Die Entstehung von Lieferkettenregulierungen wurde durch wiederholte Berichte über Missstände wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit und menschenunwürdige Arbeitsbedingungen motiviert. Der Einsturz der Fabrik Rana Plaza in Bangladesch 2013, bei dem über 1.100 Menschen ums Leben kamen, bildet nur eines von vielen Beispielen, das den Handlungsbedarf verdeutlicht. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) und die Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD) zielen darauf ab, Unternehmen zur Identifikation, Bewertung und Minderung von Risiken in den Bereichen Menschenrechte und Umwelt entlang ihrer Lieferketten zu verpflichten. Vor diesem Hintergrund zeigen empirische Studien Herausforderungen bei der Umsetzung des seit 2023 in Kraft getretenen LkSG und weisen zudem auf mögliche negative Nebenwirkungen hin (Kolev-Schaefer 2024).
Gerade angesichts der hohen Komplexität globaler Lieferketten, die im Hauptbeitrag zu Recht adressiert wird (Kolev-Schaefer 2024), ist es erforderlich, die Verantwortung von Unternehmen für die Implementierung von Sorgfaltspflichten systemisch abzusichern, um ansonsten auftretende Wettbewerbsverzerrungen und eine mangelnde Wirksamkeit der Implementierung von Maßnahmen so weit wie möglich zu vermeiden. Die Position des Hauptbeitrags weist begründet darauf hin, dass es nicht möglich ist, alle Risiken angemessen zu erfassen: „Zum anderen macht die Komplexität der hochvernetzten Produktions- und Lieferstrukturen es unmöglich, die Produktionsbedingungen bei jedem einzelnen Produktionsschritt zu überwachen.“ (Kolev-Schaefer 2024) Obwohl in dieser Hinsicht eine Weiterentwicklung der Regulierung und Gestaltung der Maßnahmen erforderlich ist, die auf der fortschreitenden Praxiserfahrung bei der Implementierung und Umsetzung der Maßnahmen aufbauen sollte, stellen Lieferkettenregulierungen gerade aufgrund der Komplexität des betroffenen Gegenstands ein wichtiges Element der Systemverantwortung dar, wie am Beispiel des Beschwerdesystems für die Lieferkette verdeutlicht wird.
Systemverantwortung als proaktive Verantwortung angesichts von Komplexität
Das Ziel der Systemverantwortung liegt nicht zuletzt darin, individuelles Handeln auf die Gestaltung und Verbesserung der privatwirtschaftlichen Governance- und öffentlichen Regelsysteme auszurichten und dadurch eine fortlaufende Verbesserung von Handlungsbedingungen zu erzielen. Die u. a. durch Bayertz vorgenommene Differenzierung des Verantwortungsbegriffs als ein relationales Konzept (vgl. Bayertz 1995) mit vier Instanzen bildet hier den Ausgangspunkt (ebd.):
1. Subjekt der Verantwortung: Wer ist verantwortlich?
2. Instanz der Verantwortung: Wem gegenüber?
3. Objekt der Verantwortung: Wofür?
4. Normativer Rahmen: Vor welchem normativen Bezugsrahmen?
Die Ausweitung des Verständnisses des Subjekts der Verantwortung vom einzelnen Individuum hin zu Kollektiven von Handelnden (May/Hoffmann 1991) sowie die Annahme hybrider Modelle (Issacs 2011: 33), die sowohl das Individuum als auch Akteurs-Kollektive als Subjekt der Verantwortung annehmen, ist inzwischen weitgehend akzeptiert. Insbesondere die Ausrichtung der Verantwortung auf die Gestaltung der Systeme, die eine Verschiebung des Fokus weg von individueller Haftung für vergangene Fehler und hin zu einer proaktiven Ausrichtung auf die zukünftige Verbesserung der Systembedingungen impliziert, stellt einen wichtigen Aspekt der Systemverantwortung dar: „Our responsibility stems from belonging to a system of interdependent processes of cooperation and competition through which we seek benefits and seek to realize projects. Even if we cannot follow the outcome […] [of our] own actions in a direct causal chain […], we bear responsibility because we are part of the process.“ (Young 2007: 175)
Mit steigendem Grad der Komplexität des Verantwortungsobjekts ist es sinnvoll, die Bezugsperspektive von einem retrospektiven hin zu einem prospektiven Verantwortungsbegriff zu verschieben. Während die retrospektive Verantwortung auf eine individuelle Schuldzurechnung fokussiert ist, stellt die prospektive Verantwortung stärker auf die Gestaltung der Systeme und die Verbesserung zukünftiger Handlungsbedingungen sowie einen proaktiven (Birnbacher 1995: 145 f.) und konstruktiven Umgang mit Fehlern zur Generierung von Lerneffekten ab.
Der Grundgedanke liegt hier darin, dass das Objekt der Verantwortung oftmals zu komplex und unübersichtlich sei, um eine ausreichende Überschaubarkeit der Konsequenzen von Handlungen sicherstellen und somit die Haftbarkeit auf einzelne Individuen zurückbeziehen zu können. Vielmehr müsse die Verantwortung auf einen konstruktiven Umgang mit Fehlern und die Mitigierung negativer Handlungsfolgen durch Regelsysteme und nicht zuletzt auch durch Fürsorge- und Sorgfaltspflichten, die durch solche Systeme vorgeschrieben werden können, wie z. B. die Lieferkettensorgfaltspflichten, erfolgen. So schlägt beispielsweise Heidbrink ein heuristisches Verantwortungskonzept „auf hermeneutischer Basis“ (Heidbrink 2003) vor, das eine kontextabhängige Reflexion über die Anwendungsmöglichkeiten von Verantwortungsnormen angesichts unübersichtlich vernetzter Prozessabläufe sowie eine Systemgestaltung, die auf Solidaritäts- und Fürsorgepflichten abzielt, in den Vordergrund stellt: „Wesentlich ist dabei die Einsicht in den Sonderstatus der Verantwortung zwischen geschuldeten und verdienstlichen Pflichten. Verantwortung beruht nicht nur auf sogenannten Nichtschädigungsgeboten, sondern auch auf Solidaritäts- und Fürsorgepflichten.“ (ebd.: 53)
Die Einführung von Lieferkettenregulierungen bildet angesichts der Komplexität der Lieferketten eine Schnittstellenfunktion zwischen der Initiative von Unternehmen und insbesondere von Entscheidungsträger:innen innerhalb von Unternehmen und der Systemgestaltung, die nicht zuletzt auch die privatwirtschaftlichen Governancesysteme beeinflusst.
Nach Kolev-Schaefer (2024) erfordert die Ethik der globalen Wirtschaft ein Engagement für die Verbesserung von Arbeits- und Umweltstandards, da Unternehmen nicht isoliert sondern in einem global vernetzten Kontext agieren. Aus dieser Perspektive führt die Verantwortung für Menschenrechte und Umweltschutz zu einer Verpflichtung, Risiken entlang der Lieferkette zu identifizieren und zu minimieren.
Herausforderungen bei der Implementierung von Lieferkettensorgfaltspflichten und Risikobasierung
Die Komplexität globaler Lieferketten eröffnet sowohl Chancen als auch Risiken. Deutschland importierte 2023 Waren im Wert von 1,4 Billionen Euro, wobei mehr als die Hälfte dieser Importe auf Vorprodukte entfiel (Kolev-Schaefer 2024). Diese Lieferketten ermöglichen Unternehmen, Produktionskosten zu senken, den Zugang zu Rohstoffen zu sichern und wettbewerbsfähige Preise anzubieten. Gleichzeitig führen Abhängigkeiten von internationalen Lieferanten zu Risiken, wie die COVID-19-Pandemie und geopolitische Konflikte verdeutlichten (ebd.). Zusätzlich erschweren die komplexen Strukturen aus unmittelbaren und mittelbaren Zulieferern die Überwachung der Produktionsbedingungen (Kolev-Schaefer 2024); die Implementierung der betreffenden Regulierungen beinhaltet folglich spezifische Herausforderungen:
- Komplexität globaler Lieferketten: Die verschachtelte und teilweise oftmals verborgene Struktur globaler Lieferketten erschwert es Unternehmen, Risiken vollumfänglich zu identifizieren und eine angemessene Priorisierung von Risiken vorzunehmen sowie die daraus abzuleitenden Sorgfaltspflichten in angemessener Weise zu implementieren.
- Gegenteilige Auswirkungen von Lieferkettensorgfaltspflichten in Ländern mit hohem Handlungsbedarf: Insbesondere in Ländern mit schwach ausgeprägten Regulierungssystemen im Hinblick auf Menschenrechte und Umweltstandards ist es, wie Kolev-Schaefer (2024) hervorhebt, oftmals schwierig, Risiken ausreichend transparent zu machen und angemessene Sorgfaltspflichten effektiv einzuführen. Kolev-Schaefer weist darauf hin, dass viele europäische Unternehmen aufgrund der hohen Risiken Vorprodukte aus Ländern mit höheren Standards beziehen. Dies hat zu einem Rückgang der Importe aus Ländern mit niedrigeren regulativen Standards geführt, was die wirtschaftliche Lage in den betroffenen Regionen zusätzlich verschlechtert (Kolev-Schaefer 2024). Diese Verlagerungseffekte könnten langfristig dazu führen, dass z. B. Entwicklungsländer vom globalen Handel ausgeschlossen werden und nachhaltige Entwicklungsziele verfehlt werden (ebd.).
- Kosten und Ressourcen: Die Überwachung der Lieferkette und die Einhaltung der gesetzlichen Anforderungen führen zu hohen Kosten für Unternehmen. Insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) können solche Kosten eine Herausforderung darstellen (Kolev-Schaefer 2024). Hier ist jedoch anzumerken, dass nach der erstmaligen Implementierung der entsprechenden Maßnahmen und einer angemessenen Eingewöhnungsphase der Aufwand zukünftig sinken dürfte.
Die Umsetzung der Lieferkettensorgfaltspflichten ist folglich mit erheblichen Herausforderungen verbunden, so weist Kolev-Schaefer darauf hin (Kolev-Schaefer 2024), dass eine Risikobasierung erforderlich sei, um den Aufwand für die anwendungspflichtigen Unternehmen zu senken. Dies gilt insbesondere für die Überwachung mittelbarer Zulieferer, die für die anwendungspflichtigen Unternehmen besonders schwer zu identifizieren und zu kontrollieren sind. Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz beinhaltet bereits diverse Ermessensspielräume, die auf eine solche Risikobasierung ausgerichtet sind. So wird darauf hingewiesen, dass die Implementierung der Lieferkettensorgfaltspflichten in „angemessene(r) Weise“ (vgl. § 3 Abs. 1 LkSG) zu erfolgen habe und dass eine Priorisierung der durch die anwendungspflichtigen Unternehmen im Rahmen der Risikoanalyse identifizierten Risiken (vgl. § 5 Abs. 2 LKSG) vorgenommen werden solle. Die Risikobasierung bildet folglich bereits einen wichtigen Aspekt der vorhandenen Regulierung.
Die risikoorientierte Verknüpfung des Beschwerdesystems mit anderen Lieferkettensorgfaltspflichten als Element der Systemverantwortung
Zur Abmilderung potenzieller negativer Auswirkungen der Lieferkettenregulierungen empfiehlt Kolev-Schaefer die Einführung risikobasierter Ansätze sowie eine gezielte Unterstützung von Unternehmen bei der Implementierung der Sorgfaltspflichten sowie strukturierter Verfahren zur Analyse von Lieferanten, wie beispielsweise die Einführung digitaler Transparenzplattformen wie Mapped in Bangladesh (Kolev-Schaefer 2024).
Eine solche Risikoorientierung ist durch den Gesetzgeber bereits vorgesehen und lässt sich exemplarisch an dem durch § 8 LkSG vorgesehenen Beschwerdesystem für die Lieferkette aufzeigen. So hebt das BAFA in einer Handreichung zur Einrichtung dieses Beschwerdesystems (BAFA 2022) hervor, dass dieses eng mit dem Risikomanagement und den sonstigen Sorgfaltspflichten verknüpft sein muss, um Risiken effektiv zu identifizieren und zu mitigieren (BAFA 2022: 5). So soll nicht nur das Wissen, das aus eingehenden Beschwerden gewonnen wird, in die Planung von Präventions- und Abhilfemaßnahmen einfließen und dokumentiert werden. Sondern es sollen insbesondere auch die Risikoanalyse und darauf aufbauend das gesamte Risikomanagement durch die neu gewonnenen Informationen von Beschwerdeführenden stetig weiterentwickelt und verbessert werden (ebd.). Diese Risikoorientierung des Beschwerdesystems wird auch bei der Gewährleistung der Zugänglichkeit (BAFA 2022: 12) berücksichtigt. Denn unter Berücksichtigung der Risikostruktur der Lieferkette des anwendungspflichtigen Unternehmens ist diese so zu gestalten, dass insbesondere potenziell betroffene Personen und Personengruppen, die mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit Barrieren bei der Abgabe von Meldungen konfrontiert sein könnten, möglichst problemlos auf das System zugreifen und ihre Meldung abgeben können. Solche Barrieren können beispielsweise in Sprachbarrieren (das System ist nicht in den für die Betroffenengruppen relevanten Sprachen zugänglich) oder mangelndem Vertrauen in das System, z. B. verursacht durch die Erwartung von eventuellen Repressalien, liegen (ebd.).
Die Ausgestaltung des Beschwerdesystems für die Lieferkette und dessen Risikoorientierung stellt ein Beispiel für die Umsetzung von Systemverantwortung dar, da Whistleblower und Beschwerdeführende oftmals neue und unvorhergesehene Informationen übermitteln (Langenberg/Vandekerckhove 2012) und somit die betreffenden Organisationen vor die Herausforderung stellen, ihr Risiko- und Compliancemanagement zügig an unerwartete neue Gegebenheiten anzupassen sowie neu offenbar werdenden Risiken effektiv zu begegnen. Durch die Anforderung der Verknüpfung mit dem Risikomanagement und der Schaffung von Zugänglichkeit beinhaltet die Implementierung solcher Beschwerdesysteme für die Lieferkette deshalb ein wichtiges Element der Systemverantwortung. Denn es ist, wie oben angesprochen, proaktiv darauf ausgerichtet, angesichts eines komplexen Verantwortungsobjekts wie der Lieferkette zukunftsorientierte Lösungen für die Verbesserung der Bedingungen sowie für die Abstellung von Missständen sicherzustellen.
Fazit
Systemische Maßnahmen zur Überwachung und Mitigierung der Risiken umweltbezogener und menschenrechtlicher Verstöße in der Lieferkette stellen einen Bestandteil der Systemverantwortung dar und bedürfen weiterer flächendeckender Konsolidierung und Optimierung, um eine angemessene Effektivität erzielen zu können. Das Beschwerdesystem für die Lieferkette zeigt anhand der erhöhten Anforderungen an die Ausrichtung auf die spezifischen Risiken innerhalb der Lieferkette von Unternehmen sowie an die Schaffung von Zugänglichkeit für potenziell betroffene Personen und Personengruppen, die bei der Nutzung des Beschwerdesystems mit Barrieren konfrontiert sein könnten, eine hohe Risikoorientierung auf. Auch die Ausrichtung auf unvorhergesehene und neue Informationen bei der Gestaltung des Beschwerdesystems trägt der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Lieferketten Rechnung und bildet einen wichtigen Bestandteil systemischer Maßnahmen zur Prävention und Behebung von relevanten Missständen.