Nearshoring, Reshoring, Friendshoring, De-Risking als Resilienz-Strategien?

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Die Freihandelsidee hat traditionell einen schweren Stand. Derzeit sieht sie sich – vor allem seitens westlicher Länder – mit lauter werdenden Forderungen nach vermehrtem Friendshoring (= privilegierten Handelsbeziehungen mit „befreundeten“ Ländern) neuem Gegenwind ausgesetzt. Bereits seit der Weltfinanzkrise 2008 kommt es in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen zu einem Ausmaß an Fragmentierung und Blockbildung wie seit der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr. Dabei wäre es falsch, die Zeit vor 2008 als frei von Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Handelspartnern zu feiern. Die Regeln der Welthandelsordnung, verankert zunächst im GATT (Zoll- und Handelsabkommen, englisch General Agreement on Tariffs and Trade) und später erweitert um den Handel mit Dienstleistungen und den Schutz geistigen Eigentums in der WTO (Welthandelsorganisation, englisch World Trade Organization), sahen durchaus Ausnahmen vom Prinzip der Meistbegünstigung vor, demzufolge bei einer Marktöffnung alle Partner von ihr profitieren sollten. Entwicklungsländer konnten sich mit Hinweis auf ihren Entwicklungsstand und eine ökonomisch strittige Auslegung des Erziehungszollarguments von Verpflichtungen zur Marktöffnung befreien und bevorzugten Zugang zu den Industrieländermärkten verlangen. Auch alle übrigen Länder konnten sogenannte Freihandelszonen, Zollunionen und Gemeinsame Märkte gründen, die den strengen Ausnahmebestimmungen der Welthandelsordnung keineswegs entsprachen, weil der Schutz vor Nichtmitgliedern politischen Vorrang vor dem Freihandel innerhalb der Gemeinschaften erhielt. In der Folge wurden bei der WTO Hunderte von Gemeinschaften angemeldet, und keine, auch nicht die EU, erhielt jemals das uneingeschränkte Siegel der Vereinbarkeit mit dem Ausnahmeartikel 24 des GATT. Die Ausnahme verfiel zur Regel.

Durchlöchert wurde die Regeldisziplin aber nicht allein durch regionale Gemeinschaften, sondern auch durch Sonderbehandlung von Sektoren wie Landwirtschaft, Eisen und Stahl oder Textil und Bekleidung. Dahinter standen Lobbygruppen, die Rent Seeking zu ihrem Geschäftsmodell machten und immer wieder auf offene Ohren von Regierungen stießen, was staatseigenen Unternehmen besonders gut gelingt. Daran hat sich bis heute nichts geändert, während umgekehrt Privatpersonen oder Unternehmen ihre Interessen auf ungehinderten Zugang zu den wettbewerbsfähigsten Beschaffungsmärkten nicht einklagen können. Konsumenteninteressen rangieren immer weit hinter Produzenteninteressen, was viel damit zu tun hat, dass sich kleine Gruppen besser organisieren lassen als große – den schwersten Stand hat dabei traditionell das Gemeinwohl. Dass damit auch steigende Einkommensungleichheit in Kauf genommen wird, weil Protektionismus immer die Einkommen der Ärmeren mehr als die der einkommensstarken Haushalte mindert, findet in der Öffentlichkeit keinen Widerhall.

All das ist nicht neu. Neu ist, dass Regierungen seit einigen Jahren damit begonnen haben, die Welt in Wertegemeinschaften aufzuteilen, in sogenannte Freunde und Nicht-Freunde, und private Unternehmen anleiten, diese Aufteilung bei ihren Entscheidungen zu berücksichtigen. Vor dem Hintergrund der europäischen Erdgaskrise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und zunehmenden Spannungen im amerikanisch-chinesischen Verhältnis leuchtet ein solcher Rückzug ans wärmende Lagerfeuer der westlich geprägten Demokratien auch hierzulande vielen intuitiv ein. Intuition kann indes trügen, denn die Ziele dieser neuesten Beschränkung des freien Welthandels (mehr Resilienz, weniger Erpressbarkeit) sind keineswegs sicher und können mitunter mit erheblichen Wohlstandseinbußen erkauft sein.

 

Handel mit „Freunden“: Was soll das sein?

Henry Kissinger wird der Satz nachgesagt: „America has no permanent friends or enemies, only interests.“ Was häufig als wertefreie machiavellistische Realpolitik kritisiert wird, ist richtig. Personen schließen Freundschaften, Staaten schließen über ihre Regierungen Bündnisse auf Zeit, die ihren Interessen dienen. Auch Unternehmen schließen mit anderen Unternehmen – unabhängig von Landesgrenzen – Verträge auf Zeit über Käufe und Verkäufe und orientieren sich dabei an unternehmerischen Zielen wie dem Aufbau von stabilen Lieferketten – binnenwirtschaftlich wie grenzüberschreitend. Abhängigkeiten innerhalb von Lieferketten gelten national wie international. Optionsgeschäfte an Terminmärkten können dabei helfen, sich gegen plötzliche Preisanstiege oder -stürze als Folge des Ausfalls von Lieferanten zu versichern, indem sie einen Teil der Risiken von Preisvolatilitäten als Versicherungspartner übernehmen. Gegen Unsicherheiten, für die es im Gegensatz zu Risiken keine Eintrittswahrscheinlichkeiten gibt, helfen auch sie nicht. Sie sind Teil der individuell und über Kapitalmärkte bewerteten unternehmerischen Wagnisse.

Unternehmen, bei denen private Investoren in der Haftung stehen, muss die Politik bei der Risikobewertung ihrer Geschäftsmodelle nicht zum Jagen tragen. Sie sind sich ihrer zentralen unternehmerischen Aufgabe bewusst, die Chancen und Risiken aus grenzüberschreitenden Lieferketten mit sorgfältiger Partnerwahl und Diversifikation von Absatz- und Beschaffungsquellen immer wieder neu auszutarieren. So zeigen die ifo Konjunkturumfragen, wie sich die Unternehmen in Reaktion auf den Lieferkettenstress als Folge der Pandemie und geopolitischer Spannungen neu orientieren.

Anhänger wertegeleiteten Handels argumentieren nun, dass der Handel mit Unternehmen aus Ländern, die in Werten wie Demokratie, Gewaltenteilung und Marktwirtschaft mit einem Land wie Deutschland übereinstimmen, das Risiko von Lieferkettenstress mindert. Dieses Argument ist zu hinterfragen. Es unterstellt, dass kollektive und individuelle Rationalität auseinanderklaffen, der Staat also besser und weiter in die Zukunft schauen könne als Unternehmen und sowohl die Interessen von Konsumenten und Produzenten wahrnehme, während Unternehmen nur Produzenteninteressen verfolgten und die Konsumenten die Folgen ihres Konsums unzureichend einschätzten. Es wird also unterstellt, dass Friendshoring notwendig sei, um Marktversagen infolge externer Effekte zu verhindern. Marktversagen ist indes leichter behauptet als belegt. So auch hier.

Sowohl die empirische Evidenz als auch die legislativen Beschränkungen, denen die Regierungen in Demokratien durch den Wahlrhythmus weniger Jahre ausgesetzt sind und die das Verhalten von Regierungen prägen, sprechen gegen diese Diskrepanz zwischen kollektiver und individueller Rationalität mit Blick auf verzerrte Zeithorizonte. Sie stützen vielmehr die These, dass Regierungen kurzsichtiger agieren als Unternehmen. Die jüngste empirische Evidenz ist die Abhängigkeit, in die sich die deutsche Politik durch das Setzen auf einen wichtigen Gaslieferanten, Russland, und die Förderung der entsprechenden Infrastruktur (Northstream 1 und 2) brachte. Die politischen Risiken wurden entweder verkannt oder ignoriert. Die legislativen Beschränkungen und das Ziel, wiedergewählt zu werden, sprechen auch dagegen, dass Regierungen eine niedrigere Zeitpräferenz haben als Unternehmen.

Unter dem Eindruck einer akuten Krise neigt die Öffentlichkeit – und mit ihr die Regierungen – dazu, einen Tunnelblick zu entwickeln und dabei ein abgeklärtes Abwägen zwischen Krisenschärfe und Krisenhäufigkeit zu vernachlässigen. Stattdessen werden in solchen Phasen Forderungen laut, dass sich die aktuelle Krise künftig niemals wiederholen darf. Ein solches Vorgehen ist indes nicht rational und zeugt insbesondere nicht von einer überlegenen langfristigen Zielorientierung. Denn es kann in langfristiger Betrachtung sinnvoll sein, seltene Krisen als notwendige Marktbereinigung zu akzeptieren, wenn deren Eintritt weniger Wohlstand kostet (z. B. Produktionsausfall durch gestörte Lieferketten) als die Vorbeugungsmaßnahmen (entgangene Spezialisierungsgewinne) in den vielen krisenfreien Jahren. Unternehmen dürften hier beim Abwägen zwischen Gewinnchancen und Geschäftsrisiken insgesamt abgeklärter agieren. Leichtfertig werden sie mit der Frage indes nicht umgehen, schließlich ist der Zugang zu Beschaffungs- und Absatzmärkten für sie existenziell.

Generell sinken Zeitpräferenzen mit steigendem Wohlstand. Konsumenten wie Produzenten in reifen, alternden Industrieländern haben eine niedrigere Zeitpräferenz als ärmere Entwicklungsländer im Aufholprozess, weil sie zeitlich entferntere Entwicklungen stärker in ihrer Nutzenfunktion berücksichtigen, als dies in ärmeren Ländern der Fall ist. Daher besteht ein elementares Eigeninteresse von Unternehmen in ärmeren Ländern, sich in die Lieferketten etablierter Unternehmen aus Industrieländern zu integrieren, Skalenvorteile und Technologievorsprünge zu nutzen und knappes Kapital so effizient wie möglich einzusetzen. Das setzt voraus, dass sie aus der Sicht der Unternehmen in Industrieländern zu vertrauenswürdigen Lieferanten avancieren. Der Aufbau von Vertrauenskapital ist also ein wichtiges Unternehmensziel in Unternehmen in ärmeren Ländern, wenn sie sich auf den Weltmärkten etablieren wollen. Daran werden sie auch nicht von ihren häufig autokratisch agierenden Regierungen gehindert. Im Gegenteil, Export­erfolge stärken das Wohlstandsniveau in aufholenden Ländern und stützen die Machtbasis ihrer Regierungen, wie das Nachkriegsbeispiel Südkoreas nach dem Zweiten Weltkrieg und das Beispiel Chinas nach der Öffnung zum Weltmarkt Ende der Siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts eindrucksvoll gezeigt haben. Viele asiatische Länder folgten diesem Weg. Dagegen konnten Länder, vor allem in Lateinamerika, die sich der Importsubstitutionsstrategie verschrieben, ihr früheres Wohlstandsniveau nicht halten und sahen sich permanent politischen Krisen ausgesetzt. Argentinien steht beispielhaft für diesen Niedergang und ist beileibe nicht der einzige Beleg.

Wichtig ist, dass nicht wenige, sondern viele autokratisch regierte Länder der Weltmarktorientierung hohe Bedeutung zuwiesen und damit die Wettbewerbsintensität auf den Markt für zunächst standardisierte, arbeitsintensiv erzeugte Produkte später auch für hochwertigere Produkte erheblich erhöhten: zum Nutzen von Produzenten und Konsumenten in Industriestaaten. Auch haben sich damit die Wahlmöglichkeiten für Unternehmen in Industrieländern erhöht und die Abhängigkeiten von wenigen Ländern reduziert. Im Bereich der Industriegüter ist dies spürbarer als im Rohstoffbereich. Das Argument pro Friendshoring ist zumindest im Industriegüterbereich nicht überzeugend. Selbst der Hinweis auf ein mögliches Risiko mit China als wichtigstem Beschaffungsmarkt hält der empirischen Evidenz nicht stand. Als die Pandemie ausbrach, wurde China in kürzester Zeit zu einem sicheren Lieferanten von qualitativ guten Produkten wie Masken und sogar Selbsttests, für die es in China selbst keinen Markt gab, weil China auf PCR-Tests setzte. China konnte daher bei Selbsttestprodukten nicht auf die Erfahrungen eines etablierten Binnenmarktes zurückgreifen, schaffte in kürzester Zeit einen Kaltstart und befreite die deutsche Versorgungslage aus einem Engpass. Das kommerzielle Eigeninteresse von chinesischen Unternehmen, die schwache Binnennachfrage, ausreichende Produktionskapazitäten und der Wettbewerbsdruck anderer potenzieller Lieferländer waren gute Bremsen gegen eine mögliche Versuchung chinesischer Unternehmen, den Engpass für sich auszunutzen. Eine „Abhängigkeitsphobie“ wäre nach diesem Beispiel unbegründet gewesen.

In der öffentlichen Diskussion wird gelegentlich argumentiert, der Handel unter „Freunden“ wäre angesichts kultureller und geografischer Nähe zu Nachbarn auch ein Handel unter „Nachbarn“. Aus „Friendshoring“ wird „Near­shoring“. In der EU und den benachbarten Nicht-EU Mitgliedern als Partner im Europäischen Wirtschaftsraum (EFTA-Länder) nebst der Türkei in der Teilzollunion wird dabei auch auf die Vertiefung der Integration hin zur Wirtschaftsunion und zur Ausdehnung des Euroraums verwiesen. Das Argument ist verführerisch, da es der gerade in Frankreich populären Forderung nach einer Abschottung der EU gegenüber Drittländern Tür und Tor öffnet. Nichts ist gegen die Vollendung des Binnenmarktes zu sagen, wenn sie mit der Öffnung gegenüber Nichtmitgliedern einhergeht, aber sehr viel gegen eine Substitution von EU-Außenhandel durch Binnenhandel. Die Kosten der Handelsumlenkung sind aus der klassischen Zollunionsliteratur wohl bekannt. Dabei muss auch gesehen werden, dass EU-Länder im Vergleich zu Ländern wie die USA und China als Folge jahrzehntelanger Integrationsvertiefung in einem Binnenmarkt bereits sehr viel Handel unter „Freunden“ treiben. Dieses Niveau noch höher zu treiben, hieße daher besonders hohe Risiken an Effizienzverlusten einzugehen, insbesondere im Agrarbereich, der bereits jetzt schon höher geschützt ist als in den USA.

Empirisch ist die Identität von „Freunden“ und „Nachbarn“ nicht begründet. Geografisch weit entfernte Länder wie Neuseeland, Australien oder Singapur stehen Deutschland in der Abwesenheit von Korruption viel näher als Länder wir Bulgarien, Rumänien oder Ungarn.

Gleiches lässt sich auch für den Schutz von Arbeitnehmerrechten sagen. Selbst EU-Mitglieder wie Rumänien und Bulgarien verletzen nach jährlichen Analysen des Internationalen Gewerkschaftsbundes Arbeitnehmerrechte deutlich stärker als die genannten Länder in ­Ozeanien und Südostasien.

Das Argument zugunsten von Nearshoring lässt sich auch nicht mit niedrigeren Transportkosten halten. Sie machen im Industriegüterbereich dank der technologischen Innovationen in der Seetransportlogistik nur einen sehr geringen Teil der Produktionskosten aus. Risiken wie die vorübergehende Sperre des Roten Meeres oder des Suezkanals waren bislang vorübergehend und schlugen sich in temporären Anstiegen der Frachtraten und der Versicherungsprämien nieder. Wären sie dauerhaft, würden sie über den internationalen Preiszusammenhang auch die Beschaffung aus benachbarten Staaten oder den Binnenhandel verteuern. Realeinkommenseinbußen auf beiden Seiten des Handels ließen sich nicht verhindern, zumal damit auch die deutschen Exporte sowohl vom Preiseffekt höherer Transaktionskosten im Handel als auch vom Einkommenseffekt sinkender Importnachfrage auf den deutschen Absatzmärkten in Mitleidenschaft gezogen würden. Hinzu kommt, dass kurzfristigen Störungen auf den Transportmärkten auch durch erhöhte Lagerhaltung begegnet werden kann. Welche Reaktion unter Abwägung der Eintrittswahrscheinlichkeiten am günstigen ist, können Unternehmen nur individuell einschätzen, nicht aber die Regierungen durch pauschale Vorgaben.

Transportkosten allgemein als Argument gegen Fernhandel einzusetzen, wie es häufig aus umweltpolitischen Gründen im Agrarbereich herangezogen wird, hieße hinzunehmen, dass erstens ärmere Länder, die häufig komparative Vorteile bei Agrarprodukten haben, arm bleiben und zweitens, dass sich die Produktion und der Handel mit diesen Produkten zwischen Nachbarn in Europa zu Lasten von Natur und Umwelt ausdehnen müsste. Die oft kritisierte Flächennutzungsintensivierung würde nicht gestoppt, sondern verstärkt.

Welches Weltbild haben Regierungen, die sich zugunsten des Handels unter „Freunden“ einsetzen? Sie behaupten, Unternehmen würden die Risiken eines Handels mit Ländern, die andere Normen und Ziele vertreten als die eigenen, zu naiv, kurzsichtig, und rein unternehmensbezogen einschätzen. Dieser Vorwurf geht indes ins Leere. Unternehmensbezogen zu agieren, gehört zur Überlebensstrategie von Unternehmen. Andernfalls würden sie vom Markt verschwinden. Dass Regierungen mehr über die Risiken von Handel unter „Nicht-Freunden“ wissen und längerfristiger Vorausschau als Unternehmen halten, ist eine Mär. Weder haben sie das in der Vergangenheit bewiesen (Stichwort: Erdgashandel mit Russland), noch können und wollen sie sich als Folge der Wahlzyklen über mehrere Legislaturperioden die Hände binden. Zudem unterschätzen sie die Kurzlebigkeit von „Freundschaften“ auf Regierungsebene. Die US-Präsidentschaft unter Donald Trump ist dafür ein beredtes Beispiel. Sie sind zudem häufig Opfer der Versuchung, eine fehlende sofortige Reaktion von Teilnehmern an Märkten auf geänderte Rahmenbedingungen als Marktversagen zu brandmarken und agieren dann kurzfristig dagegen. Dass in einer dezentralen Marktwirtschaft
marktrelevante Signale von unabhängigen Marktteilnehmern mit unterschiedlichen Reaktionszeiten (oder gar nicht) wahrgenommen und beantwortet werden, bleibt ­ihnen häufig unverständlich. Mit kurzfristiger Gegenreaktion tritt dann das ein, was man Zeitinkonsistenz des Handelns und Politikversagen nennt.

 

Wirkungen von Handel unter „Freunden“ auf die heimische Wirtschaft

Eine Wirkungsanalyse hängt sehr davon ab, wie gravierend Eingriffe des Staates zugunsten eines Handels unter „Freunden“ sind. Bleibt es bei unverbindlichen Appellen, können Unternehmen sie ignorieren. Damit würde der Graben zwischen staatlichen und privaten Lageeinschätzungen tiefer und Kosten der Kommunikation zwischen beiden Seiten höher. Das ist nicht erstrebenswert, könnte aber hingenommen werden, wenn die Trennung der Verantwortlichkeit für die Produktion öffentlicher und privater Seite klar wäre.

Versucht die Regierung, das Verhalten der Unternehmen zu steuern, erzeugt sie Wirkungen, die umso gravierender sind, je mehr imperativ und je weniger indikativ die Steuerung ist. Die Spannweite reicht von Verboten bis hin zu gezielter Vergabe von Investitionsgarantien, gestaffelt nach dem „Freundschaftsgrad“ des Handelspartners. Dabei muss sie das Risiko eingehen, sich Klagen auf internationaler Ebene einzuhandeln, wenn sie gegen das WTO-Gebot der Nichtdiskriminierung verstößt. Im Folgenden sei angenommen, dass die Regierung in ihren Instrumenten wirksam und sichtbar den Handel unter „Freunden“ begünstigt. Diese „Begünstigung“ kann zwar als Zahlung einer Versicherungsprämie gegen den Einsatz des Handels als Waffe durch gegnerische Staaten oder Blöcke gerechtfertigt werden; Javorcik et al. (2024) zeigen aber anhand eines Handelsmodells, das zwischenstaatliche und inter-industrielle Verflechtungen berücksichtigt, dass diese Prämie einem Verlust bis zu 4,2 % des BIP in einigen Volkswirtschaften gleichkommt. Dabei bleiben negative Effekte von Wirkungen auf Arbeits- und Kapitalmärkte noch unberücksichtigt. Zu ähnlichen Größenordnungen von globalen Einkommensverlusten in Höhe von 4,5 % des globalen BIP kommen Analysen von Cerdeiro et al. (2024). Sie schätzen die Konsequenzen einer „de-risking“ Strategie zwischen China und den OECD-Staaten (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, englisch Organisation for Economic Cooperation and Development) durch Importsubstitution und Begünstigung des Handels mit „befreundeten“ Staaten auf Kosten des Handels mit dem „Gegner“.

Weniger Diversifizierung belastet Resilienz

Die Vermeidung von Abhängigkeiten gegenüber einem einzelnen Land beinhaltet immer auch die Unabhängigkeit vom eigenen Land (bzw. „Freundeskreis“). So ist man vor den produktionsbehindernden Folgen eines Lockdowns nicht gefeit, wenn dieser im eigenen Land (oder befreundeten Ländern) verhängt wird. Ein Rückzug der Produktion hinter die eigenen Landes- bzw. Freundschaftsgrenzen schmälert daher grundsätzlich die Resilienz gegenüber entsprechenden exogenen Schocks. Umgekehrt ist man mit Blick auf Lieferketten stabiler aufgestellt, wenn man statt mit einem Problemstaat Handelsbeziehungen zu mehreren Problemstaaten unterhält, die im Zweifel nicht gleichgerichtet agieren und deren Produkte qualitative Mängel gegenüber den Produkten des ursprünglichen Handelspartners aufweisen, worauf ­Cerdeiro et. al. (2024) hinweisen.

Behinderung des Strukturwandels

Jeder Eingriff in die Sektor- und Regionalstruktur des Welthandels begünstigt und behindert Industriesektoren und die in den Sektoren tätigen Unternehmen. Er setzt Anreize zuungunsten der Unternehmen, die den Handel mit „Nicht-Freunden“ fortsetzen. Sie laufen Gefahr, Arbeitskräfte an Unternehmen zu verlieren, die für mehr Handel unter „Freunden“ Zuschüsse oder andere Vergünstigungen erhalten. Diese Unternehmen können mit höheren Löhnen Arbeitskräfte von anderen Unternehmen abwerben und damit am Markt verbleiben oder sogar Marktanteile gewinnen. Ein Malus für den Handel mit leistungsfähigen, aber politisch als zu risikoreich eingestuften Unternehmen bzw. ein Bonus für den Handel mit weniger leistungsfähigen aber als „Freunde“ eingestuften Partnern kostet die Konsumenten Einkommen und zementiert den Strukturwandel. In einer „Werteunion“ werden komparative Kostenvorteile für vermeintlich mehr Sicherheit geopfert. Da eine Werteunion nicht stabil ist, wie das Beispiel des Handels mit Russland nach 1990 gezeigt hat, sind die Kosten und Friktionen nach einem Regimeschock erheblich. Insgesamt läuft eine Werteunion Gefahr im internationalen Standortwettbewerb gegenüber den Ländern zurückzufallen, die ihre Unternehmen von einer Bindung an „Freunde“ freihalten. Darauf weisen auch Javorcik et al. (2024) hin, wenn sie in Ländern relativ geringe Verluste oder sogar (in Ausnahmefällen) leichte Gewinne für möglich halten, die keinen Blöcken angehören und keine Vergeltungsmaßnahmen bei einseitigen Sanktionen zu gewärtigen haben. Insbesondere Unternehmen aus Schwellenländern wie China, Indien, Südkorea oder den ASEAN-Ländern scheinen hier Vorteile gegenüber deutschen und anderen Unternehmen aus Europa zu besitzen.

No-Bail-Out Klausel wird brüchig

Im idiosynkratischen Krisenfall nicht mit staatlichen Hilfen rechnen zu können, gehört zu den Grundpfeilern der Marktwirtschaft. Moral hazard-Verhalten soll entmutigt werden. Wird aber der Handel mit Unternehmen aus wertemäßig gleichgesinnten Ländern begünstigt, wächst deren Macht auf dem Markt für politische Vergünstigungen (Rent-Seeking) im Vergleich zu den Unternehmen, die sich lediglich Unternehmenszielen gegenüber verantwortlich sehen und staatlich vorgegebene Wertemaßstände lediglich zur Kenntnis nehmen. Das heißt nicht, dass sie unternehmensübergeordnete Wertevorstellungen wie Nachhaltigkeit in ihren verschiedenen Facetten vernachlässigen oder ignorieren. Es heißt nur, dass sie diese gegenüber ihren Kunden und nicht gegenüber den Regierungen vertreten. Sollte am Ende eine Übereinstimmung zwischen Unternehmenswerten und denen der Regierung entstehen, wäre das dann das Ergebnis eines Marktprozesses und nicht das einer Übernahme von Regierungsvorstellungen. Hinzu kommt, dass ein staatliches Sortieren in erwünschte und unerwünschte Handelspartner implizite Subventionsansprüche begründet, wenn sich die staatliche Klassifikation zukünftig als Irrtum erweisen sollte. Unternehmen können in solchen Fällen geltend machen, nur politischen Vorgaben gefolgt zu sein, deren Folgen nun politisch („solidarisch“) zu tragen seien.

Innovationskraft von Finanzmärkten schwindet

Vielfach wird in der Öffentlichkeit die Gefahr gesehen, dass Finanzmärkte in ärmeren Ländern unentwickelt bleiben und ihre Währungen auf den internationalen Finanzmärkten vor allem in der Wertaufbewahrungsfunktion von Geld, also als Anlagewährung, keine Reputation genießen. Hohe Risikoaufschläge auf entsprechende Anlagen sind dann die Folge, ebenso sehr rasche Kapitalabflüsse bei ersten Anzeichen von Krisen. Diese Krisen haben dann, wie die Südostasienkrise 1997 gezeigt hat, auch negative Auswirkungen für globale Finanzmärkte und damit für Unternehmen aus Industrieländern. Für Unternehmen aus Werteunionen verringern sich damit Wahlmöglichkeiten bei Finanzierungen von Handel und Investitionen. Der Werteunion im Handel folgt dann eine Werteunion auf den Finanzmärkten, mit der Folge, dass sehr wenige Währungen den Markt bestimmen. Die amerikanische Sicht „Unsere Währung, euer Problem“ steht in dieser Tradition. Nichts spricht dagegen, dass sich Skalenvorteile bei der Nutzung von Währungen durchsetzen. Sie sollten aber das Ergebnis von Wettbewerb sein und nicht das einer staatlich verordneten Festlegung, wer Freunde im Handel sind und wer nicht.

Gefahr von Vergeltungsmaßnahmen wächst

Wer Friendshoring zum Ziel erhebt, darf sich über Gegenreaktionen nicht wundern. „Nicht-Freunde“ schaffen dann ihrerseits Allianzen. Den „westlichen“ Werten werden dann „asiatische“ oder „konfuzianische“ gegenübergestellt und offensiv als „bessere“ Werte vertreten. Dies geschieht seit geraumer Zeit in China und anderen asiatischen Ländern und breitet sich im globalen Süden aus. Der singapureanische Diplomat und Politikwissenschaftler Kishore Mahbubani ist einer der härtesten Verfechter asiatischer Werte gegenüber dem Westen. Vielfach werden in aufholenden Ländern (mit hoher Zeitpräferenz) das Beharren auf westlichen Werten als anmaßend, post-kolonialistisch und protektionistisch verstanden und mit Forderungen nach Vergeltung beantwortet. Im Ergebnis können diese Forderungen in die Weigerung einmünden, sich an Sanktionen der G7-Länder gegen Russland zu beteiligen, oder sogar in ein aktives Unterlaufen der Sanktionen.

 

Wirkungen von Handel unter „Freunden“ auf die Volkswirtschaften von „Nicht-Freunden“

Gespaltene Arbeitsmärkte

Handel unter „Freunden“ zu propagieren, geht Hand in Hand mit einer weiteren Entwicklung in Europa: der Durchsetzung von Nachhaltigkeitszielen über die Verpflichtung von Unternehmen, ihre Lieferketten auf Einhaltung von Arbeitnehmerrechten von UN und OECD-Zielen zu kontrollieren. Das problematische deutsche Sorgfaltspflichtengesetz, das 2023 in Kraft trat und große deutsche Unternehmen verpflichtet, ihren wichtigsten Lieferanten in der Lieferkette auf Einhaltung von Nachhaltigkeitszielen zu kontrollieren, steht dafür Pate.

Auch über dieses Instrument wird versucht, die Kunden von Unternehmen an die Wertekonformität der Lieferanten zu binden. Diese Werte (z. B. Verbot der schlimmsten Formen von Kinderarbeit, Rechte auf Gründung von Interessenvertretungen) sind legitim und wurden von fast allen Ländern verabschiedet und ratifiziert, aber gerade in ärmeren Ländern nicht umgesetzt. Das deutsche Gesetz und eine vorgesehene noch weitergehende EU-Direktive verpflichten nun Unternehmen, die Einhaltung von Werten zu kontrollieren, nachzuweisen und Abhilfe zu schaffen. Ungeachtet des hohen Kontrollaufwandes (Schaffung einer eigens für das Sorgfaltspflichtengesetz vorgesehenen Außenstelle des Bundesamtes für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle in Borna bei Leipzig) und der damit ­verbundenen Kosten in Deutschland hat das Gesetz zwei schwerwiegende Nachteile, die auch symptomatisch für die Probleme des Handels unter Freunden sind: erstens die einseitige Durchsetzung an den Regierungen der betroffenen Länder vorbei, obwohl die Verantwortung für die Einhaltung der Arbeitnehmerrechte bei diesen Ländern liegt, und zweitens die Konsequenzen für die Arbeitsmärkte in diesen Ländern. Sie werden gespalten, da einige Unternehmen in diesen Ländern, die den Zugang zu den Lieferketten nicht gefährden wollen, Arbeitskräfte auch entgegen der Auftragslage besser entlohnen oder automatisieren und damit andere Arbeitskräfte in den nicht regulierten Arbeitsmarkt, d. h. in die informellen Arbeitsmärkte, abdrängen. Möglich ist auch, dass deutsche Unternehmen als Folge sehr hoher Kontrollkosten die Geschäftsbeziehung zu den Lieferanten aufkündigen und diese dann entweder ihr Geschäftsmodell verlieren oder sich anderen Unternehmen als Lieferanten andienen, die andere oder gar keine „Werte“ vertreten. Niemandem ist damit gedient und aus einer gutgemeinten Politik wird wie häufig eine schlechte Politik. Diese Effekte dürften nicht auf die größeren Unternehmen im Westen beschränkt bleiben, da diese von ihren kleineren Lieferanten entsprechende Zusicherungen fordern werden, so dass die Regulierung auf weite Teile der im Außenhandel direkt oder indirekt tätigen Unternehmen ausstrahlt.

Unternehmen in ärmeren Ländern werden im Risiko alleingelassen

Hinter der Forderung nach Friendshoring steht das Ziel, Risiken in den Lieferketten zu minimieren. Dieses Ziel zu erreichen, liegt in der Verantwortung der Unternehmen. Vielfach liegt es an der mangelhaften infrastrukturellen Ausstattung von Ländern und nicht an unterschiedlichen politischen Werten, dass diese Risiken beträchtlich sind und weit über den Einflussbereich einzelner Unternehmen hinausgehen. Stromausfälle gehören dabei zu den wichtigsten Risikofaktoren innerhalb von Lieferketten. Würde man sich von diesen Ländern abwenden und stattdessen auf den Handel unter „Freunden“ setzen, die diese Probleme nicht haben, würde man sie ihren Entwicklungsmöglichkeiten beschneiden und finanziell schwächen. Sie würden wieder in die Arme derjenigen „Nicht-Freunde“ getrieben, die ihnen eine Infrastruktur anbieten, mit der die Regierungen in Europa sicherheitspolitische Probleme haben. Der IT-Anbieter Huawei ist dafür ein illustratives Beispiel. Kurzum: Friendshoring ist gleichbedeutend mit der Verweigerung von Risksharing und damit entwicklungspolitisch kontrainduziert.

 

Fazit

Staatliche Einflussnahme auf die Handelsbeziehungen unter dem Gesichtspunkt der „Wertenähe“ oder des „Freundschaftsstatus“ überdehnt die Zuständigkeit des rahmensetzenden Staates und der innerhalb dieses Rahmens operierenden Unternehmen. Ordnungspolitisch wäre es zielführender, das Haftungsprinzip zu stärken und so die Risikoabschätzung mit Blick auf Bezugs- und Absatzmärkte in den Kalkulationen der privaten Akteure zum Tragen kommen zu lassen. Dies reizt entsprechende Diversifizierungsstrategien an, die die Resilienz nicht nur der einzelnen Unternehmen, sondern auch der Gesamtwirtschaft stärkt. Genau dies geschieht aber nicht, wenn der Staat die Weltwirtschaft in Freunde und Nicht-Freunde unterteilt. Zum einen werden hierdurch mögliche Diversifizierungsgelegenheiten abgeschnitten, zum anderen entstehen neue implizite Subventionsansprüche, wenn entgegen der staatlichen Einschätzung bisherige Freundschaften brüchig werden sollten.

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