Kommentar zu Friendshoring: Von Torheiten, Trugschlüssen und Tretminen

© Julius Silver von Pixabay / canva.com

Das Konzept des Friend-Shoring, auf das sich Stefan Kooths und Rolf J. Langhammer in ihrem Beitrag konzentrieren, steht in starkem Gegensatz zu der Denkweise, die seit dem Ende des Kalten Krieges vorherrschte. Die Welthandelsorganisation (WTO) als Institution, die diese Denkweise verkörpert, fördert die globale Handelsliberalisierung. Friend-Shoring, also die Verlagerung von Handelsbeziehungen in „befreundete“ Länder, impliziere eine ganz andere Denkweise. Handelsbeziehungen sollen nicht alleine auf einer Verhandlung von Interessen basieren und, im Sinne der WTO, der Pflicht zur einheitlichen Gewährung von Handelsvorteilen gegenüber allen Staaten. Im Fokus steht etwas Anderes. Stefan Kooths und Rolf J. Langhammer konkretisieren dieses Andere, das – ich zitiere – „Anhänger wertegeleiteten Handels“ propagieren, mit Werten wie Demokratie, Gewaltenteilung und Marktwirtschaft. Sie mahnen an, dass das Beharren auf westlichen Werten in anderen Teilen der Welt als „anmaßend, post-kolonialistisch und protektionistisch verstanden“ wird und mit Vergeltungsmaßnahmen sanktioniert werden könnte.

I.

Nehmen wir die EU als Beispiel, so bestätigt sich die Grundannahme eines so genannten „wertegeleiteten Handels“ durchaus ein Stück weit. Art. 21 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) definiert rechtlich verpflichtend Ziele und Grundsätze, die die gemeinsame Handelspolitik der EU mit Drittstaaten normativ überformt: „Die Union lässt sich bei ihrem Handeln auf internationaler Ebene von den Grundsätzen leiten, die für ihre eigene Entstehung, Entwicklung und Erweiterung maßgebend waren und denen sie auch weltweit zu stärkerer Geltung verhelfen will: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die universelle Gültigkeit und (die) Unteilbarkeit der Menschenrechte (…). Die Union strebt an, die Beziehungen zu Drittländern und zu regionalen oder weltweiten internationalen Organisationen, die (…) diese Grundsätze teilen, auszubauen und Partnerschaften mit ihnen aufzubauen.“

Die von Stefan Kooths und Rolf J. Langhammer angeprangerte „Wertenähe“, in die Handelsbeziehungen gesetzt werden, ist übrigens keineswegs Produkt jüngerer Zeit und Ausdruck von Friend-Shoring-Tendenzen. Schon in den 1990er Jahren, erstmalig in einem Rahmenabkommen für Handel und Kooperation zwischen der EG und Argentinien (Europäische Wirtschaftsgemeinschaft 1990) und seit 1995 standardisiert (Europäisches Parlament 1996) macht die EU so genannte Menschenrechtsklauseln zu einem festen Bestandteil ihrer Freihandels- und Kooperationsabkommen. MR-, Demokratiestandards werden zum „wesentlichen Bestandteil“ („essential element“) der Abkommen erklärt.

Die Details dieser Klauseln und die Frage der Sanktion von Verstößen variiert mit Blick auf die Handelspartner der EU dabei grundlegend (European Parliamentary Research Service 2019). Sie beinhaltet allgemeine Verweise, wie im genannten Argentinien-Abkommen: „Die Kooperationsbeziehungen zwischen der Gemeinschaft und Argentinien und alle Bestimmungen dieses Abkommens stützen sich auf die Wahrung der demokratischen Grundsätze und der Menschenrechte, von denen sich die Gemeinschaft und Argentinien in ihrer Innen- und Außenpolitik leiten lassen.“ In einem Rahmenabkommen mit Korea wird auf Verpflichtungen aus der AEMR und, unbestimmt, auf andere völkerrechtliche Instrumente des Menschenrechtsschutzes verwiesen (Europäische Union 2013). In einem Assoziierungsabkommen mit Georgien wird darüber hinaus auch auf die Europäische Menschenrechtskonvention als wesentlicher Bestandteil des Abkommens verwiesen (Europäische Union 2014).

Ist das „anmaßend“ und „post-kolonialistisch“? Ich würde sagen, nein, keineswegs. Zumindest so lange nicht, so lange sich die Definition der Menschenrechte als wesentliche Bestandteile wirtschaftlicher Annäherung und Kooperation auf die völkerrechtlichen Menschenrechtsin­strumente bezieht, die die beteiligten Staaten ratifiziert haben und die sie selbst als völkerrechtlich bindend anerkennen.

Nehmen wir nun aber handelspolitische Initiativen in den Blick, die im Zeichen von Friend-Shoring initiiert wurden, so stehen geteilte Werte hier gar nicht zentral im Mittelpunkt, um eine Selektion möglicher Freunde vorzunehmen. Für den Begriff und das Konzept des Friend-Shoring prägend ist US-Finanzministerin Janet L. Yellen. Sie erklärte im April 2022, die Biden-Administration plane, die wirtschaftlichen Beziehungen zu Ländern zu vertiefen, auf „die sich die USA verlassen können“ (U.S. Department of the Treasury 2022). Es ging ihr dabei aber keineswegs um einen kleinen Club westlicher Demokratien, sondern, ich zitiere, um „eine große Anzahl vertrauenswürdiger Länder“. In dieser Rede ist von Demokratie oder einem bereits etablierten Mindeststandard an Menschenrechten als Vor-Bedingung der Kooperation keinerlei Rede. Sie spricht stattdessen von Verlässlichkeit und Vertrauen. Stefan Kooths und Rolf J. Langhammer selbst definieren den „Aufbau von Vertrauenskapital“ zu einem wichtigen und förderungswürdigen Ziel von Unternehmen in ärmeren Ländern, das selbst in autokratischen Staaten florieren könne. Soweit also so gut.

II.

Schauen wir uns nun reale Früchte dieses neueren handelspolitischen Paradigmas an, so zeigt sich, dass sich das von Stefan Kooths und Rolf J. Langhammer angemahnte Gefälle zwischen dem Globalen Süden und dem Globalen Norden keineswegs zu realisieren scheint. Ich möchte mich erneut auf die EU konzentrieren.

In ihrer Europäische(n) Strategie für wirtschaftliche Sicherheit aus dem Juni 2023 erkennt die EU an, dass – ich paraphrasiere – die Pandemie, der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, Cyberangriffe und Angriffe auf Infrastrukturen sowie die weltweit zunehmenden geopolitischen Spannungen Risiken und Schwachstellen in den Gesellschaften, Volkswirtschaften und Unternehmen der EU offengelegt haben. Erklärtes Ziel ist es, die wirtschaftliche Sicherheit auszubauen, die Resilienz und Nachhaltigkeit der Wertschöpfungsketten zu fördern und die internationale regelbasierte Wirtschaftsordnung zu stärken. Wenn es nun um die Auswahl an Partnern geht, die der EU dazu verhelfen können, so setzt die EU nicht nur auf bekannte Verbündete, namentlich G7 und NATO-Staaten. Sie wendet sich vielmehr an – ich zitiere – ein „möglichst breite(s) Spektrum von Partnern“ (Europäische Kommission 2023). Diese Offenheit wird in der Literatur als Chance für ein „Mehr“ an Partnerschaften mit Ländern des globalen Südens gesehen (Rizzi 2023). Noch mehr (ebenda): Derzeit bezieht die EU 100 % ihres Bedarfs an Seltenen Erden aus China (Europäischer Rat und Rat der Europäischen Union 2024). Das Bestreben des globalen Nordens, sich aus der Abhängigkeit von China in den Lieferketten für grüne Technologien zu lösen, verschafft einigen Ländern in Asien, Lateinamerika und Subsahara-Afrika eine neue Verhandlungsmacht, die vor allem auf ihre beträchtlichen Reserven an so genannten kritischen Rohstoffen zurückzuführen ist. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Der größte Anteil der weltweiten Kobaltreserven – knapp zwei Drittel – ist in der DR Kongo vorrätig (Universität Bremen 2022). Windturbinen, Batterien für Elektrofahrzeuge und andere Komponenten grüner Technologien benötigen erhebliche Mengen kritischer Rohstoffe. Perspektivisch wird sich ihre Verhandlungsmacht weiter steigern: So erkennt die EU im Kontext der im März 2024 durch den Rat angenommenen europäische Verordnung zu kritischen Rohstoffen (Critical Raw Materials Act) an, dass die „Nachfrage der EU nach unedlen Metallen, Batteriematerialien, Seltenen Erden und weiteren Materialien exponentiell wachsen (wird), da die EU zunehmend von fossilen Brennstoffen zu sauberen Energiesystemen übergeht, die mehr Mineralien benötigen“ (Europäischer Rat und Rat der Europäischen Union 2024). Von Menschenrechten, Demokratie oder Marktwirtschaft als Vorbedingungen für derartige Partnerschaft ist auch hier nicht die Rede. Im Gegenteil wird in der Strategie präzisiert, dass es um solche Partner geht, mit denen die EU „gemeinsame Interessen“ hat und die bereit sind, mit der EU zusammenzuarbeiten. Der Fokus auf Interessen ist doch genau das, für das sich Stefan Kooths und Rolf J. Langhammer aussprechen.

III.

Vor dem Hintergrund der im Unionsrecht verpflichtend vorgeschriebenen normativen Überformung von Außenhandel in Art. 21 EUV müssen wir uns vielmehr fragen: Wo sind sie hin, die Menschenrechte?

Der Critical Raw Materials Act der EU zielt auf eine Förderung strategischer Projekte im Kontext von Bergbau, Recycling und Weiterverarbeitung ab. Gerade diese rein utilitaristische Sicht wird von Seiten der Zivilgesellschaft stark kritisiert (Business & Human Rights Resource Centre 2023). Werden sogenannte strategische Rohstoffprojekte, wie in dem Entwurf vorgesehen, als „übergeordnetes öffentliches Interesse“ eingestuft, laufen sie aus dieser Sicht Gefahr, Umweltschutz und Menschenrechtsbelange zu übertrumpfen. Ganz so eindeutig ist das indes nicht. Im Critical Raw Materials Act der EU wird als ein relevantes Kriterium für die Frage, welche Drittländer für den Abschluss strategischer Partnerschaften Vorrang haben sollten, folgender Umstand ausgeführt: „ob der Rechtsrahmen eines Drittlands die Überwachung, Vermeidung und Minimierung von Umweltauswirkungen, die Anwendung sozial verantwortlicher Verfahren, einschließlich der Achtung der Menschen- und Arbeitnehmerrechte und einer sinnvollen Zusammenarbeit mit lokalen Gemeinschaften (die Anwendung transparenter Geschäftspraktiken und die Verhinderung nachteiliger Auswirkungen auf das ordnungsgemäße Funktionieren der öffentlichen Verwaltung und die Rechtsstaatlichkeit) gewährleistet.“ (Art. 33 I c) ii)). Hier kommt die völkerrechtliche Primärverantwortung der Partnerländer zum Ausdruck, auf ihrem Territorium für die Wahrung der Menschenrechte zu sorgen. Stefan Kooths und Rolf J. Langhammer kritisieren, dass Friend-Shoring eine „einseitige Durchsetzung (von Werten, PW) an den Regierungen der betroffenen Länder vorbei“ forciere. Diese Gefahr erkenne ich nicht. Wird auf den Rechtsrahmen und die Verwaltung des Drittstaats abgestellt, ist das Gegenteil der Fall.

Friend-Shoring-Initiativen eröffnen vielmehr neue Formen informeller Zusammenschlüsse, die offensichtlich dem Ziel der Vertrauensbildung und des Austauschs im Vorfeld völkerrechtsverbindlicher Abkommen stehen (die im Falle eines Abschlusses mit der EU die eingangs erwähnten Menschenrechtsklauseln werden beinhalten müssen). Zu nennen ist beispielhaft die so genannte Minerals Security Partnership. Das ist eine von den USA geführte plurilaterale Partnerschaft, die im Juni 2022 zunächst mit 13 Staaten und der EU begann (U.S. Department of State 2025). Zuletzt, im September 2024, sind die Demokratische Republik Kongo, die Dominikanische Republik, Ecuador, die Philippinen, Serbien, die Türkei und Sambia dem Zusammenschluss beigetreten (Europäische Kommission 2024a). Zu einer „Imperative für verantwortungsvolle Lieferketten“ (U.S. Department of State 2022) zählt der Zusammenschluss, dass Wachstum nicht auf Kosten der der Umwelt, der menschlichen Gesundheit oder der Menschen- und Arbeitsrechte gehen dürfe. Als unerlässlich wird definiert, dass Minen, Verarbeitungs- und Recyclinganlagen auf eine Weise entwickelt werden, die die Umwelt schützt, eine gute Regierungsführung fördert und einen wirtschaftlichen Nutzen für lokale Arbeitnehmer und Gemeinden sicherstellt.

Die Mitgliedschaft des Kongos beweist, dass gute Regierungsführung und Menschenrechtsschutz dabei keineswegs zur Vorbedingung gemacht werden, um Mitglied in dieser interessengeleiteten Partnerschaft zu werden. Zwei Deutungen sind möglich: Hohe Umwelt-, Sozial- und Governance-Standards (ESG) in CRM-Lieferketten sind letztlich nur Feigenblätter. Ihre Einhaltung müsste speziell die EU dazu zwingen, von der Wahl Kongos als strategischem Partner a priori abzusehen. Die zweite Deutung ist optimistischer: Friend-Shoring dieser Art schafft neue Gesprächsräume, wie das so genannte Minerals Security Partnership Forum (Europäische Kommission 2024b); Gesprächsräume, die aus der Sicht verschiedener geografischer, rechtlicher und kultureller Kontexte einen Diskurs über wertegeleitete Lieferkettenbeziehungen eröffnen. Eine Überlegenheit des Westens besteht offenkundig nicht. Laut Weltbank leben mehr als 60 Prozent der kongolesischen Bevölkerung in extremer Armut, 40 Prozent der Bevölkerung gelten als chronisch unterernährt (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung 2023). Dass Staaten wie der Kongo mit Verhandlungskraft an diesen Diskursen teilnehmen und sich die Versorgungssituation zugunsten der Bevölkerung in der Konsequenz verbessern könnte, sollte hoffnungsvoll stimmen.

Weitere Medien vom Autor / Thema: Gesellschaft | Wirtschaft | Politik

Aktuelle Veranstaltungen zum Thema: Gesellschaft | Wirtschaft | Politik

Der Podcast der Katholischen Akademie in Bayern und der Zeitschrift „Christ in der Gegenwart“
Freitag, 14.03. - Mittwoch, 31.12.2025
Wikimedia Commons
Das Markusevangelium
Biblische Tage 2025
Montag, 14.04. - Mittwoch, 16.04.2025
Masmikha/shutterstock
Rohstoffe für die Energiewende
Lieferketten, Abhängigkeiten und Verantwortung
Dienstag, 29.04.2025
© Randy Fath/Unsplash
Transformation der Landnutzung
Zukunftsverantwortung für Gesellschaft, Politik und Land-Wirtschaft
Dienstag, 13.05.2025
Zeichnungen von Alf Lechner (1925-2017) anlässlich seines 100. Geburtstags
Montag, 19.05.2025
Eine Denkwerkstatt
Montag, 26.05.2025
Bernhard Neuhoff im Gespräch mit Sir Simon Rattle
Dienstag, 27.05.2025
EBEN European Business Ethics Network Annual Conference 2025
Donnerstag, 29.05. - Samstag, 31.05.2025