Ich bin außerordentlich dankbar, dass die Katholische Akademie in Bayern uns Missionsbenediktinern ermöglicht, so einen Studiennachmittag in diesem öffentlichen und doch vertrauten Rahmen durchzuführen.
Drei Momente haben uns dazu bewogen, diese vertiefte Beschäftigung mit unserer Geschichte anzusetzen:
- Die Vehemenz und auch Brisanz postkolonialer Diskurse, die natürlich unser Eingemachtes betreffen und denen wir uns stellen wollen und wohl auch müssen
- Die Befassung mit der Herkunft der in unseren Klöstern, vor allem in St. Ottilien, gesammelten Kulturgüter aus nicht-europäischen Gesellschaften und des adäquaten Umgangs mit diesem Erbe
- Und die gewichtigen neueren Veröffentlichungen zu unserer Missionsgeschichte, die nicht mehr nur – wie in früheren Jahrzehnten – aus unserem unmittelbaren Umfeld stammen, sondern nun auch in akademischen Kontexten entstehen
Missionsbenediktinische Historiographie
Die erste Rückschau auf die Anfänge der Missionsbenediktiner erschien schon 10 Jahre nach der Gründung, also 1894. In den folgenden Jahrzehnten kamen von Zeit zu Zeit kleinere Schriften heraus, die sich mit der Gründung und Entfaltung der Kongregation von Sankt Ottilien beschäftigten, jeweils intern produziert. Die ersten größeren Monographien erschienen ab 1971 in vier Sammelbänden unter dem Titel Der Fünfarmige Leuchter, von den Herausgebern als ein „Kaleidoskop“ betitelt.
Benediktinische Gemeinschaften zählen seit jeher zu den Produzenten von Geschichte. Dies dient der Selbstvergewisserung, der Beschreibung und Formulierung von Identitäten, die unser Orden in besonderer Weise über Jahrhunderte hinweg zu kultivieren und manchmal auch zu erfinden weiß. Bei den Missionsbenediktinern kommt hinzu, dass eine Geschichte von Erfolgen und Niederlagen so erzählt werden soll, dass externe Leser motiviert werden, die Missionsarbeit zu unterstützen. Deshalb ist dieser Teil der historiographischen Produktion der Missionsbenediktiner durchaus auch von Apologetik gekennzeichnet, gelegentlich auch von Panegyrik.
Daneben tritt seit den 1970er Jahren aber auch eine stärker wissenschaftliche Auseinandersetzung mit unserer Geschichte, etwa von Seiten der Missionstheologie. Und zunehmend werden auch Quellen aus unseren Archiven ediert, wobei hier noch vieles zu heben bleibt. Ab Mitte der 1990er Jahre wurde das Archiv der Erzabtei St. Ottilien, das zuvor mit einer strengen Arkandisziplin geschützt war, für die wissenschaftliche Benutzung geöffnet. Anette Volk erarbeitete einen eigenen Katalog der dortigen Archivbestände zu Tanzania, die in der Serie der University of Leipzig Papers on Africa 2002 publiziert wurde. Beides waren Voraussetzungen für die wissenschaftlichen Arbeiten der neuesten Zeit.
Erwähnen möchte ich noch, dass die Renovierung und behutsame Neugestaltung des Missionsmuseums in St. Ottilien, das 2015 wiedereröffnet wurde, ebenfalls einiges an Reflexion über die Zugänge zu unserer Geschichte erforderte, und auch noch weiterhin erfordern wird.
Tour d’Horizon
In einer knappen Tour d’Horizon möchte ich die neueren Erscheinungen zur Geschichte unserer Kongregation kurz präsentieren.
Cyrill Schäfer, Mönch von St. Ottilien und ausgewiesener Historiker, hat in mehreren Bänden Quellenmaterial zur Gründung der Missionsbenediktiner ediert, mit einem Schwerpunkt auf den programmatischen und biographischen Schriften Andreas Amrheins, des Gründers und ersten Ideengebers von Sankt Ottilien.
Sigrid Albert, die heute bei uns ist, gab vor 4 Jahren unter dem plakativen Titel Mission im Krieg das Tagebuch Norbert Webers heraus, der während des Maji-Maji-Krieges 1905 Deutsch-Ostafrika besuchte, eine bislang leider kaum beachtete Quelle. Der gleichen Autorin verdanken wir eine seit 2009 in der Zeitschrift Vox Latina seriell erscheinende Geschichte der Erzabtei St. Ottilien und ihres weltweiten Wirkens, die neu und sehr gründlich aus den Quellen erarbeitet wird. Unlängst erschien die 53. Folge. Dankenswerterweise werden diese Folgen von Zeit zu Zeit auch in deutscher Sprache veröffentlicht.
Der inzwischen verstorbene Missionstheologe Karl Josef Rivinius, ein Steyler Missionar, verfasste 2017 aus eigenem Antrieb eine Geschichte der Anfänge der benediktinischen Missionsarbeit in Ostafrika.
Johannes Mahr hat die letzten 15 Jahre seines Lebens der missionsbenediktinischen Historiographie gewidmet und inzwischen ca. einen Regalmeter verfasst: einige kleinere Monographien, dazu 3 Bände zur Missionstätigkeit in Ostasien, 7 Bände zur Geschichte der Abtei Münsterschwarzach und den ersten Band einer geplanten Trilogie zum Wirken der Missionsbenediktiner in der Kolonie Deutsch-Ostafrika. Dieser Band sollte heute hier vorgestellt werden. Die Fertigstellung hat sich geringfügig verzögert.
Allen diesen Veröffentlichungen gemein ist, dass sie im Umfeld unserer Klöster entstanden sind. Gute Lesbarkeit für ein nicht-akademisches Publikum, eben auch für unsere Klosterkonvente, ist dabei ein wichtiges Kriterium bei aller gebotenen Ernsthaftigkeit.
Dagegen steht bei den neueren Veröffentlichungen, die im akademischen Bereich und das heißt in größerer Distanz zu unseren Klöstern entstanden sind, die Rezeption zeitgenössischer kulturwissenschaftlicher Diskurse erkennbar im Vordergrund – Stichwort Postkoloniale Studien.
Bereits 2015 erschien das Buch von Christine Egger Transnationale Biographien: Die Missionsbenediktiner von St. Ottilien in Tanganjika 1922–1965. Hier wurden wir zum ersten Mal mit den Themen zeitgenössischer Geschichtsforschung und den zugrundeliegenden Theorien vertraut gemacht.
Einen starken Akzent setzte Richard Hölzl, dessen Habilitation 2021 in Druck erschien. Der Titel Gläubige Imperialisten war ein Paukenschlag und als solcher auch ein Weckruf. Das Buch beschäftigt sich in der Hauptsache mit den Missionsbenediktinern.
Im gleichen Jahr und im gleichen Verlag (Campus Verlag) erschien von Bettina Brockmeyer das Buch Geteilte Geschichte, geraubte Geschichte: koloniale Biografien in Ostafrika (1880–1950). In diesem Buch verbindet sie die Biographien eines jungen Afrikaners, der nach Deutschland verbracht wird und später in seine ostafrikanische Heimat als Chief zurückkehrt, einer Kolonialistin und eines Missionsbenediktiners. Die Lebenslinien der drei haben sich geografisch in Iringa und auch bei den Missionsbenediktinern gekreuzt. Anschauliche und lesbare Schilderungen der Verhältnisse werden hier mit einer Einordnung der Narrative in moderne Theorie-Diskurse verbunden.
Was machen wir hier heute eigentlich?
Im Untertitel der heutigen Veranstaltung heißt es „Die Missionsbenediktiner lesen ihre Geschichte neu“.
Ich möchte zunächst einmal darauf hinweisen, dass die verschiedenen missionierenden Orden je nach ihrer eigenen Tradition recht unterschiedliche Zugänge zur Mission und auch zu ihrer je eigenen Geschichte entwickelt haben. Das ist eine Differenzierung, die ich in den ersten Kapiteln Hölzls etwas vermisse.
Für die Benediktiner charakteristisch ist tatsächlich ein Bemühen um Kultur, und auch um Buchkultur. Das hat seinen Ursprung in der Lebensordnung der Mönche, in der die Lektüre der heiligen Schrift und anderer Bücher einen festen Platz hat.
Das „Neu Lesen“ des Titels bezeichnet eine Re-Lecture. Ein Wiederlesen oder Neu-Lesen des eigentlich schon längst Bekannten. Das hat Tradition: Die monastische
Lesepraxis zielt nicht auf das Viellesen, sondern auf die wiederholende Vertiefung. Dafür wird gelegentlich das schöne Bild des Wiederkäuens verwendet, der Ruminatio, wie das auf Lateinisch heißt. Die Kuh bringt ja bekanntlich das schon einmal verdaute Futter noch einmal ins Maul, um es ein zweites Mal zu zermahlen, erneut zu verdauen und mehr Nährstoffe daraus zu ziehen. So wird die Praxis der klösterlichen Lectio beschrieben. Und das ist vielleicht auch das, was wir heute und in dieser Zeit versuchen. Unsere Geschichte noch einmal zu zerkauen, um zu entdecken, was sich an Übersehenem, an Nicht-Bemerktem und an Unverdautem darin findet.
Eine zweite Ordenstugend kann uns dabei vielleicht helfen, die Demut. Die verlangt von uns, den Realitäten und Hinfälligkeiten unseres Lebens und Wirkens realistisch ins Auge zu schauen.
Dabei hilft oft der Blick von außen. In der Benediktusregel wird im Kapitel über die Aufnahme fremder Mönche gesagt: „Sollte er in Demut und Liebe eine begründete Kritik äußern oder auf etwas aufmerksam machen, so erwäge der Abt klug, ob ihn der Herr nicht gerade deshalb geschickt hat.“
Das ist glaube ich, eine ganz brauchbare Hermeneutik für das Herangehen an diese neueren Veröffentlichungen.
Wir haben allerdings auch etwas beizutragen zu diesen postkolonialen Diskursen:
1. Eine ziemlich beispiellose Kontinuität. Die von den Missionsbenediktinern gegründeten Institutionen existieren an den meisten Orten bis heute – natürlich transformiert, aber doch in deutlich erkennbarer Fortsetzung des vor mehr als 100 Jahren Begonnenen. Das zeigt sich an Gebäuden, Archiven, Praktiken, aber auch an einem Bewusstsein dieser Kontinuität, das sich in Jubiläen und Narrativen Ausdruck verschafft. Hier gibt es nicht nur historische Erinnerungen, sondern lebendige memoria.
2. Die Träger dieser Memoria sind Teil der einheimischen Gesellschaften. Es mag hier und da noch einen Europäer geben, aber die Verantwortungsträger dieser Institutionen sind durchweg einheimisch. Die Themen, die heute hier verhandelt werden, sind für sie von unmittelbarem Interesse. Sie sind Erben der Missionare, ebenso wie sie Nachfahren der vom Kolonialismus betroffenen Personen und Gesellschaften sind.
Hierin sehe ich die besondere Chance unserer missionsbenediktinischen Re-Lecture: dass wir Akteure in diese Reflexion einbeziehen können, die die Ambivalenzen dieser Geschichte in ihrer eigenen Identität verhandeln können und wohl auch müssen – nicht nur historisch, sondern auch sehr gegenwartsbezogen. Deswegen möchte ich auch den zahlreichen anwesenden Mitbrüdern aus Ostafrika danken, die sich heute hier für diesen Anlass eingefunden haben. Es ist meine sehnliche Hoffnung, dass diese Relecture heute hier nicht endet, sondern dass sie erst beginnt, und dass ihre nächsten Sessionen unter ganz anderen Vorzeichen stattfinden können, vielleicht in Daressalam, in
Iringa oder in Songea.