Das kurze, musizierfreudige und schwungvolle Magnificat (WAB 24), das beim Referat eingangs eingespielt worden, erklang vermutlich erstmals am Mariä Himmelfahrts-Tag des Jahres 1852 in St. Florian. Anton Bruckner, Schullehrer in der Schule des Marktes und provisorischer Organist im dortigen Augustinerchorherren-Stift, hatte es dem Regens chori Ignaz Traumihler gewidmet, der zwar einen ganz „cäcilianischen“, d. h., an der asketischen Kirchenmusik-Reformbewegung des Cäcilianismus orientierten Geschmack hatte, aber das Werk dennoch sehr geschätzt haben dürfte, wie die wiederholten Aufführungen bezeugen.
I.
In deutlichem Kontrast zur freudigen Haltung der Komposition steht Bruckners damalige persönliche Situation. Das Werk war in einer Zeit großer menschlicher und künstlerischer Unzufriedenheit entstanden, denn Bruckners Talent drängte ihn aus dem zu eng gewordenen Wirkungskreis heraus. In einem Brief an den Wiener Hofkapellmeister Ignaz Aßmayr beklagte er sich über mangelnde Förderung seitens der Verantwortlichen im Stift, ein Umstand, der ganz und gar nicht der objektiven Situation entsprach. Aber subjektiv war Bruckner gleichsam in „Gärung“, und das machte ihn unglücklich, unzufrieden und undankbar gegenüber dem Stift, von dem er so viel Förderung erfahren hatte: Nach dem frühen Tod des Vaters 1837 hatte ihn Propst Michael Arneth als Sängerknabe aufgenommen, obwohl er schon an der Schwelle zum Stimmbruch stand. Ab 1841 ermöglichte man ihm die Ausbildung zum Schullehrer, und nach zwei Posten, die er als „Schulgehilfe“ (Praktikant) in zwei kleinen, dem Stift zugehörigen Orten (Windhaag und Kronstorf) gedient hatte, durfte er als Schulgehilfe nach St. Florian zurückkehren, wo er von 1845 bis 1855 als Schullehrer, ab 1850 auch als provisorischer Stiftsorganist tätig war. „Provisorisch“ und nicht „definitiv“ deshalb, weil die Zuständigkeitsverhältnisse für die Schullehrer zwei Jahre nach der Revolution 1848 noch nicht geklärt waren.
Das Augustinerchorherren-Stift St. Florian in Oberösterreich war Ein Ort von Welt (so der Titel eines überaus lesenswerten Buches von Friedrich Buchmayr), ein Zentrum von Gelehrsamkeit und Freude an der Kunst, und für Bruckner eine unschätzbare Quelle der Prägung, Bereicherung, der Horizonterweiterung und der Möglichkeit zu musikalischen Studien, wenn er es in seiner augenblicklichen Situation damals auch nicht so wahrnahm.
Sein Curriculum war eine stufenweise Karriere: Nach seiner Zeit in St. Florian wirkte er von 1855 bis 1868 als Dom- und Stadtpfarrorganist in Linz und gehörte dadurch zu den kulturell tonangebenden Männern der Stadt. In diesen Jahren hatte er sich, der bereits ein achtbarer Komponist in der Nachfolge der späten Klassik und frühen Romantik war (er hatte außer dem Magnificat auch schon ein Requiem und eine Missa solemnis geschrieben), einer grundlegenden, überaus strengen und asketischen Ausbildung in Harmonielehre, Kontrapunkt, Formenlehre, Instrumentation und Komposition bei der größten musiktheoretischen Autorität seiner Zeit, bei Simon Sechter in Wien und anschließend bei dem versierten Theaterkapellmeister Otto Kitzler in Linz unterzogen. Das Erlebnis der „modernen“ Musik Richard Wagners und dessen Tannhäuser, den er mit Kitzler studierte, war für ihn ein wahres Initiationserlebnis und der Durchbruch zum eigenen Schaffen, zum eigenen Personalstil.
Ab 1868 lebte Bruckner in Wien als Professor für Harmonielehre, Kontrapunkt und Orgel am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde, als k.k. Hoforganist und später auch als Lektor an der Universität. Seine eigentliche Berufung sah er jedoch in der Komposition, nicht etwa in der Komposition von Kirchenmusik, sondern in der Komposition von Symphonien, und genau das wollte er 1891 im Dekret zu seiner Ernennung als Ehrendoktor der Wiener Universität festgehalten wissen, denn darin, so Bruckner, habe sein eigentlicher „Lebensberuf“ bestanden.
Wenige Jahre zuvor, am 12. Jänner 1885, hatte Johannes Brahms, ebenfalls in Wien lebend und im ästhetischen Parteienstreit zwischen „Konservativen“ und „Modernen“ zum Antipoden Bruckners stilisiert, an die ihm befreundete Elisabet von Herzogenberg, die dringend ein Urteil über den Symphoniker Bruckner von ihm erwartete, geschrieben: „Alles hat seine Grenzen. Bruckner liegt jenseits, über seine Sachen kann man nicht hin und her, kann man nicht reden. Über den Menschen auch nicht. Er ist ein armer, verrückter Mensch, den die Pfaffen von St. Florian auf dem Gewissen haben. Ich weiß nicht, ob Sie eine Ahnung davon haben, was es heißt, seine Jugend bei den Pfaffen verlebt zu haben? Ich könnte davon und von Bruckner erzählen. Ach, von so häßlichen Dingen soll man mit Ihnen gar nicht reden.“
Abgesehen davon, dass dieses Urteil voller menschlicher Verachtung ist, ist es auch, wie ich zu zeigen versucht habe, im Falle des Stiftes St. Florian sachlich ganz und gar nicht gerechtfertigt. Doch ähnliche Töne wie Brahms schlugen auch einige Wiener Musikkritiker an, und so erhebt sich die Frage: Wie erschien Bruckners Zeitgenossen denn eigentlich sein praktiziertes katholisches Christentum? Wie wirkte er, wie wirkte es auf den äußeren Betrachter?
II.
Der Wiener Kirchenhistoriker Rupert Klieber beschreibt die Jahre 1840 bis 1870, also die Zeit, in der Bruckner von Linz nach Wien übersiedelte, als einen eindeutigen Tiefpunkt kirchlichen Lebens in Wien. Die Kirchen standen fast leer, zu den Praktizierenden gehörten fast nur Frauen, nur rund 5 % der Männer bekannten sich öffentlich zur Kirche. Eine gehörige Portion Antiklerikalismus habe in weiten Teilen des mittleren und höheren Bürgertums, in Lehrerkreisen und bei den Arbeitern gleichsam sogar zum guten Ton gehört. Erst die christlich-soziale Bewegung habe diesen Trend gestoppt.
So blieb es bis zum Todesjahr Bruckners 1896, in dem Karl Lueger zum Bürgermeister von Wien gewählt wurde. Ab nun gehörte zum guten Ton plötzlich nicht mehr der Antiklerikalismus, sondern im Gegenteil eine gewisse Kirchlichkeit, die allerdings bei vielen Katholiken persönlich recht diffus blieb. Vor diesem Hintergrund ist die Tatsache, dass Bruckners praktizierte Katholizität vielen seiner Wiener Zeitgenossen als absonderliche Schrulle erschien, schon etwas besser zu verstehen.
Ganz anders war zuvor die Situation in Linz gewesen: In den ersten Rezensionen von Aufführungen Brucknerscher Werke wird kein einziges Mal seiner persönlichen Frömmigkeit Erwähnung getan – sie hatte sachlich hier nichts verloren und scheint niemandem als absonderlich und eigens erwähnenswert aufgefallen zu sein.
In starkem Kontrast dazu stand die Situation der Wiener Zeit, d. h., der Jahre 1868 bis 1896, in diesem Milieu der Cercles und Salons, mit dem vom Glauben recht weit entfernten Bürgertum, in dem man sich morgens genüsslich zum Kaffee dem neuesten Feuilleton (und dem neuesten Tratsch) etwa im Neuen Wiener Tagblatt widmete, in dem der Brahms-Freund und gefürchtete Musikkritiker Max Kalbeck (1850–1921) seine spitze Feder wetzte. Ende der 80er Jahre wurden Kalbecks Attacken auf Bruckner immer aggressiver. Selbst unter den damals mit ihren Opfern äußerst schonungslos umspringenden Journalisten stellen Kalbecks Ausfälle einen Gipfel dar. Er verbiss sich in seinen Bruckner-Rezensionen zunehmend in zwei zentrale Themen: Deren erstes, Bruckners vermeintliche Wagner-Abhängigkeit, hatte in einer Musikkritik durchaus legitim seinen Platz. Deren zweites jedoch zielte auf etwas Persönliches, für Bruckner sehr Wertvolles, existentiell Tragendes, nämlich sein katholisches Christentum.
Dieser Punkt reizte Kalbeck an Bruckner derart, dass in fast jeder Rezension Anspielungen darauf oder typische Vokabeln zu finden waren. Bruckner war für ihn der „fromme Einsiedel“, der an einem „gelehrten Werke, vielleicht an der Vertheidigung des Cölibats“ schrieb (Montags-Revue, 21.12.1891), er ist der „heilige Anton“, der „Ansfeldener Messias“ (Montags-Revue, 19.12.1892). Ja, Bruckners Frömmigkeit erschien fast wie ein geistiger Defekt, wie Kalbeck seine Leser auch noch nach Bruckners Tod im Feuilleton des Neuen Wiener Tagblattes am 3. Februar 1900 zu amüsieren hoffte: „Anton Bruckners Es-dur-Symphonie (die ‚romantische’) hat im sechsten Philharmonischen Concert unter Mahler’s Direction ein glänzendes Fest der Wiedergeburt gefeiert. Zum ersten Male wurde das ganze große Publicum in die Zauberkreise des wunderlichen Magiers gebannt, der so stark im Glauben und so schwach im Denken war.“
Den meisten von Bruckners Zeitgenossen schien es einfach mit dem Bild eines Künstlers unvereinbar, dass dieser sich unverhohlen zur Kirche bekannte und deren Vorschriften, wie regelmäßige Beichte, regelmäßigen Kirchenbesuch, Fastenzeiten, zu beachten versuchte. Dass sich dieser sogar noch dazu täglich lange Zeit dem Gebet widmete, das wussten Bruckners Zeitgenossen ja nur in den seltensten Fällen. Noch dazu trug Bruckner mit seiner gesellschaftlichen Unangepasstheit selbst dazu bei, dass man ihn in der Öffentlichkeit als Sonderling wahrnahm.
Bruckner war ein trotz aller scheinbarer Mitteilungsfreudigkeit und Geselligkeit im Grunde sehr verschlossener Mensch. Das hatte er mit Johannes Brahms gemeinsam. Was aber bei Brahms, der aus einem vollkommen anderen städtischen Milieu stammte, und der auf Grund seiner Tantiemeneinkünfte ein freies und wohlhabendes Leben führen konnte, der sich auf dem gefährlich glatten Parkett der Wiener Gesellschaft durchaus zu Hause fühlte, ja dem man jede Grobheit und jeden Sarkasmus nachsah und als legitime persönliche Mimikry verzieh, wurde an Bruckner, dem lebenslänglich in das Joch eines Brotberufes Eingespannten, als geistige Beschränkung ausgelegt, als Defekt, bestenfalls als Schrulle.
Dazu trat unzweifelhaft eine große verbale Unbeholfenheit Bruckners, die sich in den Briefen nur notdürftig hinter einer lebenslänglich beibehaltenen vormärzlichen Formelsprache zu verschanzen wusste. Bruckners Briefe geben nur in den seltensten Fällen Einblick in sein persönliches Inneres. Was ihm mitteilenswert erschien, betraf etwa ab seiner großen psychischen Krise im Sommer 1867 so gut wie ausschließlich sein Werk, nicht seine Person.
Einen umso größeren Stellenwert nehmen demnach seine einzigen wirklich persönlichen Aufzeichnungen ein: seine Notizen in seinen ausschließlich für ihn selbst bestimmten Taschen-Notizkalendern. Auch hier dürfen wir uns kein eloquentes Tagebuch erwarten, auch hier bleibt Bruckner scheu und verschlossen, und seine Scheu steigert sich gerade proportional zur jeweiligen Betroffenheit. Doch gerade für die Frage nach Bruckners Religiosität sind seine persönlichen Notizkalender eine intime Quelle von unschätzbarem Wert. Sie wurden von der Verfasserin 2001 unter dem Titel Verborgene Persönlichkeit. Anton Bruckner in seinen privaten Aufzeichnungen herausgegeben.
Insgesamt sind uns 22 Notizkalender sowie mehrere Fragmente von Kalendern erhalten. Bevor Bruckner am 4. Juli 1895 von seiner Wohnung in der Heßgasse in die ihm vom Kaiser bewilligte Hofwohnung im Kustodenstöckl des Belvedere übersiedelte, unterzog er „die in hohen Stößen aufgestapelten Noten“ mit Hilfe seines Schülers und Sekretärs Anton Meißner einer rigorosen Sichtung, „wobei vieles auf Befehl des Meisters den Flammen übergeben werden mußte“, wie Bruckners Biographen August Göllerich und Max Auer schrieben. Erstaunlicherweise entgingen jedoch diese 22 Kalender der Vernichtung, wohl, weil sie unzählige wichtige notierte Adressen enthielten. Uns liegen heute Notizen aus den Jahren 1860, 1872 und 1876 bis 1896 vor. Breiten Raum nehmen darin die „Gebetsaufzeichnungen“ ein.
Bruckner hatte die Gewohnheit, sich täglich über sein Gebetsleben Rechenschaft zu geben. Vermutlich war er zur täglichen „Révision de vie“ von seinen aus dem Jesuitenorden stammenden Beichtvätern, P. Karl Schneeweiß SJ (in Linz) und P. Karl Graff SJ (in Wien) angeregt worden. Durch sein Verfahren, für die Gebetseintragungen nicht den jeweils aktuellen Kalender zu verwenden, sondern sie in die freigebliebenen Seiten eines älteren Kalenders einzutragen, hat Bruckner diese Notizen bis zu seinem Tod vor der Öffentlichkeit – und sogar vor seinen Schülern, die Zutritt zu seiner Wohnung hatten – zu verbergen versucht. Dass ihm dies vollkommen gelang, wird nicht zuletzt aus der Tatsache ersichtlich, dass in keiner einzigen Anekdote, in keinem einzigen Erinnerungsbericht diese seine Angewohnheit erwähnt wird, im Gegensatz zu seinem ungenierten und nach Meinung des liberalen Wien sehr oft unangebrachten Beten in aller Öffentlichkeit. Man muss sich beim Einblick in Bruckners Gebetsaufzeichnungen daher bewusst sein, an sein Innerstes zu rühren. Die Anzahl der verrichteten Gebete wird mit Strichen unter den jeweiligen Abkürzungen vermerkt. In Summe ergibt dies eine tägliche Gebetszeit von bis zu zwei Stunden.
III.
Diese Gebetszeiten waren für Bruckner zweifellos eine Quelle der Kraft und des Haltes, denn seine Lebenszeit war ja auch eine Zeit großer intellektueller und geistiger Umbrüche. Als Zeitgenosse Friedrich Nietzsches gingen die drängenden weltanschaulichen Fragen nicht spurlos an ihm vorüber. Was den schon unheilbar kranken Bruckner, der damals an seiner unvollendet gebliebenen Neunten schrieb, zutiefst bedrängte, auf das wirft eine Notiz, auf die ich hier näher eingehen möchte, ein bewegendes Licht.
Die ganze Neunte Symphonie ist von Düsternis geprägt. Ohne allzu schnell den Konnex zwischen der Biographie des Todkranken, der um sein Überleben ringt, und der Musik, die er schreibt, herstellen zu wollen: Hier ist die existentielle Erschütterung Klang geworden. Die dunkle d-Moll-Klangfläche des ersten, „Feierlich, Misterioso“ überschriebenen Satzes, das phantastische Nachtbild des Scherzo mit seiner fast dämonischen Heiterkeit (das, wie in der Achten, auch hier an zweiter Stelle steht) wird gefolgt von einem Adagio, vor dem selbst um Nüchternheit bemühte Wissenschaftler bekennen: „Das Adagio ist eine Ungeheuerlichkeit.“ Bruckner weicht hier auffallend von „seiner“ Adagio-Form ab: „Die Steigerung führt nicht zum Durchbruch ins Licht, die Steigerung führt zum letzten Auftritt des Hauptthemas, jetzt aber im doppelten und dreifachen Fortissimo, gipfelnd in einem unerhörten Tredezim-Akkord aus sieben Tönen, eine schreiende Dissonanz, ein Schreckensakkord, eine Katastrophe, nach der die Musik in einer Generalpause abbricht. Der ruhige Ausklang wendet sich erst ganz am Ende friedlich nach Dur, denn im Flimmern und Flackern tonartfremder Töne bebt bis kurz vor Schluss das Entsetzen nach, in einen Abgrund geblickt zu haben“, schreibt Felix Diergarten in seinem jüngst erschienenen Buch.
Dieser „Abgrund“ war, so darf angenommen werden, wohl auch das Entsetzen vor der immer näher rückenden Gewissheit der eigenen Endlichkeit, des nahenden Todes. Oder durfte er, Bruckner, doch darauf hoffen, letztlich aufgefangen zu werden, endlich geborgen zu sein? Diese Frage trieb ihn mit Sicherheit in seinen letzten Jahren um. In einem seiner Notizkalender hatte er sich ein Zitat des berühmten Anatomen Josef Hyrtl (1810–1894) eingetragen, das aus dessen Inaugurationsrede als Rektor der Universität Wien 1864 stammte, und aus Anlass von dessen Tod 1894 wohl in einer Zeitung abgedruckt wurde. Dieses Zitat stellt eine der vordringlichsten, wenn nicht d i e vordringliche philosophisch-psychologisch-anthropologische Grundfrage seit dem 19. Jahrhundert bis in unsere Tage dar.
Mit anderen Worten: Ist unsere Person, der Personkern, den wir als „Seele“ bezeichnen, nur das Ergebnis organischer Vorgänge unseres Gehirns, und erlöschen wir folglich im Tod? Haben wir nur mehr das Nichts vor uns? Oder gibt es eine von den organischen Vorgängen unabhängige Seele, die unsere irdische Existenz überdauert?
Hyrtl hielt die Rede zu Beginn des Studienjahres 1864/65. Da er in wachsendem Maße den Zusammenhang (und nicht den Gegensatz!) zwischen Glaube und Wissenschaft betonte, hatte er sich die Sympathie des liberalen, „aufgeklärten“ Wien verscherzt und sorgte für enorme Aufregung in Wiens Wissenschaftlerkreisen. Nach seinem Tod im Jahre 1894 wird wohl eine Zeitung dieses Zitat in einem Nachruf abgedruckt haben, und Bruckner hatte es sich aufgeschrieben, hatte diese bange Frage aufgegriffen. Dass er, ein gänzlich unliterarischer, im sprachlichen Ausdruck mehr als unbeholfener, aber intelligenter und durchaus an wissenschaftlichen Problemen interessierter Mensch sich gerade d i e zentrale philosophische Frage des ausgehenden 19. Jahrhunderts in der Formulierung Hyrtls notierte, stellt ihn mitten hinein in die Auseinandersetzungen und Anfechtungen seiner Zeit.
Mit diesem „Blick in den Abgrund“ schrieb Bruckner weiter am Finale der Neunten. Hätte er nach den Erschütterungen des Adagio im Finale den Durchbruch zur Apotheose geschafft, wie er es vorhatte? Immerhin waren schon rund 600 Takte der ursprünglichen Particellskizze und 172 komplett instrumentierte Takte des Finale niedergeschrieben.
Die vorhin erwähnte Angewohnheit Bruckners, seine Gebete zu notieren, war Gegenstand mehrerer Studien, und sie wird darin zu einem Teil als Relikt einer barocken Frömmigkeitsübung, zu einem anderen aus der „leistungsbezogenen“ Spiritualität des 19. Jahrhunderts, und schließlich aus dem Skrupulantentum erklärt, das Bruckner von seiner schweren psychischen Krise (die sich unter anderem in Kontrollzwängen geäußert hatte) im Jahr 1867 davongetragen habe. Ob der Wunsch nach Fixierung der verrichteten Gebete tatsächlich aus einer durch Angst um das eigene Seelenheil bestimmten Haltung herrührt, mag dahingestellt bleiben. Niemals hat sich jedoch Bruckner auf seine Gebetsleistung bezogen, wenn das Gespräch sich um sein zukünftiges Schicksal drehte. Vielmehr sah er in der Erfüllung seines Berufes als Komponist seinen eigentlichen Lebensauftrag und seine Berufung auch im religiösen Sinn. Das mit äußerstem künstlerischem Verantwortungsbewusstsein gestaltete Werk war für Bruckner als Ganzes Gottesdienst, weil es das Wuchern mit dem anvertrauten Talent darstellte. Aus dieser Perspektive einer Letztverantwortung ist auch viel von dem so langen und mühevollen Ausbildungsweg zu erklären, vom langsamen Schaffen, vom Verwerfen, Neuschaffen, Überarbeiten, Kontrollieren des schon Geschaffenen.
Der letzte Kalender, der Professoren- und Lehrer-Kalender für das Schuljahr 1894/95, zeigt die zittrigen Schriftzüge eines schwerkranken alten Menschen. Bruckner sucht seine Partituren zusammen, verpackt sie im Hinblick auf die bevorstehende Übersiedlung in die Hofwohnung im Belvedere, macht eine Liste seiner Wertgegenstände – Doktorring, Uhrkette, goldene Dose, Diamantnadel –, notiert die Adresse seines Arztes und seines späteren Testamentsvollstreckers. Die Gebetseintragungen sind zunächst von wechselnder Deutlichkeit, qualvolle Zeugen der labilen psychischen Verfassung, und verwirren sich in zunehmendem Maße. Bruckner ringt um die Orientierung in der Zeit; Datumsangabe, Gebetsaufzeichnung und Notenköpfe werden in eins gesetzt, sind nur mehr Chiffren für eine zunehmende Entfernung aus der zeitlichen Existenz.
Kurzzeitige Besserungen wechseln mit erneuten, immer tieferen Abstürzen. In seinen letzten Lebenstagen wird die Schrift wieder etwas deutlicher. Auf zwei verschiedenen Kalenderseiten trägt Bruckner bis zum 10. Oktober, dem Tag vor seinem Tod, seine Gebete ein.
IV.
Das Finale seiner Neunten Symphonie hat Bruckner mit einem besonderen Choral, „mit einem Lob- und Preislied an den lieben Gott, dem ich so viel verdanke“ beenden wollen, wie er selbst sagte. Da dieser Bericht von dem Arzt Dr. Heller stammt, der mit großer Nüchternheit in den Briefen an seine Frau von Bruckners körperlichem und geistigem Verfall schreibt, können wir dessen Erinnerungen ein hohes Maß an Authentizität nicht absprechen.
Wie aber sollte dieser Choral klingen? Um seine Gestalt haben alle, die versucht haben, das Finalefragment der Neunten in eine aufführbare Fassung zu bringen, sehr gerungen und zu verschiedenen Ergebnissen gefunden. Einigkeit besteht darin, dass dieser Schluss „einen prägenden und überwältigenden Eindruck des Aufschwungs zur laudatio“ hätte vermitteln sollen und dass es sich vermutlich um ein non confundar-Motiv gehandelt hätte, so John A. Phillips, in seinem Aufsatz Neue Erkenntnisse zum Finale der Neunten Symphonie Anton Bruckners (Bruckner-Jahrbuch 1989/90, Linz 1992). Einige Zeit zuvor hatte Bruckner im Freundeskreis die Frage des Finale erörtert, und Rudolf Weinwurm habe ihm das alte Kirchenlied Christ ist erstanden vorgeschlagen.
Dies berichtet auch übereinstimmend Franz Schneiderhan, der ehemalige Vorstand des Wiener Männergesangvereines: „Anton Bruckner war im Musikvereinssaal bei einer Probe eines seiner Werke, das der Männergesangverein aufführte. Nach deren Beendigung begleitete ich den Meister, der den Wunsch aussprach eine Tasse Kaffee zu trinken. Wir nahmen an einem der auf der Ringstrasse vor dem Café Kremser stehenden runden Tische Platz. Im Laufe des Gespräches fragte ich auch nach den weiteren Schaffensplänen. Er antwortete, daß er an dem Finale der IX. Symphonie arbeite, nahm einen Bleistift zur Hand, zog Notenlinien auf die Marmorplatte des kleinen runden Tisches und sagte: ,Das ist das Thema, welches ich für das Finale verwenden will!‘ und schrieb hin die alte Kirchenweise, die früher in Wien und anderwärts vom Priester angestimmt wurde, nachdem er am Karsamstag bei der Auferstehungsfeier das Allerheiligste enthüllt hatte: Der Heiland ist erstanden.“
Dieser von Bruckner als Osterlied zitierte Gesang findet sich in Bruckners letzten Lebensjahren auch in seinen Gebetsaufzeichnungen in der österlichen Zeit wieder. Es ist dies aber nichts anderes als das Motiv des Non confundar, denn die letzte der beiden Strophen in der zweiten, von Michael Denis und Adolph Hasse stammenden Fassung lautet: “Mein Glaube darf nicht wanken, / o tröstlicher Gedanken! Ich werde durch sein Auferstehn / gleich ihm au meinem Grabe gehn. Halleluja!”
Und hätte Bruckner die mit diesem Choral apotheotisch enden sollende Symphonie wirklich, wie er es in seinen letzten Jahren so oft geäußert hatte, „Dem lieben Gott“ gewidmet? Oder hätte die Düsternis gesiegt? Die Ansichten hierüber sind in der Fachwelt sehr geteilt. Seit der Veröffentlichung aller Taschennotizkalender-Eintragungen durch mich im Jahr 2001 (siehe oben) hat dieses Zitat Hyrtls eine eigene Wirkungsgeschichte mit Eigendynamik entwickelt. Während bis dahin meist das Bild eines unerschütterlich in seinem Glauben ruhenden Bruckner, dem bestenfalls einige Relikte aus seiner Neurose zugestanden wurden, die Biographik dominierte (sofern er nicht, wie in einem Theaterstück 1924 geschehen, zum trivialen und dümmlichen Musikanten Gottes stilisiert wurde), so wurde er nun für manche Autoren zum erschütterten Zweifler, der in seiner letzten Musik nur mehr das Grauen vor dem Nichts, das Entsetzen vor der Zerstörung formulieren konnte.
So ist etwa auch Klaus-Heinrich Kohrs in seinem sehr lesenswerten und tiefen Buch Anton Bruckner. Angst vor der Unermeßlichkeit der Ansicht, dass „eine Widmung an den ,lieben Gott‘ auf der hier realisierten Sprachhöhe der Verstörung Blasphemie gewesen wäre“. Und in seinem Aufsatz … wenn er‘s annimmt“. Hat Bruckner seine 9. Symphonie dem ,lieben Gott‘ gewidmet? im Bruckner-Jahrbuch 2018–2020 konstatiert derselbe Autor: „Die große Krise des Adagios hat den Blick radikal verwandelt. Stand die Widmungsidee am Anfang der Arbeit an der 9. Symphonie […], so hat sich das Werk im Kompositionsprozess de facto immer mehr von dieser entfernt. Ein wie auch immer zu fassender Jenseitsgedanke verwandelte sich immer mehr in einen Angstgedanken. Blicke ins Unermessliche gerieten zur Katastrophe und mit ihr zur Annihilation. […]“
Bruckner macht es uns nicht leicht mit dem Versuch, sein geistiges-geistliches Leben zu verstehen. Welche Quellen könnten uns hierin helfen? Die Philologie? Die nüchterne Untersuchung des Notentextes? Tatsache ist: Der Notentext der Neunten weist keine Widmung an den „Lieben Gott“ auf. Aber wie könnte er es auch? Die Symphonie war ja noch nicht vollendet, und Widmungen vergeben hat Bruckner erst explizit nach der Vollendung eines Werkes.
Hilft die Biographik weiter? Hier verfügen wir schon über mehr Quellen: Bis zuletzt berichten Zeugen wie etwa Dr. Richard Heller, der behandelnde Arzt Bruckners, der Klosterneuburger Augustiner-Chorherr Josef Kluger, mehrere Freunde wie etwa Carl Almeroth, Adalbert von Goldschmidt und Amalie Klose, dass Bruckner weiter an seinem Widmungsplan für die Symphonie festhielt bis zuletzt.
Fest hielt Bruckner aber auch an seinen Gebeten, die er jeden Abend in seinen Kalender eintrug, ohne dass jemand außer ihm etwas davon wusste. Diese Gebete waren, wie sich zeigt, nicht bloße Routine. Denn in den letzten Lebenstagen tritt zu den uns bekannten Abkürzungen ein neues Sigel hinzu: ein dreimaliges großes „D“, „D D D“, einmal sogar im Dreieck angeordnet. Die Abkürzung für „Deus, Deus, Deus“? Das Sigel für die Trinität? Wir wissen es nicht. Schweigende Zeugen für Bruckners intensives Gebetsleben bis zuletzt. Auch die Verstörung, auch ein Hilfeschrei kann Ausdruck einer Beziehung sein, ist es vielleicht besonders intensiv.
So hinterlässt Bruckner uns auch heute viele Fragen, die auch heute noch, so erstaunlich es klingt, in der Musikwissenschaft zu sehr gegensätzlichen Ansichten führen. Auch die „Zitate“ in den Symphonien Bruckners, der Einbau mancher Phrasen aus eigenen oder fremden Werken – hier vor allem aus der eigenen Kirchenmusik oder den Bühnenwerken Richard Wagners – gehören in dieses Problemfeld. Während manche Musikologen versuchen, die Zitate semantisch zu entschlüsseln (wie es etwa der verehrte Doyen der Musikwissenschaft, Constantin Floros, bei Bruckner, aber auch etwa bei Alban Berg meisterhaft unternommen hat), so finden andere, wie etwa der renommierte Wagner-Forscher Egon Voss, es würden diese Phrasen durch eine Übertragung in einen anderen Kontext, in die Symphonik, ihre Bedeutung verlieren und ihr „Zitatcharakter“ sei, so Voss, „nichts anderes als eine Legende, ein(en) Mythos“.
So wird wohl jeder von uns sich sein eigenes „Bruckner-Bild“ machen. Das letzte Wort beim Vortrag überlassen wir aber wieder Anton Bruckner, ihm und seiner letzten Motette für den liturgischen Gebrauch, die er, 40 Jahre nach dem eingangs abgespielten Magnificat, für den Karfreitag in St. Florian komponiert hat: das Vexilla regis (WAB 51) auf einen Text des Venantius Fortunatus (6. Jhdt.), in dem das Kreuz als die einzige Hoffnung gepriesen wird: „O crux ave, spes unica“.