Menschen erleben Macht und Ohnmacht in allen möglichen biographischen Kontexten – auch und gerade in der Kirche.
Macht: Überall und nirgends?
Dabei kann sich die Deutung einer konkreten Situation oder auch eines strukturellen Verhältnisses durchaus unterscheiden: Was die eine Person als Ohnmacht erlebt, muss nicht notwendig von der anderen als machtvoll verstanden werden. Und was die eine Partei gerade nicht als Machtausübung, sondern als wohlwollenden Dienst verstanden wissen will, kann von einer anderen dennoch als entmündigend erlebt werden. Dazu kommt, dass konkrete Machtverhältnisse immer in größeren Kontexten stehen und damit noch weiter an Eindeutigkeit verlieren. Bereits in der Vorstellungsrunde der Tagung zu Allmacht, Macht und Ohnmacht wurde dies von mehreren Personen beschrieben: „Natürlich habe ich als Lehrer:in / als Pfarrer Macht – aber ich bin auch eingebunden in Macht von oben und von unten.“
Wenn Macht also praktisch überall vorkommt, dabei aber häufig uneindeutig erlebt wird: Was lässt sich dann überhaupt allgemein über das Phänomen der Macht sagen? Welchen analytischen Mehrwert birgt die Kategorie der „Macht“ und welche Handlungsoptionen – sowohl individuell als auch strukturell – ergeben sich daraus, etwas als Macht bzw. machtvoll zu kennzeichnen? Lässt sich damit auch etwas über die Bewertung von Machtausübung und Machterleben sagen? Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, entwickeln wir im Folgenden einige Analysewerkzeuge. Unser Vorgehen ist dabei induktiv und geht von konkreten Machtmanifestationen, -erfahrungen und -strategien im Kontext des Synodalen Wegs aus. Dafür haben wir Beispiele ausgewählt, in denen Menschen über eigene Erfahrungen von Macht oder Ohnmacht sprechen. Ziel dabei ist es, einerseits zu verstehen, worin konkrete Macht im Einzelnen besteht, andererseits aber auch aufzuzeigen, welche Möglichkeiten zum Umgang sich daraus ergeben. Wenn Macht ein Element der sozialen Interaktion ist, kann es nicht darum gehen, sie abzuschaffen oder auszublenden. Vielmehr muss die Aufgabe lauten, Macht in legitimer Weise auszuüben. Die ethische Reflexion kann dafür Kriterien und Orientierungen anbieten.
(Selbst-)Ermächtigung durch Erzählen
Im Bereich der katholischen Kirche wurden Fragen der Macht und Ohnmacht prominent im Rahmen des Synodalen Weges behandelt. Insofern verwundert es kaum, dass sich gerade in dessen Umfeld viele Beispiele für die Beschreibungen individueller Macht- und Ohnmachtserfahrungen finden lassen. Nicht nur aus den erarbeiteten und beschlossenen Texten lässt sich einiges über Macht lernen, sondern auch anhand von einzelnen Situationen und Erlebnissen, die scheinbar nur am Rande stattfinden.
Die ausgewählten Beispiele sind Situationen, in denen sich Personen öffentlich äußern. Damit geht es nicht mehr nur um das eigene Erfahren von Macht bzw. Ohnmacht, sondern auch um den Prozess ihrer Vermittlung. Was individuell als Ohnmacht erlebt wird, ist uns zunächst nur auf dem Weg der Erzählung zugänglich. Was die jeweiligen Personen über das Erzählte hinaus erlebt haben und wie sie das Erlebte interpretieren, wissen wir nicht.
Bei diesem Öffentlich-Machen handelt es sich selbst um einen machttheoretisch relevanten Akt, bei dem die sprechende Person eine Deutung vornimmt. Von eigener Ohnmacht zu sprechen, führt damit aus der Passivität heraus in eine aktive Gestaltung der Situation. Durch den Wechsel der situativen Umgebung verändern sich die Rahmenbedingungen und das Öffentlichmachen ermöglicht Reaktionen. Gleichzeitig ist bereits der Prozess, ein bestimmtes Geschehen als Ohnmacht zu verstehen, kein rein individueller Akt, sondern geschieht eingebunden in soziale Bezüge. Bei der Deutung einer Situation greifen wir nämlich zurück auf hermeneutische Ressourcen, etwa auf geteilte Begriffe und Vorstellungen, auf Bilder und Narrationen. Das wird besonders deutlich etwa in einer Erfahrung von Johanna Beck, die sie in ihrem Buch Mach neu, was dich kaputt macht beschreibt: „Ich glaubte, dass ich in meinem Fall gar nicht das Recht hatte, von Missbrauch zu sprechen, da es sich ja ‘nur’ um sexualisierte Übergriffe sowie um verbale Grenzverletzungen und nicht um Vergewaltigung gehandelt hat. Somit war mir viel zu lange nicht bewusst, dass all meine negativen Gefühle und mein Verletztsein ihre Berechtigung hatten.“ (Beck 2022, 45.) Erst viele Jahre nach ihren radikalen Ohnmachtserfahrungen konnte sie das, was ihr passiert ist, als sexuellen Missbrauch verstehen. Ausschlaggebend war in ihrem Fall die MHG-Studie sowie der Bericht der Grand Jury of Pennsylvania zu sexuellem Missbrauch in sechs US-amerikanischen Diözesen im Bundesstaat Pennsylvania, der wenige Wochen zuvor veröffentlicht worden war. „Nun wird mir vollends bewusst, dass es sich auch in meinem Fall um sexuellen Missbrauch gehandelt hat. Auf diese Weise habe ich endlich einen Schlüssel in der Hand, mit dem ich sowohl meine negativen Erfahrungen als auch die Folgeerscheinungen entschlüsseln und erklären kann.“ (Beck 2022, 46.) Wenngleich sich ihre Erfahrung durch das ‚Label‘ nicht verändert, ermöglicht ihr dieser Begriff einen anderen Zugriff darauf.
Solche hermeneutischen Ressourcen werden in gesellschaftlichen Prozessen geformt und weitergegeben. Menschen verfügen deshalb über unterschiedliche Ressourcen, die sie mehr oder weniger sprachfähig machen. Insbesondere marginalisierte Gruppen kämpfen immer wieder damit, dass sie Unrecht gar nicht als solches benennen oder vielleicht sogar überhaupt erst verstehen können. Die amerikanische Philosophin Miranda Fricker bezeichnet das als hermeneutische Ungerechtigkeit. (Vgl. Fricker 2023.)
Das kann bereits grundsätzlich erklären, weshalb Sprache und das Bezeichnen von Ohnmachtserfahrungen wichtig sind. In den meisten Fällen steckt hinter der Artikulation aber auch der Wunsch nach einer Resonanz. Für jeden Austausch zwischen Menschen ist Glaubwürdigkeit ein zentraler Faktor. Dabei geschieht es immer wieder, dass bestimmten Personen ungerechtfertigterweise zu viel oder zu wenig Glaubwürdigkeit zugestanden wird. Bestimmte Gruppen haben jedoch aufgrund identitätsbezogener Vorurteile mit einem strukturellen Defizit an Glaubwürdigkeit zu kämpfen. Obwohl sie möglicherweise hinsichtlich einer bestimmten Frage bedeutsames Wissen besitzen, wird ihnen nicht geglaubt. Fricker spricht hier von Zeugnisungerechtigkeit. Der Umgang mit Betroffenen und Überlebenden von sexualisierter Gewalt ist ein trauriges Beispiel für die Bedeutung dieser beiden Formen epistemischer Ungerechtigkeit.
Resonanz als Anerkennung
In aller Regel ist die erste Resonanz, die sich Menschen erhoffen, wenn sie von erlebter Ohnmacht sprechen, eine grundsätzliche Anerkennung. Die Anerkennung des Erzählten und die Anerkennung der erzählenden Person gehen dabei Hand in Hand: Denn indem der Inhalt der Erzählung geglaubt wird, wird eo ipso die erzählende Person als glaubwürdiges Wissenssubjekt anerkannt. Insbesondere dann, wenn die erlebte Ohnmacht mit einer existenziellen Vulnerabilität verbunden ist, ist die individuelle Anerkennung eine zentrale Voraussetzung für viele weitere Prozesse. Wenn Johanna Beck beschreibt, dass sie bei ihrer Zeuginnenaussage im Rahmen ‚ihres‘ kirchenrechtlichen Verfahrens gegen eine „Wand des Zweifels“ (Beck 2022, 78) angeredet hat, dann fehlte dort genau diese Anerkennung.
Während sich diese Art der Anerkennung auf das konkrete Geschehen und die einzelne Person bezieht, ist jedoch gerade in Debatten rund um den Synodalen Weg noch eine andere Form der Anerkennung wichtig. Einige Mitglieder der Synodalversammlung kritisierten, dass sowohl in den Diskussionen als auch den ersten Textvorschlägen eine theologische Fachsprache vorherrsche. Dadurch wurden viele Mitglieder der Synodalversammlung in ihren Möglichkeiten zur Teilhabe an der Diskussion beschränkt. So auch Katharina Ges-
kes, eine der 15 Mitglieder des Synodalen Wegs unter 30 Jahren. Sie selbst war zu diesem Zeitpunkt 21 Jahre alt und studierte Soziale Arbeit. In einem Interview mit katholisch.de wird sie nach ihrem Umgang mit der Textarbeit in den Foren gefragt. Daraufhin räumt sie zunächst ein, dass für eine weltkirchliche Rezeption der Ergebnisse sicherlich wichtig sei, die Beschlusstexte auf einem entsprechend hohen theologischen Niveau zu verfassen. Allerdings „wäre [es] wichtig, die Diskussionen des Synodalen Wegs in einer verständlichen Sprache zu führen, damit alle mitreden können. In der Gesprächskultur des Prozesses fällt mir nämlich schon auf, dass sich hauptsächlich die TheologInnen und Geistliche zu Wort melden können, weil sie sich mit den Begriffen auskennen. Sprache drückt auf eine gewisse Art und Weise Macht aus und gerade, wenn es beim Synodalen Weg ein Forum zu diesem Thema gibt, sollte man bei den Beratungen darauf achten, dass man so wenig Macht wie möglich ausübt. Nur so können alle Menschen daran teilhaben.“ (Geskes 2021a.) Einige Monate später wird im Rahmen einer Synodalversammlung schließlich in erster Lesung über einige erste Texte abgestimmt. Die Vorlagen werden wenige Wochen vor der Versammlung veröffentlicht und können von allen Mitgliedern der Synodalversammlung kommentiert werden. In einem erneuten Interview mit katholisch.de wird Katharina Geskes danach gefragt, wie sie sich auf die Versammlung vorbereitet habe. Sie sagt: „Ich fand es ehrlich gesagt ziemlich schwierig, mich inhaltlich darauf vorzubereiten. Es war mir nicht möglich, alle Texte, die eingereicht wurden, zu lesen. Es waren sehr viele und sehr lange Texte und der Synodale Weg ist nicht mein Hauptberuf. Ich war im Praxissemester, habe nebenbei gearbeitet und einen Umzug gestemmt. Daher konnte ich die Texte nur überfliegen und ich habe auf die Expertise von vielen Menschen gehofft und mich mit anderen ausgetauscht und Expertisen eingeholt.“ Auch nachdem sie nach den Kommentierungen gefragt wird, bei denen von den 15 Personen unter 30 Jahren lediglich fünf Personen „Anträge eingereicht“ hätten, sagt sie: „Gerade bei den Kommentierungen hatte ich nicht die Zeit und nicht die Muße dazu, mitzukommentieren. Und ich glaube, das ging vielen anderen auch so. Das liegt nicht daran, dass wir nicht willig gewesen wären, sondern einfach daran, dass das quasi unsere Freizeit ist, die wir hier gerade hergeben und im normalen Alltag nicht so viel Zeit dafür ist.“ (Geskes 2021b.)
Beide Beispiele illustrieren den Zugang zu Ressourcen: In einem Fall die sprachlichen und habituellen Fertigkeiten, die die Teilnahme an Fachdiskussionen im Synodalen Weg erleichterten, im anderen Fall um zeitliche Kapazitäten, die großen Mengen an Text qualifiziert lesen und verarbeiten zu können. Wenn Katharina Geskes kritisiert, dass damit bestimmte Hürden und Ausschlussmechanismen zum Tragen kommen, dann führt das vor Augen, dass große Gruppen sich weit weniger beteiligen konnten als die Gruppe, die die theologische Fachsprache beherrscht und im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit auch die Zeit zur Befassung mit den Themen hatte: „Nur so können alle mitreden.“ Geskes Aussagen in den Interviews machen diese Hürden sichtbar, indem sie sie offen ansprechen. Die Strukturen, die die Teilhabe einer Gruppe verhindern, werden als machtvoll erlebt. Wenn der Zugang zu bestimmten Ressourcen Hürde zur Teilhabe an einem Diskurs wird, gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, dies zu verändern: Entweder indem die entsprechenden Ressourcen anders verteilt werden oder indem die Hürden abgebaut oder vermieden werden. Die Benennung der eigenen Ohnmacht zielt also darauf ab, eine Gegenmacht zu erzeugen oder die angeprangerte Macht zu begrenzen.
Macht durch Teilhabe
Dass die Teilnahme an den Diskussionen im Synodalen Weg in machttheoretischer Hinsicht relevant ist, wird noch an einem anderen Beispiel deutlich. Julia Knop, ebenfalls Synodalin und Professorin für Dogmatik in Erfurt, sprach in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger davon, dass „der Synodale Weg [.] das Prinzip der Partizipation in der Kirche quasi umgekehrt“ habe. „Es geht natürlich um Partizipation der Gläubigen an der Kirchenleitung – aber auch darum, dass die Bischöfe an den theologischen Debatten partizipieren, dass sie argumentieren müssen und nicht mehr nur dekretieren können.“ Joachim Frank, der das Interview führte, fragte weiter: „Ist das wirklich so? Die zentralen Beschlussvorlagen mussten vor der Abstimmung abgeschwächt werden, sonst – so die Drohung – wären sie an der bischöflichen Sperrminorität gescheitert. Nennen Sie das Partizipation?“, woraufhin Julia Knop antwortete: „Nein, das ist Blockade. Aber schauen Sie sich die Redelisten der letzten Synodalversammlung im Vergleich zur ersten an! Da hat eine Entwicklung stattgefunden: Viele Bischöfe traten raus aus der Anonymität, raus aus dem beredten Schweigen der Macht, und haben sich öffentlich zu den Reformvorhaben positioniert. Im weltlichen Kontext ist das lächerlich wenig, ich weiß. Aber in der Kirche ist das schon eine Menge.“ (Knop 2023.) Julia Knops Argument lautet also, dass es dem Synodalen Weg – wenigstens in einem begrenzten Rahmen – gelungen war, die Arena der Macht und damit ihre Spielregeln zu verschieben. Wenngleich die Diözesanbischöfe nach wie vor als Gesetzgeber in der Lage sind, gültige Dekrete zu erlassen, war diese Ressource der Macht nun nicht mehr die einzig entscheidende. Daneben trat nun das theologische Argument, das allerdings nicht von Amts wegen ausschließlich einer bestimmten Gruppe innerhalb der Synodalversammlung zukommen kann, sondern einer anderen Verteilungslogik folgt. (Vgl. Dietz 2022.) Freilich bedeutet das wiederum andere Ausschlüsse und Hürden, wie Katharina Geskes Beispiel deutlich macht.
Bedeutung des Settings
Was dem Synodalen Weg in kollektiver Weise gelungen ist, lässt sich jedoch auch in individuellen Situationen ausmachen. Hier lohnt sich ein genauerer Blick auf die Auseinandersetzung zwischen der Synodalin Viola Kohlberger und Rainer Maria Woelki. Während einer Synodalversammlung im September 2021 gab es eine Aussprache zur allgemeinen Situation. Dies fand statt kurz nachdem Rainer Maria Woelkis erster Rücktritt als Erzbischof von Köln abgelehnt worden war. In Reaktion darauf hat die Synodalin Viola Kohlberger auf Facebook gepostet, dass sie nicht wisse, wie sie während der bevorstehenden Versammlung Rainer Maria Woelki und den anderen in diesem Fall betroffenen Bischöfen gegenübertreten sollte. In der entsprechenden Aussprache während der Versammlung nahm sie in einer Wortmeldung Bezug auf diesen Post. Am nächsten Tag wurde sie in der Mittagspause auf dem Weg zur Toilette von Woelki angesprochen.
Einige Tage später veröffentlichte sie ein Video auf Instagram, in welchem sie ihre Erfahrung schilderte und als Machtmissbrauch deutete. Sichtlich angegriffen schildert sie ihre Eindrücke: „Und dann, einen Tag später ziemlich genau war es gegen Ende der Mittagspause und ich dachte jetzt gehe ich nochmal kurz auf Toilette, und die Wege waren richtig weit, und bin dann auf dem Flur als quasi schon die allermeisten Menschen wieder im Saal waren, bin ich abgefangen worden von Rainer Maria Woelki, dem Erzbischof von Köln. Und er hat mich angesprochen und hat gesagt, Sie waren doch das, die gestern diesen Post zitiert hat. Und ich hab gesagt, ja, das bin ich, das war ich. Und daraufhin kam es zu einer etwa fünfminütigen Unterhaltung, es hat sich wesentlich länger angefühlt, die aber vor allem daraus bestand, dass er meinte, dass ich komplett emotional handle, dass ich ihm nichts vorwerfen könne, weil er alles richtig macht, dass das mehrere Gutachten und sogar der Heilige Vater in Rom bestätigt hätten, dass er keine Fehler gemacht hat. […] Im Nachhinein würde ich sagen, das war so ein wirkliches verbales Umsichschlagen. […] Und in dieser Zeit stand er total nah vor mir. Also eigentlich war es viel zu nah, mir war das zu dem Zeitpunkt aber einfach nur krass unangenehm und ich konnte aber nicht so genau das benennen. Und dazu ist er ja auch noch größer als ich und hat so auf mich herabgeschaut und hat so mit der gesamten Autorität seines erzbischöflichen Daseins gesprochen und mich immens unter Druck gesetzt. Ich bin sehr stolz auf mich, dass ich immerhin noch gesagt habe, dass ich der Meinung bin, dass er Verantwortung übernehmen müsse, dass er Verantwortung für das System übernehmen müsse und dass ich der Meinung wäre, dass er als Erzbischof zurücktreten solle. Denn das glaube ich wirklich. Und das kann ich jetzt auch ganz gut so sagen, nachdem ich ihm das auch ins Gesicht gesagt hab. Das Gespräch endete dann ziemlich abrupt, weil er gemeint hat, er müsse jetzt wieder in die Versammlung, und ich so: Ja – ich auch.“ (Kohlberger 2021.)
Wiederum ein paar Tage später entschuldigt sich Rainer Maria Woelki in einem Facebookpost, in welchem er zunächst erklärt, den Synodalen Weg als Ort des offenen Diskurses zu verstehen, sodass er auch Viola Kohlbergers Kritik im Rahmen eines persönlichen Gesprächs adressieren wollte. „Im Verlauf dieses persönlichen Gesprächs ist bei Frau Kohlberger offenbar der Eindruck entstanden, dass ich auf Ihre Person Druck ausüben wollte. Nichts lag mir ferner und das tut mir leid. Ich möchte mich dafür ausdrücklich entschuldigen.“ (Woelki 2021.)
Viola Kohlberger hat die Konfrontation am Rande des Synodalen Wegs als Ohnmachtserfahrung gedeutet. Das wird an mehreren Aspekten ihrer Beschreibung der Situation deutlich: Sie nennt die räumliche Konstellation, die Nähe, der Unterschied in der Körpergröße, dazu kommen noch Rollenzuschreibungen und die Gelegenheit, die sie als „abfangen“ umschreibt. Indem sie das aber auf ihrem Instagram-Account erzählt, wechselt sie die Arena der Macht. Hier wird sehr schnell deutlich, dass das Setting wesentlich mitbestimmt, welche Formen der Machtausübung wirksam werden können. Denn weder Körpergröße, noch die Nähe oder Distanz existieren auf Instagram. Und indem sie die Hauptadressat:innen wechselt, sind auch die Zuschreibungen von Rollen und Glaubwürdigkeit – hier die junge Frau, dort der Erzbischof – völlig anders wirksam. Kohlberger erfährt große mediale Resonanz und dabei auch ein großes Maß an Sympathie. Die veränderte Arena verändert auch hier Mittel und Wirkung von Macht.
Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Je nachdem, in welchem Setting man sich befindet, kann sich Macht aus unterschiedlichen Quellen speisen. Allein im Rahmen der genannten Beispiele lassen sich mit dieser Perspektive bereits zahlreiche Formen von Machtgefällen identifizieren: Geschlecht, Identitäts- und Rollenzuweisung (z. B. der kirchliche Stand), Wissen bzw. Sprachfähigkeit, Sichtbarkeit und Repräsentanz, die Kontrolle über die Gestaltung des Settings und schließlich die Macht, die in der Kooperation, der Kollektivierung und Solidarisierung liegt.
All diese Ressourcen stehen unterschiedlichen Personen in unterschiedlichen Maßen zur Verfügung. Zweierlei Konsequenzen lassen sich daraus ziehen: Zuerst positiv gewendet: Möchte man ein bestimmtes Ziel erreichen, ist die Erfolgswahrscheinlichkeit stark davon abhängig, welche Machtressourcen zur Verfügung stehen und in welchem Rahmen das Ziel verfolgt werden kann. Indem man sich dieser Einflussfaktoren bewusst wird, vergrößert sich der Handlungsspielraum deutlich: Was möchte ich in welchem Kontext erreichen? Welche Ressourcen kann ich dafür in Anspruch nehmen? Schließlich kann man sich gezielt solche Settings suchen, in denen möglichst gute Erfolgsaussichten bestehen, weil genau die tatsächlich vorhandenen Ressourcen dort einschlägig sind.
Ethische Legitimation und Begrenzung von Macht
Anders gewendet bedeutet diese Einsicht aber auch, dass sich verschiedenen Formen von Machtgefälle nicht nur im Modus des gegenseitigen Ausgleichs überlagern können, sondern auch als gegenseitige Verstärkung. Man spricht hier von Intersektionalität: Verschiedene Formen der strukturellen Benachteiligung überlappen sich. Eine Frau ist eben immer auch gleichzeitig Lai:in und hat möglicherweise auch keinen theologischen Abschluss. In der Allgemeingesellschaft treten dazu noch viele weitere Marker: Staatsangehörigkeit, Migrationserfahrung oder -hintergrund, Sprachkenntnisse, Krankheitszustand, Hautfarbe, Religionszugehörigkeit und viele mehr.
Es ist mitunter also gar nicht möglich, die Arena zu wechseln, weil die Rahmenbedingungen dazu fehlen. Der Blick auf individuelle Strategien, wie er oben erfolgt ist, kann also immer nur ein Baustein sein, mit Machtgefällen umzugehen. Er entbindet jedoch nicht von der Frage, wie sich Macht überhaupt begrenzen und legitimieren lässt. Macht an sich ist zwar ethisch neutral, in jeder konkreten Situation zeitigt sie aber ethisch überaus relevante Wirkungen. Sie kann die Rechte von Personen ebenso schützen wie sie sie verletzen kann, kann Gerechtigkeit (wieder-)herstellen oder Unrechtserfahrungen verursachen. Die Frage danach, wie Macht strukturiert werden soll, ist also eng verbunden mit der sehr grundlegenden Frage, wie wir miteinander leben wollen.
Dabei ist zunächst wichtig, festzuhalten, dass es kein Leben außerhalb von Macht gibt. Jedes realistische Verständnis von Freiheit muss ernstnehmen, dass menschliches Leben in Beziehungen und damit in sozialen Bezügen stattfindet. Jede Freiheit ist damit auch eine bedingte Freiheit, weil sie nur in Relation zu anderen Personen und Strukturen verwirklicht werden kann. Die Fähigkeit, selbstbestimmt handeln zu können, ist gleichzeitig im Sinne einer „vulnerable agency“ (Haker 2019), davon abhängig, dass diese Selbstbestimmtheit verletzt werden kann. Für den Soziologen und Machttheoretiker Heinrich Popitz trifft das den Kern menschlichen Seins: „Wir leben in einer verletzbaren Existenz, angewiesen auf Artefakte, zukunftsbezogen und begründungsbedürftig in unserem Handeln. Daher müssen wir Macht erleiden.“ (Popitz 2009, 33.)
Ausgehend von diesen zunächst rein deskriptiven Befunden gilt es nun also, normativ danach zu fragen, wo Macht auf welche Weise wirken sollte und wo bzw. wie nicht. Wir möchten im Folgenden einige Vorschläge unterbreiten, was dies im Raum von Kirche bedeuten kann. Das Ziel dabei ist, eine im umfassenden Sinn gerechte und befreiende kirchliche Praxis zu etablieren.
In einem ersten Schritt gilt es, missbräuchliche Denkstrukturen, Mentalitäten und Geisteshaltungen aufzudecken. Mit anderen Worten geht es darum, die hermeneutischen Ressourcen der Kirche machtkritisch danach zu befragen, wo sie zu Teilhabe und Empowerment beitragen und wo sie im Gegenteil verletzende und marginalisierende Aspekte beinhalten. Das gilt sowohl für Aussagen des kirchlichen Lehramts als auch für den alltäglichen Umgang in kirchlichen Gemeinden und Gruppierungen. Die aktuelle theologische Forschung nimmt sich dieser Aufgabe in vielen Bereichen an. Auch die analytischen Teile dieses Beitrags können als ein Baustein dazu verstanden werden. Gelingt es, die Ergebnisse dieser Forschung in die Praxis zu überführen, sodass sich tatsächliche Gewohnheiten im Denken, Sprechen und Handeln verändern, ist eine wesentliche Voraussetzung für gelingendes Miteinander geschaffen.
Darüber hinaus muss sich jedoch die Qualität des Umgangs ebenso verändern. In gewisser Weise muss das bereits im Begriff des Synodalen Wegs anklingende Programm eines Miteinanders umgesetzt werden. Das meint jedoch nicht einfach, die konkrete Struktur des Synodalen Wegs zu verstetigen – auch dieser hatte sicherlich einige Defizite. Wesentlich wäre vielmehr eine tatsächliche Wahrnehmung aller Stimmen. Denn nur der Einbezug möglichst vieler Perspektiven kann zu einem ernstgemeinten Miteinander im Handeln führen.
Schließlich müssen Strukturen durchgehend so gestaltet werden, dass die eigene Machtförmigkeit stetig kritisch reflektiert und nötigenfalls angepasst wird. Das bedeutet einerseits ganz grundsätzlich, Kritik überhaupt auszuhalten und produktiv aufzugreifen. In einem weiteren Sinn folgt daraus jedoch auch, dass Personen bestmöglich in die Lage versetzt werden müssen, um die Strukturen konstruktiv-kritisch zu begleiten. Das bedeutet beispielsweise umfangreiche Angebote zur theologischen Bildung – nicht nur in Form von Katechesen, sondern auch mit einem spezifischen Fokus auf die Befähigung zur kritischen Reflexion der Machtstrukturen und der eigenen Position darin.
Die moralischen Ansprüche sind dabei an die Kirche besonders hoch. Angesichts ihrer Sendung ist das jedoch nur konsequent. Denn ein wirksames Zeichen und Werkzeug des Heils kann sie nur dann sein, wenn sie im Rahmen des Menschlichen – und damit eben auch hinsichtlich der Macht – alles ihr mögliche tut, um gerecht und befreiend zu sein.