Mit den Worten des Sprechers, die Sie im nachfolgenden Kasten unten finden, endet das „Spiel vom Leiden und Sterben Jesu Christi“, 1997 im oberpfälzischen Tirschenreuth uraufgeführt, das sich als einer der jüngsten Passionsspielorte in Bayern inzwischen etabliert hat. Im Herbst 2022 wird dann eine Neuinszenierung zu sehen sein, die das historische Geschehen mit einem zeitgenössischen Blick beleuchtet, insbesondere in Bezug auf die Figur des Judas und die überlieferte Rolle der Frauen um Jesus. Die szenische Vergegenwärtigung der biblischen Berichte mündet in dieses Lob-, Dank- und Bittgebet, das mit den Pronomen „wir“ und „uns“ die Spiel- und die Publikumsgemeinschaft einschließt. Die Schlussverse, die Sie im zweiten Kasten lesen, schlagen den Bogen zum Prolog, wo im traditionellen Ton der Volksfrömmigkeit die christliche Heilsbotschaft von der Errettung und Befreiung verkündet wird. Wiederum erhalten die Aussagen des Sprechers eine publikumsbezogene Bedeutung (siehe Kasten rechts).
Schon diese Rahmenteile – der Prolog als Bekenntnis der Gläubigen zum leidenden Christus und der Epilog als Dank für Jesu Erlösungstat am Kreuz von Golgota – lassen den religiösen Ernst anklingen, von dem die Aufführung in Tirschenreuth getragen ist. Das Spiel des renommierten Theatermanns Johannes Reitmeier versteht sich als eine „stille“ Passion, die sich nicht mit den großen Darstellungen in Oberammergau, Erl oder Thiersee messen will. Fernab jeder Monumentalität möchte der kammerspielartige „Bilderbogen“ (J. Reitmeier) leise und unspektakulär charakteristische Momente der Leidensgeschichte zeigen.
Als ein „fünftes Evangelium“ (Ludwig Mödl) ist das Passionsspiel bezeichnet worden, das die Botschaft vom Geheimnis des Kreuzes für die jeweilige Gegenwart zu deuten und anschaulich erfahr- und begreifbar zu machen versucht. Jede „Passion“ hat – unabhängig von dem gemeinsamen Anliegen, menschliche und christliche Werte zu erhalten, zu stärken und weiterzutragen – ihren eigenen Stil, ihre Eigenart, den biblischen Stoff zu durchdringen, ihre eigene Ästhetik. Die Tirschenreuther Passion ist dafür ein ganz eigenes Beispiel: Durch den gesprochenen Dialekt und eine einzigartige Erzählstruktur war und ist sie prägend auch im europäischen Maßstab. Seele des Stückes ist die heimatliche Mundart der vier Evangelisten, die als Erzähler „ihres“ Evangeliums auftreten, was der Passionshandlung eine ganz bodenständige Atmosphäre verleiht. Gerade in solchen Momenten holt das Spiel die biblischen Berichte in die Gegenwart herein und macht aus einem historischen ein gegenwärtiges Ereignis, das die Zuschauer auf einer emotional-affektiven Ebene anspricht (siehe Kasten S. 156).
I.
In vielen Teilen des Landes bildeten sich in Bayern im 20. Jahrhundert neue Passionsbühnen. Natürlich waren nur kurzlebige Unternehmungen darunter, mancherorts aber entstanden starke Gemeinschaften, die sich bis in die Gegenwart mit Ernst und Freude der großen Aufgabe des Passionsspiels widmen. Sie geben ein aktuelles Zeugnis für die sprichwörtliche Spielfreude der bayerischen Bevölkerung, die seit jeher auch und gerade in der Erzählung, vielleicht darf man sogar sagen: in der Verkündigung der Leidensgeschichte jenes „Mannes aus Nazareth“ immer neue Nahrung gefunden hat.
Jedenfalls präsentiert sich Bayern heute wieder als eine lebendige Passionsspiellandschaft, nachdem das geistliche Schauspiel im Zeichen barocker Frömmigkeit eine erste Blüte erlebt hatte. Bekanntlich wurde diese Spielform durch die Aufklärung, die Verurteilung bildhaft-sinnlicher Glaubensinszenierung, der die Forderung nach rationaler Frömmigkeit gegenüberstand, und die entsprechenden Verbote der kirchlichen und weltlichen Obrigkeit zurückgedrängt. Fast überall fielen in dieser Zeit die volkstümlichen Passionsspiele der neuen Nüchternheit zum Opfer.
Ein meist nur kurzes Aufblühen dieser Tradition zeichnete sich in mehreren bayerischen Landschaften dann in den 1810er und 1820er Jahren ab. Im altbayerischen und schwäbischen Raum wirkte – direkt oder indirekt – zumeist Oberammergau als anregendes Vorbild. Etwa in Thaining, südlich von Landsberg am Lech gelegen, im Kloster Rott am Inn oder in Mittenwald zeigte man unter Rückgriff auf den Text von P. Othmar Weis „Das große Versöhnungs-Opfer auf Golgatha“.
Meist jedoch scheiterte die dauerhafte Wiederaufnahme der Passionsspiele, nicht zuletzt an den Vorbehalten geistlicher und weltlicher Behörden, obwohl sie, gleich anderen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit, mit dem Regierungsantritt König Ludwigs I. (1825) grundsätzlich wieder erlaubt waren. Schon 1823 hatte sich das Ordinariat in München gegen die neuerlichen Aufführungen gewandt, 1834 folgte das Verbot des Generalkommissariats des Isarkreises, der heutigen Regierung von Oberbayern. Auch im schwäbischen Raum lebte das Passionsspiel mancherorts wieder auf. Meist nur für kurze Zeit wie in Krumbach, wo 1816 und 1817 jeweils von Juni bis September Leiden-Christi-Spiele zur Aufführung gelangten, bei denen 150 Personen mitwirkten, und in Illertissen, wo man 1821 ein kleines Passionsspiel im Schafstadel des Schlosshofes zeigte.
Manchmal aber wurde eine neue, bis in die Gegenwart fortdauernde Spieltradition begründet, wie in dem kleinen Ort Waal bei Buchloe. Auch hier richtete man den Blick auf Oberammergau und verzichtete auf die Wiederaufführung eines eigenen älteren Textes, einer fünfteiligen Passion mit dem Titel „Traurspihl, Beteuttet die übergrosse Liebe Gottes gegen das menschliche Geschlecht. Vorgestellt durch das Leben, Leyden und Sterben Jesu Christi. Von einer Löblichen Bürgerschaft“, die sich in einer Abschrift aus dem Jahr 1792 erhalten hat. So spielte man die Passion 1815 nach einer eigens erstellten Vorlage von P. Othmar Weis, einer Überarbeitung seines Oberammergauer Textes von 1811. Die opernhafte Aufführung fand unter freiem Himmel statt; beteiligt waren 160 Laienspieler.
Von der ausdrücklichen Berufung auf den berühmten Passionsspielort zeugte die starke Ausleihe dortiger Kostüme. Textlich blieb die Orientierung an Oberammergau lange Zeit bestehen. Noch die Bearbeiter des 20. Jahrhunderts, der Münchner Schriftsteller Benno Rödel (1894, 1904 und 1914) und der Waaler Pfarrer Sebastian Wieser (1921, 1928, 1938 und 1949), griffen im Wesentlichen auf die ältere Vorlage von Othmar Weis bzw. auf die revidierte Fassung (1860) von Joseph Alois Daisenberger zurück. Erst 1969 und 1970 wurde eine neu verfasste „Passion“ des schwäbischen „Bauerndichters“ Alois Sailer gezeigt, nach dem Wunsch der Auftraggeber ein „gottesdienstliche[s] Spiel“, das sich „ehrfürchtig an die biblischen Berichte“ hielt und den Spielern helfen sollte, „Leiden, Sterben und Auferstehen des Herrn den Menschen unserer Tage in kraftvoller, aber unpathetischer Sprache zu verkünden.“
Da der erwünschte Erfolg ausblieb, kehrte man zur bewährten – erbaulichen – Textvorlage des frühen 19. Jahrhunderts zurück. Die nächsten Jahre waren von einer Diskussion um Kontinuität und Erneuerung geprägt: Bestrebungen für eine Modernisierung standen starke Beharrungskräfte entgegen. So verfasste der bekannte schwäbische Mundartdichter Arthur Maximilian Miller 1975 im Auftrag des damaligen Spielleiters Otto Kobel in Anlehnung an den Urtext von 1792 ein bodenständiges Passionsspiel, das jedoch von der Spielerversammlung strikt abgelehnt wurde, weil es Dialektpassagen enthielt.
Erst 1992 konnte dieser Text mit seiner literarisch geglückten Verbindung von Hochsprache und Mundart auf die Bühne gebracht werden; auch 2001, 2009 und 2015 war diese Schwäbische Passion wieder zu sehen. In dem modernen Passionsspielhaus entfaltet sich ein an die barocke Spielkonzeption erinnerndes Spektakel, dem die sprachliche Differenzierung zusätzliche Lebendigkeit verleiht: Jesus spricht in der Prosa der Bibel; die Schriftgelehrten, Pilatus und Herodes in barocker Manier in hochdeutschen Versen; und das Volk redet in der ihm eigenen Mundart. Das stimmungsvolle Bühnenbild, das teils mit fester Kulisse, teils mit Projektion und Lichteffekten arbeitet, vertieft die Wirkung.
Fiel und fällt zuallermeist dem örtlichen Laientheater die Aufgabe zu, sich der Überlieferung anzunehmen, die alten Texte zu erneuern und wiederaufzuführen, so war im 20. Jahrhundert, vor allem in den zwanziger Jahren, zum Teil auch eine andere Entwicklung zu beobachten. Im Versuch, den Typus des mittelalterlichen Mysterienspiels möglichst bibelgetreu wiederzubeleben, brachte der Münchner Theatermann Hermann Dimmler mit Schauspielern des Nationaltheaters im Sommer 1920 im Herzogpark in Bogenhausen Freilichtpassionsspiele zur Aufführung. Er hatte dafür eigens ein Textbuch „nach dem Wortlaut der vier Evangelien“ verfasst (Druck um 1920/21). Die einzigartige Naturkulisse erschien ihm als der ideale Ort für seine Inszenierung, während er die Enge eines konventionellen Bühnenhauses mit seiner „Scheinwelt aus Holz und Pappe und bemalter Leinwand“ ablehnte.
Dieses Spiel entfaltete offensichtlich eine intensive und anhaltende Wirkung. 1921 wurde die Festspielgesellschaft für das katholische Deutschland unter der Leitung des als Regisseur an der Volksbühne bekannten Alfred Lommatzsch gegründet, die im gesamten süddeutschen Raum mit der Dimmler-Passion tourte. Dabei setzte man vor Ort jeweils auf die Beteiligung einheimischer Laienspieler. In dieser Form gelangte die Münchner Passion etwa an Pfingsten 1924 in Waldmünchen zur Aufführung; in der Zeit des Nationalsozialismus, vom 4. bis 6. April 1936, folgte dort eine neuerliche Inszenierung, die von der Lokalpresse als „weihevolle[s] Erlebnis für alle Volksgenossen“ angekündigt wurde.
Allein schon in dieser Wortwahl lässt sich der Grund für das ausbleibende, obwohl eigentlich erwartbare Verbot von christlicher Religions- und Glaubensäußerung erahnen. Durch die antisemitischen Züge, die der Spieltext aufweist, boten sich durchaus Anknüpfungspunkte zur nationalsozialistischen Ideologie, weshalb die neuen Machthaber die Initiatoren des religiösen Spektakels gewähren ließen. Wie die Aufführung verstanden werden konnte – und wohl auch sollte, offenbart eine Besprechung im Waldmünchener Grenzboten: Darin wurde auf die integrative Kraft des Spiels verwiesen, die eine (Glaubens- und Werte-)Gemeinschaft formen, erhalten und stärken mochte, bei gleichzeitiger Ausgrenzung jüdischer Mitbürger.
Nicht überraschend ist es daher, dass sogar während des Krieges gespielt wurde, etwa 1940 in Cham. Noch in der unmittelbaren Nachkriegszeit, in den Jahren 1947/48, zählte dieses Passions-Spiel zu den meistaufgeführten Stücken in Bayern, und auch später war seine Wirkung lange ungebrochen, wie Inszenierungen 1951 im unterfränkischen Hofheim und 1966 in der Pfaffenhofener Stadtpfarrkirche St. Johann Baptist zeigen.
II.
Zur Neubegründung einer Passionsspieltradition führte im 20. Jahrhundert mancherorts die Leitidee, einen Gegenpol religiöser Erneuerung zu den Erschütterungen der Zeit zu setzen. Auch in Neumarkt in der Oberpfalz hatte das religiöse Theaterspiel, dessen Anfänge in die Barockzeit zurückreichen, mit der Aufklärung am Ausgang des 18. Jahrhunderts ein vorläufiges Ende gefunden. 1901 riefen Mitglieder des Katholischen Gesellenvereins die Erinnerung an diese Tradition wieder wach und stellten im alten Kolpinghaus vier Szenen der Leidensgeschichte Jesu – Letztes Abendmahl, Fußwaschung, Gebet am Ölberg und Kreuzigung – in Form von „Lebenden Bildern“ mit gesanglicher Begleitung nach. Spiele im eigentlichen Sinn gab es erst zwei Jahrzehnte später.
Nach seiner glücklichen Heimkehr aus dem Ersten Weltkrieg keimte im damaligen Senior des Neumarkter Kolpingsvereins die Idee, das Leiden des Herrn in der Pfalzgrafenstadt wieder in einem „geschlossenen Spiel“ vorzustellen. Mit einer Neudichtung, einem in Blankversen verfassten Text „nach Oberammergauer Vorbild“ aus der Feder des Katecheten German Mayr, begann 1922 die neue, bis in die Gegenwart reichende Tradition.
Offenbar antwortete die Neumarkter Passion auf die religiösen und seelischen Bedürfnisse der Zeit, denn alle zehn Aufführungen zwischen Ostermontag und Christi Himmelfahrt waren ausverkauft, und aufgrund der großen Nachfrage folgte schon im Herbst eine zweite Spielperiode mit 13 Vorstellungen, wiederum unter großem Publikumszuspruch. „Das Spiel hatte seine Wirkung nicht verfehlt“, resümierte der Chronist. „So mancher hatte den Weg zur Kirche und zu Christus zurückgefunden, was schließlich auch der schönste Dank und Lohn für die Spieler war.“
Die Begeisterung, die Anteilnahme und die spürbare innere Ergriffenheit von Mitspielern und Besuchern ließen eine rasche Fortführung erwarten, aufgrund widriger Umstände und schwieriger Zeitläufte gelangte die Neumarkter Passion jedoch erst 1959 und 1964 wieder auf die Bühne. Wegweisenden Charakter hatten die Überlegungen des 2. Vatikanischen Konzils (1962–1965) im Blick auf eine Erneuerung der Textgestaltung und Inszenierung. Nach gründlicher Textrevision durch den damaligen Stadtpfarrer Kaspar Hirschbeck, der den Spieltext insbesondere von antijüdischen Anklängen befreit hatte, wurde die Neumarkter Passion 1984 erneut aufgeführt.
Seit 1989 bringt die Spielgemeinschaft die Botschaft vom Geheimnis des Kreuzes nun in einem 10-Jahres-Rhythmus auf die Bühne. Zuletzt im März und April 2019 mit 18 Aufführungen, erstmals unter professioneller Regie (Michael Ritz) – eine spektakuläre Neuauflage mit über 500 Mitwirkenden
auf und hinter der Bühne und einem weit über 100-köpfigen Chor, mit Licht- und Musikeffekten, die das Publikum in die Zeit der Handlung versetzten und der Aufführung eine – im positiven Wortsinn – „eigen-tümliche“ Atmosphäre verliehen.
In das Heilige Jahr 1933 fällt die Geburtsstunde der Fränkischen Passionsspiele von Sömmersdorf bei Schweinfurt. Zu verdanken sind sie letztlich der Spielfreude einiger Laiendarsteller bei der Theatergruppe des Männergesangvereins und der unermüdlichen Tatkraft des jungen Volksschullehrers, Organisten und Gemeindeschreibers Guido Halbig. Möglicherweise aber wirkten, wie die Historiker vermuten, auch hier noch die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nach, die vielen Menschen einen neuen, persönlicheren Zugang zur Leidensgeschichte Jesu eröffneten und zur Bühnenbegegnung mit der christlichen Passion herausforderten (Jochen Ramming).
Halbig fand in Würzburg eine passende Textvorlage, die dort im März 1918 unter bischöflicher Schirmherrschaft zur Aufführung gebracht worden war. Dabei handelte es sich wohl um die später oft als Faßnacht’sche Passion bezeichnete Fassung, ein von den Brüdern Adolph und Georg Faßnacht in Freiburg (1921) inszeniertes Passionsspiel „in der Art eines Mysterien-Spiels“, das auch die Grundlage für eine Filmproduktion war, mit der die Gebrüder Faßnacht in den Vereinigten Staaten auf Tournee gingen.
Im Gastgarten des Dorfwirtshauses fanden unter Mitwirkung von 70 erwachsenen Spielern 1933 und 1934 erfolgreiche Spielzeiten statt, bereits 1935 untersagte jedoch das nationalsozialistische Regime weitere Vorstellungen in Sömmersdorf. Erst Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, als das Vereinsleben wieder aufblühte, erlebte auch die Spieltätigkeit einen Neubeginn, so dass 1957 die erste Nachkriegspassion im Münsterholz am Ortsrand gespielt werden konnte, auf einer eigens errichteten Freilichtbühne mit Zuschauerraum, der seinerzeit 1800 Besuchern Platz bot. Die Gründung einer Passionsspielvereinigung (1956) und deren Beitritt zu mehreren Theaterverbänden, darunter der Bund Deutscher Amateurtheater, verhalfen den Fränkischen Passionsspielen Sömmersdorf (seit 1961) zu Kontinuität. Seit 1968 hat sich ein Fünf-Jahres-
Rhythmus eingebürgert.
Hunderte von Mitwirkenden – allesamt Einwohner des kleinen Ortes – auf und hinter der Bühne machen die Passion zu einem religiösen Volksschauspiel im eigentlichen Sinn. Die professionelle Regie (Marion Beyer, Hermann J. Vief) ist bemüht, Bewährtes zu erhalten, dabei gleichzeitig neue Horizonte zu eröffnen. Seit 2013 wird die emotionale Wirkung der Szenen – die den dramaturgischen Dreischritt von „Hosanna – Ecce Homo – Halleluja“ vollziehen – durch eine eigens komponierte Bühnenmusik verstärkt.
Unzweifelhaft hat Sömmersdorf sich inzwischen einen wichtigen Platz in der bayerischen Passionsspiellandschaft erobert. 2020 erfolgte sogar die Aufnahme in das Bayerische Landesverzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO als ein „ein Zeichen der Wertschätzung und Anerkennung für den persönlichen Einsatz im Zusammenhang mit dem Erhalt und der Weitergabe von Traditionen. Dieses Engagement ist Ausdruck gelebter Heimatverbundenheit und leistet einen wertvollen Beitrag zum Erhalt der kulturellen Vielfalt in Bayern.“
Und doch ist die Motivation der Menschen in Sömmersdorf breiter. Ihnen geht es eben nicht nur um den Erhalt eines kulturellen Wertes bzw. um Kultur- und Gemeinschaftsarbeit, sondern auch darum, einem breiten Publikum die befreiende und anregende Botschaft Jesu zu vermitteln.
Der Versuch, dem gemeindlichen Leben neue Impulse zu geben, stand am Anfang der Passionsspiele in Altmühlmünster (Ortsteil von Riedenburg). Ein Mitglied des Pfarrgemeinderats hatte die Idee, die Menschen der Region durch gemeinsame Theaterarbeit wieder zu einer Einheit zusammenzuführen. Mit großer Spielbegeisterung brachten die Pfarrbewohner das zentrale Glaubensgeheimnis erstmals 1983 in faszinierenden Bildern auf die Kirchenbühne, 1984 bis 2017 folgten sieben weitere Spielreihen, für die Fastenzeit 2023 ist eine neue Inszenierung geplant. Zwar ist die Spielfreude ein nicht zu unterschätzender Antrieb für die dörfliche Theaterpraxis, doch legen die Mitwirkenden des ernsten Spiels damit gleichzeitig Zeugnis und Bekenntnis zu Christus ab.
Als intensives Erlebnis der Fastenzeit, als „Glaubensbekenntnis“ verstand auch die niederbayerische Gemeinde Saal an der Donau ihr Passionsspiel, das 1986, 1992 und 2004 vom Passionsspielkreis, mehr als 130 Laiendarstellern aus beiden christlichen Konfessionen, gemeinsam mit den Kirchenchören und dem Liederkranz in der Christkönigskirche zur Aufführung gebracht wurde. Das volkstümliche Spiel zeigte die Leidensgeschichte Jesu Christi in einer Folge von zehn Szenengruppen vom Einzug in Jerusalem bis zu Kreuzabnahme und Beweinung Jesu.
Den Text schrieben Spielleiter Peter Buberger und Regisseur Klaus Kern. Die psychologische Motivation menschlicher Handlungen trägt dem Empfinden des zeitgenössischen Zuschauers Rechnung. Besonders eindrücklich präsentiert das Spiel so zum Beispiel die unterschiedlichen Reaktionen und Verhaltensweisen von Petrus, der seinen Verrat, die dreimalige Verleugnung, zutiefst bereut, dabei jedoch nicht seinen Glauben an die Gnade Gottes verliert, und von Judas, der über seine Tat verzweifelt: „Soll ich noch länger dieses Marterleben hinschleppen? Diese Qualen in mir tragen?? Nein! Keinen Schritt mehr weiter. Hier und heute will ich dieses verfluchte Leben beenden!!“
Seit 1996 erinnert in Saal ferner eine – in Ostbayern einmalige – Bilderprozession am Palmsonntag, bei der lebensgroße Holzfiguren auf Tragegestellen mitgeführt werden, an die Leidens- und Erlösungsgeschichte Jesu Christi. Dabei verschmelzen Prozessionsteilnehmer und Zuschauer zu einer Glaubensgemeinschaft.
III.
Die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit von Passionsspielen zeigt ein Spiel aus der Feder des Heimatdichters Theo Schaumberger, das 1988, 1989 und 2010 in der Wallfahrtskirche Maria Hilf im oberpfälzischen Fuchsmühl aufgeführt wurde. Natürlich richtet sich auch hier der Blick auf die letzten Stunden im Leben Jesu, jedoch nun völlig aus der Perspektive des Judas. Die geschickt in die Handlung verstreuten Monologe und Dialoge sowie zwei Zwischenspiele kennzeichnen den qualvollen Weg des Jüngers vom glühenden Verehrer seines Meisters zum Verräter und schließlich zum Gequälten und Verzweifelnden.
In dieser – psychologisch geschickten – Personenzeichnung gerät Judas zur dominierenden Gestalt des Bühnengeschehens. So erfährt auch die Reue über seine Tat, über die das Matthäusevangelium kurz berichtet (Mt. 27,3–5), durch den Autor eine breite Darstellung, um dem menschlichen Schwanken zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit, dem Kampf zwischen Einsicht, Wollen und Können Gestalt zu verleihen. Trotz der Heilsbotschaft, die ihm Simon von Cyrene als positive Gegenfigur vermittelt, findet er letztlich keinen Frieden, fehlt ihm doch der Glaube an die göttliche Vergebung.
Mit dem Stück „Die letzten Stunden und die Auferstehung unseres Herrn Jesus Christus“ aus der Feder von Michael Sellner wurde im August 2005 die geistliche Spielkultur in Perlesreut im Bayerischen Wald, die ins 17. Jahrhundert zurückreicht, wieder zum Leben erweckt. Mehr als 100 Laiendarsteller erfüllen die 16 Szenen mit Leben. Von Beginn legte man einen besonderen Akzent auf die Musik, 2018 wurden die Schauspieler erstmals live von einer Rockband begleitet, was eine außerordentlich spannungsgeladene Atmosphäre erzeugte.
Der künstlerische Leiter Klaus Wegerbauer sah in dieser Art der Inszenierung, die sich der populären Form des Musicals bediente, einen modernen und zeitgemäßen Weg, um das Publikum direkt in den Bann zu ziehen. Der szenische Bogen reicht vom Einzug in Jerusalem bis zur Verkündigung der Auferstehung, wobei der Akzent insbesondere auf menschlichen Regungen, Gefühlen und Handlungen liegt: auf Feigheit und Furcht (Verleugnung des Petrus), Gleichgültigkeit und Opportunismus (Pilatus), Hochmut und Spott (Herodes), aber auch auf Beistand und Mitgefühl (Simon von Cyrene), Wohltätigkeit und Hilfsbereitschaft (Joseph von Arimathäa).
Das neu erwachte Interesse am Passionsspiel in Bayern hat im 20. Jahrhundert auch immer wieder zu Spielen und Texten des 16. bis 18. Jahrhunderts zurückgeführt. Nicht selten ist es kultur- und literaturwissenschaftliches, mitunter auch lokalhistorisches Interesse im Zusammenhang mit einem anstehenden Jubiläum, das die Wieder- und zum Teil Neuentdeckung von älteren Spieltexten, ihre Wiederaufführung, manchmal auch die Wiederbelebung einer erloschenen Passionsspieltradition befördert.
So reicht die Ausstrahlungskraft eines Passionsdramas, das der berühmte Meister des Knittelverses aus Nürnberg, Hans Sachs, im Jahr 1558 verfasste und zwei Jahre später im Druck veröffentlichte, bis in die Gegenwart. Sachs, ein engagierter Anhänger Martin Luthers, hat dieses Stück, das er dem Rat der Stadt Amberg widmete, trotz der bekannten Vorbehalte des Reformators gegenüber der Passionsfrömmigkeit der spätmittelalterlichen Papstkirche geschrieben.
Ob „Der gantz Passion“, der nach dem Titel „vor einer Christlichen Gemain zu spilen“ war, schon damals in der kurfürstlichen Haupt- und Residenzstadt der Oberen Pfalz zur Aufführung gelangte, ist nicht überliefert. Erst mehr als 400 Jahre später war es soweit. In einer modernisierten Fassung, die 1955 in der Reihe Christliche Gemeindespiele des in München ansässigen Christian-Kaiser-Verlags erschienen war, brachte die Theatergruppe des Amberger Max-Reger-Gymnasiums das Passionsspiel anlässlich des 950-jährigen Stadtjubiläums 1984 in der Paulanerkirche auf die Bühne.
Dieses Schulspiel war von vornherein nicht auf Wiederholung angelegt. Dagegen konnte 1985 im Fränkischen Freilandmuseum in Bad Windsheim eine neue Tradition begründet werden. Jeweils am Karfreitag wird dort die Sachs-Passion in sieben Akten eindrucksvoll in Szene gesetzt durch die Theatergruppe Marktbergel und die Bad Windsheimer Sänger. Der Museumshügel gerät zum Berg Golgota, beim gemeinsamen Aufstieg werden die Zuschauer als „Volk“ in das Spiel der Laiendarsteller mit einbezogen und sind plötzlich Teil der Menschenmenge, die „Kreuziget ihn!“ ruft. Das Spiel vor alten, denkmalgeschützten Bauernhäusern gibt der Darbietung einen ausgesprochen archaischen Charakter, die musikalische Begleitung verleiht dem Geschehen eine immense Dichte an Emotion.
Kurz erwähnt sei auch ein barocker Passionsspieltext aus Altomünster, der in einer Reinschrift unter dem Titel Passio Domini nostri Jesu Christi im Klosterarchiv erhalten geblieben ist. Für die zeitgemäße Spielfassung 1988 sorgte der aus dem Ort stammende Historiker und Hochschullehrer Wilhelm Liebhart. Bei der Inszenierung in der Klosterkirche Altomünster durch den Musikwissenschaftler Klaus Haller, der auch die Passionsmusik im barocken Oratorienstil komponierte, verzichtete man angesichts des nur unvollständig überlieferten Textes bewusst auf die Kreuzigung und ließ das Spiel im Stil der alten Karfreitagsumgänge in eine von Chorgesang begleitete Kreuzprozession aller Mitwirkenden münden.
Auch in Freising erinnerte man sich an die eigene Spieltradition, setzte dabei aber einen besonderen Akzent. Auf die Bühne brachte man im Jahr 1998 nämlich das bedeutendste Zeugnis barocken Benediktinertheaters in Bayern. Im Rahmen der Feierlichkeiten zum 300. Gründungsjubiläum der bischöflichen Hochschule am Marienplatz erlebte die berühmte Rosner-Passion, 1750 für Oberammergau verfasst und bereits 1761 und 1763 auch in Freising aufgeführt, als P. Ferdinand Rosner als Rhetorikprofessor am dortigen Lyceum wirkte, eine moderne Inszenierung durch die Theatergruppe WerkStück der Volkshochschule Freising.
Das Stück wurde in stark gekürzter Form gezeigt. Als Textgrundlage diente die Bearbeitung von Alois Fink für die berühmte Probeaufführung in Oberammergau 1977, mit Blick auf die ohnehin hohen Anforderungen an die Laiendarsteller nun nochmals verschlankt vom Spielleiter Diethart Lehrmann. In den Jahren 2000 und 2010 wurde die Rosner-Passion in Freising wiederholt, jeweils in der Fastenzeit und damit im Vorfeld der Oberammergauer Spiele, was einen interessanten Vergleich zwischen dem Daisenberger-Text des 19. Jahrhunderts und dem barocken Vorgängerstück ermöglichte.
Selbst im 21. Jahrhundert sind Wiederentdeckungen barocker Spieltexte möglich. In Weilheim brachte das Jubiläumsjahr 2010, die Feier zur 1000-jährigen Erstnennung der Stadt, eine großartige Neuinszenierung der beiden Passions- und Auferstehungsspiele aus der Feder des Weilheimer Stadtpfarrers Johann Älbl aus den Jahren 1600 bzw. 1615. Im 17. und 18. Jahrhundert sind in größerer Zahl Aufführungen der Tragoedia Passionis und der Comedia Resurrectionis Domini überliefert, bis die Aufklärung diesen frommen Spielen ein Ende bereitete.
Nach 238 Jahren Spielpause kamen nun 2010 die beiden Stücke erneut auf die Bühne, die Darsteller entstammten wie einst der Weilheimer Bevölkerung. Selbst in der gekürzten und vorsichtig modernisierten Fassung von Regisseurin Yvonne Brosch und Ausstatter Andreas Arneth verlor die kraftvolle, oft humorvoll-derbe Sprache des Textes nichts von ihrer ursprünglichen Wucht, wussten die originellen Einfälle des barocken Autors auch den heutigen Zuschauer zu beindrucken. Der im Zusammenhang mit der Wiederaufführung formulierte Wunsch, den sprachgewaltigen Text nicht erneut in Vergessenheit geraten zu lassen, hat sich bislang allerdings nicht erfüllt.
Eine neue Passionsspieltradition ist hingegen im oberpfälzischen Kemnath begründet worden. Den Anstoß gab die 975-Jahr-Feier der Stadt. Ein älteres Spielzeugnis, die Passion Comedi von 1731, die bis 1770 alljährlich auf dem Marktplatz aufgeführt worden war, lag im Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg. Die Neufassung des barocken Textes mit einer behutsamen sprachlichen Modernisierung wurde 1983 ein großer Erfolg, der den Entschluss zur Fortführung in einem 5-Jahres-Rhythmus bewirkte. Nach der ursprünglichen Reduzierung des Spieles auf fünf Szenen – Spielende bildete 1983 das Todesurteil über Jesus – erweiterte man die Passion 1988 um Kreuzweg und Kreuzigung, 2003 ergänzt um eine eigens verfasste Szene des Abendmahls, die im Urtext fehlt.
Wesentlicher Bestandteil der Kemnather Passion ist die Musik. Sie unterstreicht die Handlung auf der Passionsbühne und verleiht ihr eine tiefere Dimension, indem sie starke Emotionen wie die Trauer Mariens beim Abschied in Bethanien, die Fassungslosigkeit angesichts von Jesu Tod am Kreuz, aber auch im Schlussstück Pie Jesu von Andrew Lloyd Webber das tiefe Vertrauen auf das ewige Leben zum Ausdruck bringen. Wieder zu sehen sein wird die Kemnather Passion im Jahr 2025. Und auch dann wird der Epilog-Sprecher mit Blick auf das hingebungsvolle Opfer Jesu den Zuschauern wieder zu bedenken geben. „Denn im Vertrauen auf Gott hat er sein Leiden getragen und trägt auch unser Leben./Höre! Und lebe in diesem Vertrauen: Gott verlässt dich nicht!“
IV.
Die genannten Beispiele zeigen, dass Passionsspiele auch und gerade im 20. Jahrhundert kein kirchliches Spektakel und auch weit mehr als ein frommes Theater sind. Im Tiefsten sind sie Verkündigung und Gebet, Fundament für eine tragfähige Gemeinschaft. Jede/jeder der Darstellerinnen und Darsteller kann erfahren, welche intensive geistliche Erfahrung das Passionsspiel für sie oder ihn ist. Und vielleicht gelingt es, einen kleinen Funken von der Bühne in die Zuschauerreihen überspringen zu lassen und diese Werte und Ideen einem größeren Publikum zu vermitteln.
Die Passionsspiele sind eine hervorragende Hinführung auf die wahre Begegnung mit dem gekreuzigten und auferstandenen Herrn (Bischof Rudolf Voderholzer). Nur der Glaube als Triebkraft ließ diese Spiele eine so lange Zeit überdauern, und zwar angesiedelt in einem fruchtbaren Spannungsverhältnis zwischen Kontinuität und Modernisierung, zwischen Rückblick und Neubeginn. Eine lebendige Passionsspiellandschaft wird immer da entstehen oder künftig entstehen können, wo die Möglichkeit besteht, Anderes zu integrieren, Kontroverses zu diskutieren und Neues auszuprobieren.