Dass sich Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) viele Jahre lang um die Einheit der getrennten christlichen Konfessionen bemüht hat, ist schon seit über zwei Jahrhunderten bekannt. Seine Schriften und Korrespondenzen werden in einem der umfangreichsten Gelehrtennachlässe der Welt aufbewahrt, sind aber längst noch nicht vollständig erschlossen. Und fast mit jedem ca. 1.000 Seiten umfassenden Band der inzwischen 64 Bände der Akademieausgabe werden neue Einsichten in sein Werk und Denken auf allen Gebieten seines Wirkens erschlossen.
So tritt auch der Ökumeniker Leibniz in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher vor unsere Augen und wird sein Profil durch teilweise überraschende neue Einsichten geschärft. Schon vor bald einem halben Jahrhundert hatte der Pallotinerpater Paul Eisenkopf in seinem Werk Leibniz und die Einigung der Christenheit, München, Paderborn, Wien 1975, ein im Geiste des II. Vatikanums verfasstes Bild gezeichnet. Leibniz erscheint dort als engagierter Nachfolger der großen Gestalten des Humanismus, etwa Erasmus von Rotterdams oder Philipp Melanchthons, die sich im 16. Jahrhundert gegen die Spaltung der Christenheit gewandt hatten.
Pionier der Ökumene?
Aber darf man ihn denn überhaupt einen Ökumeniker oder gar einen Pionier der Ökumene nennen? Abgesehen davon, dass dieser Begriff im heutigen Sinne erst vor gut hundert Jahren in Gebrauch kam, weigern sich einige Forscher*innen auch aus einem anderen Grund, ihn als solchen zu bezeichnen. Für einige war Leibniz’ Engagement seinen Aufgaben als Ratgeber der Fürsten geschuldet, in deren Dienst er auch auf diesem Gebiet tätig geworden ist. Und diese Fürsten leiteten zumeist eigene, dynastische Interessen, wenn sie für eine Annäherung gegeneinander stehender Kirchen eintraten, sei es zwischen Lutheranern und der römischen katholischen Kirche oder wenn sie eine innerprotestantische Einigung der Lutheraner und der Reformierten herbeiführen wollten. Andere gestehen Leibniz zu, dass er auch aus persönlicher Überzeugung ein Ireniker gewesen und für Frieden und Versöhnung eingetreten sei, sehen in ihm jedoch keinen Ökumeniker. So argumentiert die französische Leibniz-Forscherin Claire Rösler-LeVan, Leibniz’ Unionsversuche unterschieden sich fundamental vom Ökumenismus unserer Zeit, weil letzterer aus der Autonomie hervorgegangen sei, welche das Religiöse hinsichtlich des Politischen erlangt habe und umgekehrt das Politische gegenüber der Religion. Handelt es sich also, so könnte man fragen, bei den vielen tausend Seiten, auf denen Leibniz seine Vorschläge zur Einheit der Christen entwickelt, seine Methode propagiert oder sich in Briefen und Gutachten detailliert mit den Streitfragen befasst, um bloße zeit- und interessengebundene Produkte der Auftragsarbeit eines Hofbediensteten? Oder sind es doch eindrucksvolle und zukunftsweisende Zeugnisse des Engagements eines Ökumenikers im heutigen Sinne? Dieser Frage soll hier
wenigstens überblicksartig nun nachgegangen werden.
Ausgangpunkte
Die Unbill der Kirchenspaltung hatte Leibniz schon als Angehörigen einer Generation sensibilisiert, die noch in den Dreißigjährigen Krieg hineingeboren worden war. Die Zeitgenossen hatten ihn vor allem als einen Kampf der beiden getrennten Lager des Christentums in Mitteleuropa wahrgenommen. In seiner Geburtsstadt Leipzig erlebte Leibniz zudem ein Luthertum, das von einem rigiden Konfessionalismus bestimmt war. Dieser wähnte sich im Besitz der einzigen unaufgebbaren Wahrheit des Evangeliums, die es nicht nur gegenüber den anderen Konfessionen zu verteidigen galt, sondern gerade auch gegenüber den irenisch gesonnenen lutherischen Theologen.
Letztere bemühten sich um einen interkonfessionellen Ausgleich mit der römischen Kirche, schließlich auch mit den Calvinisten, um so zumindest unter den nicht-römischen Kirchen eine größere Einheit herzustellen, die etwa die gegenseitige Zulassung oder gar gemeinsame Feier des Abendmahls erlaubte. So schenkte der junge Leibniz seine Sympathie den Irenikern, deren Haupt und wichtigster Geist der bekannte Helmstedter lutherische Theologe Georg Calixt war. Diese Helmstedter Universität bildete das Zentrum einer Irenik, die in den lutherischen Theologen an den Fakultäten in Leipzig und Wittenberg ihren schärfsten Widerpart fand.
Dass Leibniz’ späteres Engagement für eine Kircheneinheit seine Nahrung nicht einfach aus der Sympathie für die Irenik schöpfte, sondern seine Wurzeln in viel komplexeren Vorstellungen hat, zeigt der Weg, den er beschritt, nachdem er mit 21 Jahren auf Grund einer herausragenden Arbeit zum Doktor beider Rechte promoviert worden war. Eine ihm bald angebotene juristische Professur schlug er aus, weil er damals schon einen Lebensplan hegte, den wir durchaus ökumenisch nennen können. Schon beim jungen Leibniz stoßen wir auf Hinweise auf eine sehr präzise Vorstellung, wie eine Versöhnung zwischen kontroversen Positionen möglich wäre.
Schon für die Jurisprudenz, sein Studienfach also, fordert er die Zusammenführung, in seiner Sprache das Conciliare oder das Synkretizein, also das Versöhnen der unterschiedlichen Begründungen des Rechts, und zwar durch den Rückgriff auf die Philosophie, nicht irgendeine beliebige, sondern als die Anwendung wissenschaftlich strenger Methodik im euklidischen Sinne, das heißt: der mathematisch-logischen Verknüpfung von Aussagen auf der Grundlage klarer Definitionen der Begriffe. Leibniz hält schon als Jugendlicher die Entwicklung einer solchen Wissenschaft der Wissenschaften für notwendig, ein Projekt, das ihn später als das Bemühen um eine scientia generalis lebenslang begleiten wird.
Und es gibt schon Schriften, in denen er diese Wissenschaft anwenden will, als ein Beispiel sei nur eine Schrift des 21-Jährigen gegen die Atheisten genannt, in deren Anschauungen er eine schwere Gefährdung der res publica christiana sah. Mit 22 Jahren verfasst er eine Übersicht über allumfassende Beweise (Demonstrationum Catholicarum Conspectus). Auf wenigen Seiten benennt sie zunächst die Prolegomena, in denen die „Elemente der wahren Philosophie“ entwickelt werden müssten: das sind Metaphysik, Logik, Mathematik, Physik und praktische Philosophie. In den darauf folgenden zwei Teilen nennt er die Themen der natürlichen Theologie, alles, was mit der Vernunft erkannt, das heißt, allen vernunftgeleiteten Menschen einsichtig werden kann, wenn sie denn die von Leibniz reklamierte wissenschaftliche Methode anwenden.
Im dritten Teil spricht er die Mysterien des christlichen Glaubens an, also die Offenbarungsinhalte, die der Vernunft nicht zugänglich sind. Für diese projektiert er den Beweis nicht ihrer Wahrheit, sondern ihrer Möglichkeit, d. h. dass sie nicht im Widerspruch zur Vernunft stehen, was sie als unmöglich und damit als unwahr erweisen würde. Der 4. Teil schließlich gilt einem doppelten Beweis, nämlich der Autorität der katholischen Kirche und der Autorität der Hl. Schrift. Und hier konstatiert der Lutheraner Leibniz immerhin den Supremat des römischen Papstes über die ganze Christenheit, eine Suprematie, die er drei Jahrzehnte später, über die Reformation hinausgehend, auch explicit nicht nur, wie immerhin bei Melanchthon, auf menschliches, sondern auf göttliches Recht gegründet sieht.
Ein Blick in die Akademieausgabe, die inzwischen in fast allen ihren Reihen im ersten Jahrzehnt des 18. Jhs. angekommen ist, zeigt, wie Leibniz die Themen dieses Plans in den folgenden Jahrzehnten abarbeitet, auch wenn er den Plan als solchen immer geheim gehalten hat. Entstanden war er 1668 am Mainzer Hof, wohl in der Erwartung, der irenisch gesonnene einflussreiche Kurfürst Johann Philipp Schönborn könne ihn auf seiner bevorstehenden Reise nach Rom an den Papst lancieren.
Dass wir Kenntnis von der Bedeutung dieses Plans haben, verdanken wir zwei Briefen vom Sommer und Herbst 1679 an den Herzog Johann Friedrich von Hannover, in dessen Dienst Leibniz inzwischen stand. Der unter dem Einfluss Johann Christian Boineburgs, – er hatte Leibniz an den Mainzer Hof gebracht – zum Katholizismus konvertierte Fürst hatte Leibniz schon als jungen Gelehrten kennen und schätzen gelernt. Ob Leibniz ihm die Briefe tatsächlich überreicht hat, wissen wir nicht. Jedenfalls ist es nun wiederum eine geplante Reise eines einflussreichen Fürsten nach Rom, die Leibniz’ Idee ausgelöst hat, der Fürst möge diesen Plan als eine Sache, die von ihm selbst komme, dem Papst kommunizieren. In den Briefen erläutert Leibniz nun seinen Plan.
Er beschreibt das, was die Voraussetzungen für dessen Realisierung sind: Die eigentliche kirchliche Bemühung um gemeinsame Klarheit unter den Christen über den Inhalt des Christenglaubens und die Bemühung um die Ein- und Unterordnung der Christen unter die kirchliche Hierarchie bedarf einer Vorarbeit, einer Grundlage. Er beschreibt sie ganz im Sinne der Prolegonema seines Plans von 1668: Die Elemente der wahren Philosophie müssen entwickelt werden, eine neue Logik, eine Metaphysik, die über das bisherige hinausweist und veritable Begriffe verwendet von Gott – und zwar dem dreieinigen Gott –, von der Seele, von der Person, von Substanz und Akzidenz, und eine Physik, die zum mindesten die Schöpfung, die Sintflut und die leibliche Auferstehung als möglich erscheinen lasse.
Zu den Prolegomena zählt aber auch die zur „Grundlegung der wahren Moral“ erforderliche Klarheit solcher Begriffe wie Recht, Gerechtigkeit, Freiheit, Glück, Glückseligkeit. Ziel wahrer Politik ist für Leibniz nichts weniger als die „Erlangung des Glücks“ für die gesamte Menschheit, ja schon icy bas, hier auf Erden. Und es gebe nichts, das mit diesem Ziel ähnlich konform gehe wie das, was er, Leibniz, zur unzerstörbaren und unwiderstehlichen Macht des göttlichen Souveräns über alle äußeren Güter und über die innere Herrschaft Gottes ausgeführt habe, wie dieser sie durch die Kirche und die Seelen ausübe.
Nichts sei dem Gemeinwohl förderlicher als die Autorität der universalen Kirche, die den Leib aller Christen bildet, die durch das Band der Liebe, caritas, vereint sind. Und deshalb müsse es der Wunsch eines jeden guten Menschen sein, dass der Glanz der Kirche überall wieder hergestellt werde und dass die geistliche Autorität ihrer wahren Diener über die Gläubigen ein bisschen mehr anerkannt werde, als es in der Praxis oft gerade bei denen der Fall sei, die sich für die Allerkatholischsten hielten.
Wir haben es also, dies zeigen schon die wenigen Hinweise auf die Ausgangspunkte, nicht einfach mit einem Ireniker zu tun und schon gar nicht bloß mit einem schlicht Befehle seines Dienstherrn ausführenden Hofbeamten, sondern mit einer Person, die von Jugend an ihre ganze intellektuelle Kraft und ihre Lebensplanung auf das Ziel ausgerichtet hat, die gespaltene Christenheit zu einen, in der universellen katholischen Kirche. Aber es zeigte sich auch schon, dass dieses Ziel einem noch höheren Ziel dienen sollte, nämlich dem Wohl, der Glückseligkeit der gesamten Menschheit. Und so ist mit seinem wohl ökumenisch zu nennenden Streben auch das andere, sein Leben über vier Jahrzehnte durchziehendes Projekt verbunden: Der Aufbau eines europäischen Netzes von wissenschaftlichen Gesellschaften, also das, was wir heute Akademien der Wissenschaften nennen.
Wenn wir auf Leibniz’ Metaphysik blicken, dann können wir seinen Plan auch als Mitarbeit an Gottes universaler Monarchie verstehen. Dieser Monarch wird von Leibniz als das in höchster Vollkommenheit vernünftige, gerechte und gute Wesen definiert. Deshalb kann auch das Ziel seiner Monarchie gar nichts anderes sein als die Vervollkommnung der ganzen Menschheit und der ganzen Schöpfung, wie sie im Unendlichen erlangt wird, wenn Gott alles in allem sei. Diese Monarchie regiert Gott mit Hilfe der besten Geister unter den Geschöpfen, die zwar als solche metaphysisch notwendig (denn sonst wären sie ja Gott selbst) unvollkommen sind, wohl aber an der göttlichen Vollkommenheit partizipieren, sich wie die ganze Schöpfung ihr asymptotisch annähernd.
So versteht sich Leibniz als Mitarbeiter in der Republik der Geister, und es ist für Leibniz von streng rationaler Notwendigkeit, dass dieses Ziel erreicht wird, auch wenn unsere notwendig unvollkommene und deshalb getrübte Wahrnehmung die Weisheit der göttlichen Monarchie nicht bei jedem einzelnen Ereignis zu erkennen vermag. Darf man das nicht ökumenisch nennen? Welches Element der modernen ökumenischen Bewegung ist denn in Leibniz’ Vorstellungen nicht vertreten? Dies sei nur zwischendurch gefragt.
Leibniz’ Ziel ist anspruchsvoll, ist global, wirklich ökumenisch, es geht um die ganze Menschheit. Man sollte es aber nicht visionär und schon gar nicht utopisch nennen. Denn trägt Leibniz der Weite und Größe des Ziels nicht dadurch ausgesprochen nüchtern Rechnung (immer unter den Bedingungen seines Zeitalters gesagt), dass die von ihm benannten erforderlichen Mittel alles andere als leicht oder billig zu haben sind? Er wusste, dass es eine gewaltige Aufgabe war, die er allein zu lösen sich gar nicht imstande sah. Er wusste andererseits, dass er, mit einer besonderen Genialität ausgestattet, eine bedeutende Rolle dabei spielen könne, die Mittel für die Menschheit bereit zu stellen. Darf man einem so scharfen Intellekt übelnehmen, dass ihm diese Genialität nicht verborgen blieb?
Wir zählen ihn zu den führenden Gelehrten seiner Zeit, überall konnte er auf Augenhöhe mit den führenden Geistern seiner Zeit kommunizieren. Aber er war Mathematiker und außerdem auch Metaphysiker, auch Physiker, Politiker, Theologe, Jurist, Historiker, auch Techniker und weiteres; aber er war kein bloßer Polyhistor, er war vielmehr dies alles als Ökumeniker und die genannten Bereiche waren gewissermaßen subsidiär. Heinrich Schepers (er edierte jahrzehntelang die philosophischen Briefe und Schriften) schließt schon 1960 seinen Artikel über Leibniz in der 3. Auflage des Lexikons Religion in Geschichte und Gegenwart mit dem Satz: „Das überhaupt kennzeichnet L‘ Rationalismus, dass er um der Theologie willen Mathematiker geworden ist.“
Und Ursula Goldenbaum hat in mehreren akribisch ausgearbeiteten Aufsätzen auf ihre Weise diesen Zusammenhang belegt: Leibniz sei, so schreibt sie einmal, überhaupt erst zum Metaphysiker, zum Mathematiker – wir können ergänzen zum Physiker – geworden, „weil er die christliche Offenbarungstheologie mit der modernen Wissenschaft kompatibel machen wollte“. Und so können wir im Blick auf die genannten Quellen ergänzen, dass so eine Voraussetzung geschaffen wurde für die Einheit der Christen und damit wiederum die Voraussetzung zur Erlangung des entscheidenden globalen Ziels, des Wohlergehens der ganzen Menschheit.
Im Folgenden seien nun im Schnelldurchgang ein paar Hinweise darauf gegeben, wie und wieweit diese Grundlagen oder Kennzeichen des Leibnizschen Ökumenismus in den praktischen Kirchenunionsbemühungen auch wirklich erkennbar werden.
Konkretionen und Wegweisungen
a.) Alle Initiativen und Bemühungen von Leibniz haben zu keiner greifbaren Annäherung der getrennten Konfessionsparteien geführt. Die Geschichte seiner Bemühungen ist, wenn man die nüchternen historischen Fakten betrachtet, eine Geschichte des Scheiterns geblieben. Aber das verbindet ihn mit den meisten Irenikern und Ökumenikern. Auch dem eben bereits kurz angedeuteten anderen Projekt, der Gründung von Wissenschaftsakademien in Europa, blieb bis auf wenige Ausnahmen (in Berlin) der Erfolg versagt, obwohl er hierbei, etwa in Sachsen und in Wien, einer Realisierung sehr nahe gekommen war. Leibniz konnten Erfahrungen des Scheiterns nicht von seinem Plan abhalten; denn höher als alle historischen Erfahrungen war für ihn die Vernunft, die ihn in ihrer strengen Anwendung zur Wahrheit seiner Metaphysik und so zu der Einsicht in das weise Regiment des in höchster Vollkommenheit vernünftig, gütig und gerecht regierenden universellen Monarchen geführt hatte, auch wenn ihm die Erkenntnis der Weisheit mancher Entwicklung und mancher Widrigkeiten häufiger verborgen geblieben sein mag. „Und ist gnug daß wir in genere wißen, gott habe das beste erwehlet, so die perfectio universi erfordert, ob schohn specialia davon zu begreiffen in diesem leben ohnmüglich“.
Über Jahrzehnte war der irenisch gesonnene höchste hannoversche Geistliche Gerhard Wolter Molanus sein Mitstreiter sowohl in den Verhandlungen mit katholischen Repräsentanten als auch mit der reformierten Konfession. Und ganz im Sinne jenes Zitats sehen wir Leibniz im späten Briefwechsel mit einem inzwischen unwilligen Molanus als den beharrlich an dem Ziel festhaltenden Streiter. In diesem Fall ging es um eine Abendmahlsgemeinschaft zwischen Lutheranern und Calvinisten unter Beiziehung der anglikanischen Kirche, die ja erst seit den 1970er Jahren mit der Leuenberger Konkordie erreicht wurde.
Das Vertrauen in die göttliche Güte und Weisheit bedeutet nicht fromm ergebenes Abwarten, sondern ständige Wachsamkeit hinsichtlich günstiger politischer Konstellationen. Leibniz spricht von „Konjunkturen“; eine solche sah er zum Beispiel 1685 in der Regierungszeit von Papst Innozenz XI. gegeben, den er einen „Pape traitable“ (einen umgänglichen Papst) nannte. Und man habe vernunftgeleitete Theologen unter einem engagierten Fürsten: „Ich finde, es wäre gut, von dieser Konjunktur zu profitieren.“ Ähnlich äußerte er sich schon 1668 und 1679, 1706, ja sogar noch in seinem Sterbemonat November 1716.
b.) Auf die Frage nach den Ursachen der Kirchenspaltungen gibt Leibniz dieselbe Antwort wie bereits Augustinus oder die schon genannten Ausgleichstheologen der Reformationszeit: Zur Kirchenspaltung kommt es nicht primär wegen theologischer Differenzen, wegen Lehr- und Bekenntnisunterschieden, sondern Ursache ist ein Mangel an Liebe. Diese Caritas bildet aber nun einen Zentralbegriff, an dem Leibniz sich in den ersten Jahrzehnten seines philosophischen und politischen Wirkens abarbeitet und den er, ausgehend vom Altertum, von Platon, von Cicero, auch von Augustinus und dem GüldenenTugend-Buch (1647) des Jesuitenpaters Friedrich Spee schließlich in die Definition der Gerechtigkeit als der Caritas des Weisen und des universellen Wohlwollens einfließen lässt. So lautet seine Forderung für die Unionsverhandlungen: Nicht mit einem amour mercenaire, nicht im gierigen Beharren einer Kaufmannsseele auf dem Eigennutz, sondern im amour non mercenaire, wie man modern sagen könnte, in der Weise eines herrschaftsfreien Dialogs oder Diskurses, ausgerichtet nicht nur am eigenen, sondern auch am Wohl des jeweiligen Gegenübers, müsse man verhandeln. Für die Verhandlungen bedeutet es den Verzicht darauf, die Einheit erzwingen zu wollen, indem man die eigene Position auf Kosten derjenigen des Gegenübers als die einzig wahre behauptet und in jeder Hinsicht seine Position gegen die andere Seite durchsetzen will.
Damals wie heute war es im Blick auf die Reunions-Verhandlungen der Kirchenbegriff, der einer Union von Protestanten und Katholiken im Wege stand. Entgegen manchen Aussagen in der älteren Literatur hatte Leibniz keinen spirituellen Kirchenbegriff; die Liebe, die er als das entscheidende Element ansah, war die Gottesliebe, die er als Liebe der göttlichen Vollkommenheiten definiert hat. Es ist hier leider nicht der Raum, den Konsequenzen hieraus nachzugehen. Jedenfalls bedeuten Gottes- und Nächstenliebe nicht, wie etwa bei dem großen Pseudoareopagiten Dionysius oder bei den Quietisten der Leibniz-Zeit und besonders bei François Fénélon das Aufgeben oder die Bereitschaft zur Verleugnung und völligen Aufgabe des eigenen Selbst – das verbot sich schon von der Leibnizschen Substanzmetaphysik her – wohl aber die Freude am Glück des anderen.
Sein Konzept schloss eine Amorphisierung der Kirchen im Sinne einer Auflösung fester juridisch bestimmter hierarchischer Strukturen aus. Kirche ist res publica, ist eine persona civilis im Sinne des römischen Rechts. Schon Paul Eisenkopf hat zudem darauf hingewiesen, dass für Leibniz etwa die Bildung einer neuen, einer dritten Partei nicht die Lösung der Kontroversen von zwei Parteien sein konnte. Leibniz bemüht sich stattdessen um die Formulierung der eigenen Wahrheit in einer Weise, die der Wahrheit in der Position des Gegenübers gerecht wird. „Alles Wahre stimmt mit dem Wahren überein“. Dieser Satz aus der Nikomachischen Ethik des Aristoteles hatte schon die Ausgleichstheologen der Reformationszeit, vor allem Martin Bucer, motiviert.
Leibniz hat unter Aufbietung seiner umfassenden dogmengeschichtlichen und konfessionskundlichen Kenntnisse in einer neuen Weise dies umzusetzen versucht. Ein berühmtes Beispiel ist das Examen religionis christianae (Prüfung der christlichen Religion) unter einem späteren Titel als Theologisches System bekannt geworden, das er, wie den Diskurs der Metaphysik, in dem wichtigen Jahr 1686 verfasst hat. Aufgeschrieben hat er darin, wie ein katholischer Theologe seine ihm unverzichtbar erscheinende Glaubenswahrheit so ausdrücken kann, dass sein evangelischer Kontrahent sein Anliegen darin berücksichtigt findet, ohne dass eine der beiden Parteien das Wesentliche ihres Bekenntnisses aufgeben müsste. Das ist mehrfach als Kryptokatholizismus missverstanden worden. Leibniz ist Lutheraner oder wie er es ausdrückte, um die an eine Person geknüpfte Bezeichnung zu vermeiden, ein Angehöriger der Augsburgischen Konfession geblieben. Nach dem eben Gesagten wäre eine Konversion auch nicht schlüssig. So haben wir von ihm die Aussage: „Wäre ich als Katholik geboren worden, wäre ich zeitlebens Katholik geblieben“.
c.) Manches eben Vorgetragene deckt sich methodisch durchaus mit der Irenik, in der Leibniz-Zeit repräsentiert vor allem durch den genannten Georg Calixt, seine Schüler Molanus, den Schotten John Dury und nicht zuletzt durch den Berliner Hofprediger und Bischof der Brüdergemeine Daniel Ernst Jablonski, in bestimmter Hinsicht auch durch Johann Amos Comenius. Und doch ist Leibniz’ irenischer Impuls anders begründet und führt schließlich zu einer singulären Position unter den Irenikern seiner Zeit wie auch in der Geschichte der kirchlichen Einheitsbemühungen überhaupt.
Dies sei hier nur an einem Beispiel illustriert aus der Anfangsphase der innerprotestantischen Verhandlungen, die 1697/98 zwischen Brandenburg und Hannover begonnen wurden, nicht zuletzt, um das durch die Konversion des sächsischen Kurfürsten geschwächte Gewicht der nicht-katholischen Kurfürsten im Reich zu stärken. Die Liebe als Triebkraft der Aussöhnung ist bei Leibniz nicht einfach im Sinne der Paränese des 1. Joh-Briefes verstanden, sondern als Liebe der göttlichen Vollkommenheit ist sie benevolentia universalis, universelles Wohlwollen. Es ist die Umsetzung der Forderung, wie sie Leibniz im Discours de Métaphysique erhoben hat: Man müsse die Moral an die Metaphysik binden, es gehe nicht an, „Gott nur als Prinzip und als Ursache aller Substanzen und Wesen zu sehen, sondern man müsse ihn als den Chef aller Personen oder intelligenten Substanzen sehen, als absoluten Monarchen der vollkommensten Republik, wie es die des Universums ist, komponiert aus allen Geistern zusammen“.
Die Vollkommenheit der Güte Gottes ist zugleich Ausdruck der Vollkommenheit des Vernünftigen. Gott regiert das Universum als Vernunftwesen. Das bedeutet: Gottesliebe, caritas, universelles Wohlwollen und Gerechtigkeit entsprechen immer auch dem bestmöglichen Gebrauch der Vernunft. Und damit sind wir bei dem letzten und Leibniz’ ökumenische Methode m. E. am deutlichsten in ihrer Eigenart kennzeichnenden Punkt.
Die Verhandlungen begannen 1697 mit einem umfangreichen Gutachten Daniel Ernst Jablonskis. Wie andere große Ireniker prüft dieser die Lehrdifferenzen unter den Religionsparteien nach ihrem Konsenspotential, stellt in den meisten Punkten einen Konsens in der Sache fest, der lediglich verbal überdeckt werde, und bemüht sich bei den sachlichen Differenzen um eine „Mittelstraße“, die von beiden beschritten werden könne. Für den Rest, die nicht auflösbaren Differenzen, möge gegenseitige Toleranz gewährt und so eine vorläufige Union ermöglicht werden.
Leibniz sah in dieser Methode keine wirkliche Grundlage für die Kircheneinheit, und die Erfahrungen mit den Religionsgesprächen des 16. und 17. Jhs gaben ihm Recht. Leibniz sah die Lehrdifferenzen nicht im Theologischen begründet, sondern im philosophischen Vorverständnis, das das Denken der Theologen bestimmte. Aus manchmal geringfügigen philosophischen Irrtümern entstehen theologische Urteile, welche die Bekenntnisaussagen der anderen Seite häretisch erscheinen lassen und die andere Seite aus der Gemeinschaft derer, die den rechten Christenglauben haben, herauskatapultieren.
So enthalten Leibniz’ Unionsgutachten, auch seine Antwort an Jablonski, breite Ausführungen, wie sie auch in seinen metaphysischen Schriften zu finden sind und methodisch dem entsprechen, was er schon als junger Gelehrter und Berater als für die Klärung der Begriffe und für die Schlüssigkeit der Beweise notwendig angesehen hatte.
Jablonski berichtete Leibniz daraufhin von den Widerständen, auf die Leibniz’ Stellungnahmen bei den Reformierten in Brandenburg gestoßen war, sie wehrten sich dagegen, eine vermeintlich neue Philosophie akzeptieren zu müssen. So scheiterte Leibniz auch an dieser Stelle. 1817, als es in Preußen dann doch zur Verwaltungsunion von Lutheranern und Calvinisten kam, gedachte man immerhin respektvoll des Unionsversuchs von Leibniz und Jablonski.
Der Ökumeniker
Leibniz’ Weg zur Kirchenunion ist insoweit wahrhaft ökumenisch, als das gemeinsame Band der wahren katholischen Kirche für ihn die Liebe im Sinne eines Wohlwollens ist, das auf die gesamte Menschheit zielt und seinen Grund in der Teilhabe an der universellen Herrschaft des in höchster Vollkommenheit vernünftigen, gerechten und guten Gottes findet. So kennzeichnet sein ökumenisches Bemühen eine große Kontinuität bis in seine letzten Lebenswochen hinein und eine weitgehende Konsistenz seines Handelns in konkreten Situationen, in den Konjunkturen, wie er es nannte, und mit dem, was lebenslang Grundlage seines Wirkens geblieben ist. Von den Irenikern seiner Zeit hebt ihn die ökumenische Weite nicht nur seines Denkens, sondern auch seiner Initiativen und Vorschläge ab.
Alle erreichbaren Kenntnisse über die oikumene (die Grundbedeutung dieses griechischen Begriffs ist ja die „ganze bewohnte Welt“) waren in sein Denken einbezogen, jahrzehntelang hielt er Kontakte zu China, zu Russland, auch seine Vorschläge zum Islam, bekannt als Ägyptischer Plan, aber auch sein Blick auf andere Länder, auf Indien und die Kulturen Vorderasiens, auf die Länder der sogenannten Barbaren, haben einen ökumenischen Hintergrund. Er sah die hohe Bedeutung des gegenseitigen Austausches und einer gegenseitigen Mission zwischen China und Europa, „dass sich Licht am Licht entzündet“. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens taucht in seiner Korrespondenz der Plan eines Weltkonzils unter der Ägide Peter des Großen auf, d. h. unter Einbeziehung der Orthodoxie des Ostens und der Kirchen im heutigen Nahen Osten.
Er weiß aufgrund seiner langen Erfahrungen und umfangreichen globalen Kenntnisse um die Kautelen, die bei einem solchen Projekt hinsichtlich der römischen Kirche, des Anglikanismus, aber auch des Sultans, zu bedenken wären. Gewiss spiegelt sich in vielem seiner Vorstellungen der Erwartungshorizont der Frühaufklärung, in man-
chem, z. B. seiner Idee eines Weltkonzils oder einer gegenseitigen Mission zwischen China und Europa, ist er seiner Zeit jedoch weit voraus.