes darf nicht gerüttelt werden. In diesem Sinne bleibt das Gesetz gültig. So ist auch die Gesetzeskritik Jesu zu verstehen: Er reinigt das Gesetz von inhaltlichen Fehlinterpretationen. Er begreift die Gottes- und Nächstenliebe als Dreh- und Angelpunkt aller Gesetze (Mt 22,36–39): „An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“ (Mt 22,40) Das Gesetz wird nicht aufgehoben. Vielmehr wird das innerste Ansinnen des Gesetzes freigelegt, um jedes einzelne Gebot daran zu messen.

Für die Gemeinde des Matthäusevangeliums ist dies von enormer Bedeutung: Immerhin geht es um die Frage nach der eigenen Vergangenheit, um die Relevanz des altehrwürdigen Gesetzes und um die Bewahrung des jüdischen Erbes unter veränderten Bedingungen. Die narrativ entfaltete und in der Verkündigung Jesu verwurzelte Gesetzeskonzeption versucht, eine theologisch sachgerechte Antwort auf die judenchristliche Verunsicherung zu geben. Sie ermöglicht den Aufbruch in die Völkerwelt, die Taufe statt der Beschneidung, das Maßnehmen an der Verkündigung Jesu, in der sich das Gesetz – dem innersten Wesen nach – erfüllt. Nicht von ungefähr endet das Matthäusevangelium mit den Worten Jesu: „Geht nun hin und macht alle Nationen zu Jüngern (…) und lehrt sie alles zu bewahren, was ich euch geboten habe!“ (Mt 28,19–20)

Am Ende steht der Verweis auf die Botschaft Jesu, die aber nicht außerhalb des Gesetzes verstanden, sondern als Erfüllung des Gesetzes definiert wird. Insofern fließt das Gesetz in die urchristliche Verkündigung ein: mit den Worten Jesu und der Gottes- und Nächstenliebe als Essenz des Gesetzes. Das Matthäusevangelium lässt sich als eine narrative Entfaltung dieser Transformation des jüdischen Gesetzes verstehen, ohne aber den Kern und das Anliegen des Gesetzes aufzugeben. Das Gesetz bleibt gültig, denn Jesus – als vollmächtiger Gesetzeslehrer – bringt das Gesetz in seinem eigentlichen Sinn zur Geltung. In seiner Verkündigung lebt das Gesetz weiter.

Wie begründet nun das Matthäus­evangelium dieses Gesetzesverständnis? Jesus ist mit messianisch-christologischer Vollmacht ausgestattet. Als der verheißene Retter interpretiert er selbstbewusst das Gesetz. Wie Mose am Sinai hält Jesus im Matthäusevangelium auf einem Berg seine erste öffentliche und programmatisch grundlegende Rede. Er interpretiert in den Antithesen das Gesetz, diskutiert und streitet mit Schriftgelehrten und Pharisäern. Das Gesetzesverständnis wird durch die Vollmacht ­Jesu begründet.

Zugleich ist die Nähe des Himmelreichs ein entscheidendes Argument für die veränderte Gesetzeswahrnehmung. Im Licht des Himmelreichs ergeben sich neue hermeneutische Leseschlüssel: Es geht um eine größere Gerechtigkeit (Mt 5,20), um das Praktizieren des Gesetzes (Mt 7,21), aber auch um eine transparente Haltung des Menschen vor Gott (Mt 6,1–8).

Schließlich wird zur Begründung der Gesetzesinterpretation Jesu auf das Handeln Gottes in der Schöpfung verwiesen: ein theologisches Argument, das aus der Beobachtung der Natur und der Welt abgeleitet wird. Ein Gesetz ist dann richtig, wenn es den Schöpfer nachahmt, „der seine Sonne aufgehen lässt über Bösen und Guten“ (Mt 5,45). Kurzum: Für die matthäische Gemeinde stellt die sicher nicht un-jüdische oder ungewöhnliche, wohl aber selbstbewusste, teils radikale und provakante Auslegungspraxis Jesu die Verbindung her. Das Gesetz wird nicht annulliert, sondern in die Botschaft Jesu vom Himmelreich inkorporiert. In Form einer solchen Konzentration bleibt das Gesetz für die Glaubenspraxis der matthäischen Gemeinde verbindlich und zugleich in der Zuwendung zur Völkerwelt anschlussfähig.

Neutestamentliche Impulse: eine (diskussionsfreudige) Synthese

Fassen wir zusammen. Welche Impulse lassen sich aus den anvisierten Haltungen gegenüber dem Gesetz ableiten, die auch für die Kernfrage dieser Tagung relevant sind?

Konzentration auf das Wesen und das Wesentliche

In den verschiedenen Schriften des Neuen Testaments findet sich eine wohltuende Konzentration auf das Wesentliche. Die Urchristen übernehmen oder formulieren markante Synthesen, die von der Gesetzesauslegung Jesu inspiriert und von den Erfahrungen in der Völkerwelt getragen sind und in der Praxis konkretisiert werden können. Solche Synthesen ermöglichen – gerade in den paulinischen Gemeinden – die geistvolle und situationssensible Anwendung und Umsetzung. Sie erhöhen die Anschlussfähigkeit der urchristlichen Verkündigung: Anhand der Synthesen werden Gemeinsamkeiten ersichtlich und Synergien ermöglicht. Allen voran wäre hier Lukas zu nennen, der in seine Illustration des urchristlichen Gemeindelebens Konzepte der reichsrömischen Antike einfließen lässt: die antike Freundschaftsethik oder die platonische Vorstellung vom idealen Staat. In der Konzentration auf das Wesentliche werden Koinonia und Diakonia anschlussfähig.

Das von Cicero gebrauchte Rechtssprichwort „summum ius, summa iniuria“ – je umfassender der rechtliche Regelkosmos ist, umso leichter gerät die Gerechtigkeitsidee unter die Räder – stellt eine eindrückliche Mahnung dar. Zumindest in neutestamentlicher Zeit scheinen markante Synthesen die urchristliche Kommunikationsfähigkeit und Mission wesentlich gefördert zu haben. Die Frage ist vor diesem Hintergrund berechtigt: Wie praktikabel, situationsgerecht und zielführend ist ein ausdifferenziertes gesetzliches Regelwerk?

Zusätzliche Brisanz gewinnt diese Frage durch einen Text des antiken Rhetors Dion Chrysostomos aus der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts: „(…) auch heute noch sagen die Menschen, dass die Gerechtigkeit in den Gesetzen liegt, die sie selbst, die glücklosen Geschöpfe, die sie sind, schaffen oder von anderen wie ihnen erben können. Aber das Gesetz, das wahr und verbindlich und klar zu sehen ist, sehen sie nicht und machen es nicht zur Richtschnur für ihr Leben. (…) Während also bei euch, ihr armen Unglücklichen, das Naturgesetz aufgegeben und verfinstert wird, werden von euch Tafeln und Gesetzbücher und Steinplatten mit ihren unfruchtbaren Symbolen gehütet.“ (Or. 80,5)

Eine gemeinsame Überzeugung als notwendige Basis

So unterschiedlich die Schriften des Neuen Testaments sein mögen, sie verbindet eine gemeinsame Überzeugung. Der Glaube an Jesus, die normierende Kraft seines Lebensbeispiels, die Verbindlichkeit der Gottes- und Nächstenliebe oder auch die Erwartung des Gottesreichs markieren eine urchristliche Mitte und stellen einen korrektiven Maßstab bereit. Selbst im Ringen um die Gültigkeit des jüdischen Gesetzes, um die Notwendigkeit der Beschneidung oder die Bedeutung der Kulttora kann sich Paulus mit seinen Gegnern auf eine gemeinsame Überzeugung berufen: Es geht letztlich um den Glauben an Jesus Christus, der in allen konfliktreichen Rechts-Diskursen eine gemeinsame Basis darstellt. Gesetze bedürfen einer gemeinsamen Grundüberzeugung, auf der sie basieren, aus der sie resultieren oder die sie fördern wollen. Gesetze brauchen ein Ziel, ein Woraufhin und ein Wozu.

Ohne diesen Wertkonsens stehen Gesetze auf tönernen Füßen und drohen, nicht verstanden und folglich auch nicht beachtet zu werden. Es geht um die Begründung des Rechts, die ohne eine gemeinsame Basis undenkbar ist. Ohne eine von der Gemeinschaft anerkannte Überzeugung und ein daraus resultierendes bereitwilliges „Surplus“ im Verhalten wird das Recht allein (unsere) Gesellschaft kaum zureichend organisieren können.

Gesetze nie ohne Geist

In der Beschäftigung mit dem Thema war ich regelmäßig über die urchristliche Freiheit und Flexibilität erstaunt, Gesetze anzupassen und auch zu verändern. Man denke hier nur an die getroffene Übereinkunft beim Apostelkonvent in Jerusalem (Gal 2,1–10; Apg 15): die Entscheidung, Gesetz und Beschneidung nicht mehr verbindlich anzusetzen. Wo kam diese Freiheit her?

An neuralgischen Weggabelungen wie auch bei der Diskussion und Interpretation des Gesetzes verweisen die Autoren des Neuen Testaments regelmäßig auf den Geist. Der Beschluss des Apostelkonvents wird eingeleitet: „Denn der Heilige Geist und wir haben beschlossen.“ (Apg 15,28) „Wo der Geist des Herrn wirkt, da ist Freiheit“ (2 Kor 3,17), formuliert Paulus. Gesetze und Gebote sind nicht ohne den Geist sachgerecht zu verstehen: „Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig.“ (2 Kor 3,6) Der Geist ist bei der Entstehung und Setzung, der Interpretation und Rechtsprechung, aber auch bei der Umsetzung und Verwirklichung von Gesetzen am Werk.

Inhaltlich umfasst dieser Verweis auf den Geist zwei Aspekte: Der Geist erinnert an das Leben und an die Verkündigung Jesu. Das Johannesevangelium lässt Jesus selbst diesen Hinweis auf den Geist aussprechen, der die Verbindung herstellt: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe.“ (Joh 14,26) Die Interpretation des Gesetzes, aber auch die Entstehung neuer Gebote und Regeln bleibt über den Geist zurückgebunden an die Botschaft Jesu. Sie liefert den inhaltlichen Maßstab und ein kritisches Korrektiv. Der Geist stellt die Frage: Wie konform ist das Gebot mit dem Leben und Wirken Jesu?

Zudem stellt der Geist den Bezug zum Ende her. Die frühen Christen sehen den Geist bei der Auferweckung Jesu am Werk, in der die endzeitliche Hoffnung aufscheint (Röm 8,11). In der Apostelgeschichte wird die Sendung des Geistes als deutlicher Hinweis auf den Anbruch der letzten Tage verstanden (Apg 2,17–18). Wie der Geist Gottes bei der Schöpfung zugegen ist, so ist der Geist auch an der Neuschöpfung beteiligt. Der Geist lässt Gebote und Gesetze vom Ende her deuten: „et respice finem“, denk an das Ende!

Mit dem Hinweis auf den Geist ist die Frage aufgeworfen, wie sich einzelne Gesetze und Gebote in den großen heilsgeschichtlichen Plan Gottes einfügen: ob und wie sie das Reich Gottes wachsen lassen und erfahrbar machen. Kein Buchstabe der Welt erreicht dies, wenn er nicht in diesem Geist geschrieben, verstanden oder – wo nötig – geistvoll verändert wird.

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