Die legendären Schülerkreistreffen mit Benedikt XVI. in Castel Gandolfo waren im Kern Oberseminare mit den Alleinstellungsmerkmalen Kürze und Leitung durch Prof. Dr. Papst. Am Schluss fand sich jedoch immer ein halbes Stündchen, in dem der Lehrer zum Freund wurde, der einen kleinen Einblick in seine ganz persönlichen Gedanken gab. 2009 hatte er kurz vor der Begegnung seine erste Afrikareise absolviert. Ein Orkan brach in der Weltpresse los: Er hatte erneut bekräftigt, dass die Kirche auch angesichts der hoch gefährlichen AIDS-Bedrohung im Schwarzen Kontinent Kondome absolut verbiete. Das erzählte er nun den Schülern. Mit einem Mal sank ihm der Kopf auf die Brust. Kaum hörbar murmelte er: „Aber vielleicht geht es in solchen Situationen doch nicht ohne Präservative“.
I.
Für mich zeigte sich in diesem Moment unverstellt die Persönlichkeit Joseph Ratzingers – Ratzinger in a nutshell. Da ist der scharfsinnige, klar analysierende Denker, der liebevolle Seelsorger für die Menschen in Not, der nüchtern Urteilende. Und da ist ebenso der gnadenlose Verfechter der lehramtlichen Position, die seit Pius XI. („Casti connubii“) abstrichlos bis zu seinem Vorgänger Johannes Paul II., dem eigentlichen Verfasser der Enzyklika Humanae vitae (Paul VI., 1968) und nun auch von ihm gehalten wurde – ohne die inzwischen sichtbar gewordenen Schwächen der Position realistisch ins Visier zu nehmen.
Diese Paradoxie, diese Widersprüchlichkeit der Positionen zeigte sich immer wieder und unverhüllt, seit er gesamtkirchliche Verantwortung übernommen hatte – erst als Glaubenspräfekt, dann als Summus Pontifex. Hier die Sorge um den Glauben der – wie er sie immer nannte –„kleinen Leute“, die aufrichtige Güte, mit der er den Menschen begegnen konnte – aber da war ebenso ein rigider Traditionalismus, der sich um die wirklichen Sorgen eben dieser Leute wenig kümmerte, da war auch die Härte, mit der er viele theologische Existenzen durch seine Lehrsanktionen vernichtete. Man kann die Liste mit zahlreichen Exempeln verlängern. Vielleicht haben jene Italiener recht, die ihm den Übernamen
Pastore tedesco zulegten. Das kann man übersetzen mit „Hirte aus Deutschland“, aber auch mit „Schäferhund“. Er war beides.
Aber wie kann man sich diese Gleichzeitigkeit der Unvereinbarkeiten erklären? Das ist mitnichten eine akademische Frage. Seit Ratzinger 1981 als Leiter der römischen Glaubenskongregation die theologische Linie des polnischen Papstes vorgab, hatte er eine kirchengeschichtlich relevante Position inne, von der aus er – nolens volens – die Geschicke zunächst der zeitgenössischen Glaubensgemeinschaft, aber ebenso der kommenden Kirche nachhaltig und nachdrücklich beeinflussen musste. Wer war er und was hat er bewirkt? Die Antwort auf diese Fragen ist auch die Antwort auf die Frage, was von diesem Menschen, diesem Pontifex bleiben kann und bleiben wird.
Wir müssen dieserhalb als erstes auf seine Biografie schauen. Der Gendarmensohn aus Marktl am Inn hatte mit der Muttermilch Werthaltungen aufgenommen wie Vertrauensseligkeit, Grundehrlichkeit, die Formen der altbayerischen Frömmigkeit – alles in allem zusammenfassbar als Naivität – im Ursinn des Wortes, also als Ursprünglichkeit, Unverbildetheit, Gutwilligkeit. Dazu gehörte auch eine weit reichende Großzügigkeit im Umgang mit Abweichungen von der eigenen Position. Wie sich zeigen sollte, war sie alles andere als die Haltung des „anything goes“. Ratzinger ist der Grundbefindlichkeit seines Wesens treu geblieben. Darauf hat er stets bestanden. Sie hat aber nachmals zu Entscheidungen geführt, vornehmlich in der Personalpolitik, welche sich seinen eigentlichen Zielen gegenüber als kontraproduktiv erwiesen. Sie steht auch hinter jener Paradoxalität, die wir als Ratzingers Charakteristikum festgestellt haben.
In seiner universitären Ausbildung (in Freising und in München) kam er nie wirklich mit der seinerzeitigen Mainstream-Theologie der Neuscholastik in Berührung, wie sie an den römischen Universitäten gelehrt wurde, aber auch nicht mit den modernen philosophischen Diskussionen, was in Rom auch nicht der Fall war. Er wurde hingegen stark angezogen von der Theologie der Vorzeit, die aber nicht mit Thomas von Aquin begann, sondern bei den Kirchenvätern der ersten nachbiblischen Zeit. Näherhin war er fasziniert von Augustinus, mit dem er manche Ähnlichkeit hatte: Denkkraft, weiter Horizont, bischöfliche Verantwortung, Rigorosität gegen Andersdenkende und seelsorgliche Leidenschaft. Mit der Ideologie des Bischofs von Hippo nahm er auch dessen christlich geformten Platonismus in sich auf, also dualistisches, idealistisches, abgehobenes Philosophieren und Theologisieren.
Auf viele Zeitgenossen wirkte Ratzinger darum wie ein Bewohner eines anderen Sternes, der die Probleme unseres Planeten irgendwie fehl urteilte. Mit Augustinus teilte er auch dessen Schwerpunkt Ekklesiologie – doch die Kirche, über die sie beide nachdachten, war nicht die Kirche des 20. Jahrhunderts, die mannigfachen Stürmen ausgesetzt war. Kirche war vor allem Hierarchie, Unfehlbarkeit, Klerikerregiment. Bezeichnend: Die Laien kommen in seinem umfangreichen Werk kaum vor. Das Register der von Vinzenz Pfnür redigierten Bibliografie zählt 9 Belege auf, doch keine dieser Arbeiten befasst sich in recto mit ihnen, sondern nur (und manchmal sehr) in obliquo. Das Lemma Bischof (mit Ableitungen) weist 53 Titel auf, darunter viele mit direkten Abhandlungen zum Thema. Die so oft beschworenen „kleinen Leute“ erscheinen in diesem Licht eher als paternalistisch Betreute denn als eigenständige Subjekte in der Kirche, denen das gemeinsame Priestertum und der sensus fidelium als Glaubensbegründungsinstanz zu eigen sind. So jedenfalls das Zweite Vatikanische Konzil.
Diese Kirchenversammlung ist dennoch eine wichtige Wegmarke im Leben Joseph Ratzingers. Nach seiner Promotion über Augustins Lehre von der Kirche (Volk und Haus Gottes, 1953) wurde er rasch auf seinen ersten Lehrstuhl berufen – 1954, also mit 27 Jahren – ein theologischer Teenager, wie später Michael Schmaus süffisant bemerkte. 1959 kündigte Papst Johannes XXIII. das Konzil an: Ratzinger kam im gleichen Jahr auf den Lehrstuhl für Fundamentaltheologie in Bonn. Sein Ruf als glänzender Lehrer hatte sich windschnell verbreitet. Er war auch bis zu Kardinal Frings gedrungen, dem für Bonn zuständigen Oberhirten.
So nahm er ihn als Konzilsexperten (Peritus) mit nach Rom, als 1962 die Kirchenversammlung endlich startete. Der junge Professor und der alte Bischof lagen auf der gleichen Wellenlänge: Sie unterstützten die Devise des Papstes: Aggiornamento – die Kirche kann nur ihrer Aufgabe gerecht werden, wenn sie mit den Denkströmungen der Zeit auf Augenhöhe steht. Der Kölner Kardinal war fast blind. Er ließ sich von seinem Experten auf Latein die Reden abfassen, die er in der Aula halten wollte, lernte sie auswendig und trug sie vor – und veränderte zusammen mit dem Kardinal Liénart von Lille die konziliare Großwetterlage gründlich und grundstürzend. Dass das Vaticanum II zum Anstoß radikaler Reformen geworden ist, hat die Kirche letztendlich Ratzinger zu danken oder, je nach Position, zur Last zu legen. Er trug wesentliche Gedanken vor allem zu den die Kirche betreffenden Dokumenten bei. Hier lagen ja seine speziellen Kenntnisse. Namentlich setzte er sich für eine größere Selbständigkeit des Episkopates gegenüber dem Primat ein.
II.
Die deutschen Fakultäten begannen sich um den glanzvollen Theologen geradezu zu reißen. 1963–1966 Münster, Ordinarius für Dogmatik und Dogmengeschichte. 1966 ab Wintersemester Ruf ins altehrwürdige Tübingen; allerdings war der Ruf leicht gebrochen. Viele Fakultätskollegen wollten ihn gar nicht haben. Doch ein anderer junger Gelehrter legte sein ganzes, ebenfalls beträchtliches wissenschaftliche Gewicht in die Waagschale. Sein Name: Hans Küng. Seine Absicht: Die Studierenden sollten eine möglichst große Breite theologischer Positionen kennen lernen, nicht bloß die des Schweizers. Er kam.
Doch die Schicksalsstunde Ratzingers nahte. 1967 war er Dekan und organisierte das 150-jährige Jubiläum der Rückkehr der katholischen Fakultät an den Neckar (sie war seinerzeit nach Ellwangen ausgelagert worden). Man hatte es ihm nicht zugetraut, aber gekonnt wie der Münchener Oberbürgermeister zapfte er das Fass Festbier an – als ob er nie etwas anderes getan hätte. Doch, von kaum einem erahnt, neigte sich die alte Universitätsherrlichkeit schon dem Ende zu. Das Wendejahr 1968 zog herauf – ein Synonym für den Zusammenbruch des etablierten Weltgefüges. Die Truppen des Warschauer Paktes besetzten Prag und beförderten, nicht gewollt und nicht gewusst, das Ende des Sowjetreiches. Paul VI. publizierte Humanae vitae und leitete den Bruch der absolutistischen Kirchenordnung ein, die seit dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869/70) bestimmend geworden war.
Und da war die Studentenrevolution, die sich in ganzer Radikalität gerade in Tübingen manifestierte. Jahrelang hatten die Studenten eine Erneuerung der verkrusteten Universitätsstrukturen bescheiden angemahnt. Dann hielten sie es nicht mehr aus. Sie entlarven in revolutionärer Attitude die Machtdiskurse der Ordinarien. Jede Autorität wird kritisch hinterfragt und gegebenenfalls gestürzt. Institutionenkritik wird zum Prinzip. Freiheit und Gleichberechtigung für alle, Selbstverwirklichung, Subjektwerdung sind die Parolen, mit denen die Festungen des Establishments gestürmt werden. Bei Licht beschaut, treibt die Studenten der gleiche Impuls wie die Majorität der Konzilsväter: Aggiornamento. Aber wie anders wird er umgesetzt!
Wir machen uns heute kaum noch eine Vorstellung, wie die Stellung eines deutschen Ordinarius an der Universität aussah. Etwas zugespitzt lässt sich sagen: Er war von fast gottgleicher Würde, de facto unfehlbar, unbestreitbar nahezu allmächtig. Jetzt aber skandierten die Hörer*innen (!): „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“. Sie legten sich auf die Stufen der Treppen, die zu den Professorenbüros führten; sie brüllten die Dozenten im Hörsaal nieder, sie demütigten sie auf alle erdenklichen Arten.
Für den feinnervigen, zart gebauten, sensiblen, ästhetischer Ordnung verpflichteten bayerischen Dogmatiker war das Apokalypse pur. „Ich habe das grausame Antlitz dieser atheistischen Frömmigkeit gesehen“, notiert er in seinen Memoiren. Während Kollege Küng versucht, die eigentlichen Anliegen der jungen Leute zu verstehen, ergreift Ratzinger die Flucht. Die nagelneue Regensburger theologische Fakultät hatte noch einen Lehrstuhl unbesetzt. Er sollte eigentlich mit einem Judaisten besetzt werden. Nun widmete man ihn zum zweiten Dogmatik-Ordinariat um – und war stolz, auf diese Weise dem berühmten Jungtheologen Asyl bieten zu können. Dieser schien gerettet! Das war 1969.
So weit die äußere Situation. Für Joseph Ratzinger war sie der Anstoß zu einer völligen Neuausrichtung seines Denkens und Handelns. Es waren nicht nur die Veränderungen an der Fassade, die ihn beunruhigten. Ihn plagte die Vorstellung, er selber habe mit seiner Liberalität wesentlich zur Revolution beigetragen, obschon er nichts so verabscheute wie eben diese. Er sah sich jedenfalls seitdem in der Pflicht der Wiedergutmachung, also geleitet zu entschiedener Verteidigung des Alten, der vorkonziliaren Ordnung in genere et in singulari, kurz zu dem, was er eigentlich stets in bayerischer Traditionalität gelebt und gelehrt hatte.
So hat er, wie erwähnt, stets nachdrücklich darauf bestanden, dass er sich auch in Tübingen nicht verändert habe, wie man gern mit Vergleichszitaten widersprüchlicher Richtung zu beweisen suchte. Doch die Wirklichkeit sah etwas anders aus. Richtig ist: Nach wie vor verstand er den katholischen Glauben wie einen weiten großen Raum. Wer sich darin bewegte, konnte mit seiner Toleranz rechnen. Ihm war es gleich, ob jemand ganz rechts oder ganz links agierte, solange die Grenzen des Raumes nicht verletzt wurden. Diese Haltung beseelte ihn auch nach Tübingen – darin hat er sich in der Tat nie gewandelt. Nur war der Raum der Toleranz verkleinert.
Die begrenzenden Markierungen hatten sich verändert, und die neuen wurden mit hohen Mauern bewehrt. Plötzlich sahen sich Theologen, die immer „drinnen“ gewesen waren, „draußen“. Und dort traf sie mit aller Härte das Schwert Ratzingers – Johann Baptist Metz, Edward Schillebeecks, Kollegen Küng und viele andere. Das Schwert bestand inzwischen nicht mehr aus bloßen Worten, sondern in der fast absoluten potestas des obersten Glaubenshüters im Vatikan. Aus dem guten Hirten wurde der Schäferhund, der seinem Herrn, dem ebenfalls traditionalistischen Johannes Paul II, rastlos zuarbeitete. Der Mann, der von so herzlich überströmender Liebenswürdigkeit sein konnte, wurde zum „Panzerkardinal“.
Als er am 19. April 2005 dem polnischen Papst nachfolgte, setzte er mit neuer Macht das alte Programm fort. Bis 1968 war er eher romkritisch, skeptisch gegenüber der Gewaltenfülle des obersten Pontifex entsprechend dem Vaticanum I. Nun aber schien ihm eben diese als einziger wirklicher Garant des Substanzerhaltes der römischen Kirche. Damit verbunden war eine reservierte Haltung gegenüber der Ökumene. An sich hat er sie bejaht: Nur wenige wissen, dass die berühmte Konvergenzerklärung zur Rechtfertigungslehre von Augsburg (1999) ohne sein Engagement noch bis zur letzten Minute nicht zustande gekommen wäre. Aber er ist auch der Verfasser des Dokumentes Dominus Jesus aus dem Jahr 2000, in dem er mit schroffen Worten auf dem Alleinvertretungsanspruch der Papstkirche besteht und vor allem den reformatorischen Kirchengemeinschaften eine echte ekklesiologische Bedeutung abspricht.
Er hatte 1968 gewissermaßen die Spur gewechselt. Vom theologischen Gestalter des reformerischen Zweiten Vatikanischen Konzils wird er nun zu dessen – ganz, ganz milde ausgedrückt – kritischen Begleiter. Als Pontifex reiht er sich bewusst in die lange Linie der Partisanen des Ersten Vatikanums ein. Behutsam anfangs, dann immer unverblümter kritisiert er die Aufgeschlossenheit der Kirchenversammlung von 1962/65. Man kann das unter anderem sehr treffend belegen an seiner Haltung zu deren erstverabschiedetem Dokument, der Konstitution über die Liturgie Sacrosanctum concilium.
Die dort angestoßene Reform hat Ratzinger von Anbeginn an reserviert betrachtet. Dabei spielte eine nicht unbedeutende Rolle sein ästhetisches Gefühl: Sie war nicht mehr schön; sie dünkte ihm banal. „Die Liturgie hat … eine innere Verbindung zur Schönheit“, steht in dem nachsynodalen Schreiben Sacramentum unitatis von 2007. Die neue Gestaltung aber ist eine „Verdunkelung Gottes“, das Verlöschen des „Glanzes der Wahrheit“, schiebt er im Vorwort zur russischen Ausgabe des Bandes 11 der „Gesammelten Schriften“ nach. Daraus mag sich auch die übergroße Nachsicht gegenüber den Pius-Brüdern erklären, die die Liturgiereform radikal ablehnen. Er hebt nahezu alle Einschränkungen diesbezüglich auf.
Die tridentinische Messe erklärt er zum „außerordentlichen Ritus“, die vatikanische zum „ordentlichen“. Das Wort außerordentlich aber hat laut Duden zwei Bedeutungen: Es kann heißen vom Gewohnten abweichend („eine außerordentliche Situation“) und über das Gewöhnliche hinausgehend, hervorragend („Eine außerordentliche Begabung“). Was hat die Maßnahme für den Papst bedeutet? Jedenfalls hat es ihn sehr traurig gemacht, als sein Nachfolger sie 2021 aufhob.
III.
Ich denke, dass uns der Versuch einer Charakteranalyse Ratzingers ganz von selbst zur Frage nach der bleibenden Bedeutung seiner Amtszeit geführt hat. Spätestens die Untersuchungen zum Missbrauchsskandal haben überdeutlich werden lassen, dass die römisch-katholische Kirche unter systemischen Defiziten leidet. Die Täter*innen waren in den meisten Fällen keine Sexmonster. Vielmehr ging es ihnen um Machterhalt und Machtdemonstration mittels jener Haltung, die Papst Franziskus „Klerikalismus“ nennt, also Verdemütigung der als Untertanen, als (in jeder Hinsicht) kleine Leute begriffenen Laienmenschen.
Des Weiteren haben einschlägige Studien ebenso klar herausgestellt, dass diese Haltung erst eigentlich im Konzil von 1869/70 gezeugt worden ist. Da ging es um eine unerhörte Machtdemonstration der Kirche gegenüber den erstarkenden säkularen Mächten und Gewalten. Alle Macht der Kirche konzentrierte sich auf eine einzige Person. Diese musste nun alles daran setzen, die Macht auch zu behalten. Binnenkirchlich resultierte daraus eine doktrinäre und disziplinäre Unerbittlichkeit der Amtsträger auf allen Stufen.
Der lange Schatten des Ersten Vatikanum liegt auch über der Amtsführung Benedikt XVI. Sein platonischer Idealismus, seine schlichte Frömmigkeit, seine unkritische Vertrauensseligkeit, seine weitgehende Unkenntnis der Hintergründe der gegenwärtigen Strömungen haben verhindert, dass die analytische Kraft seines Denkens, seine theologische Brillanz, die amtlich bedingte Konfrontation mit vielen Denkformen die Oberhand behielten. Er hätte kraftvoll jene Wende einleiten können, die sich – das erscheint immer deutlicher – für die Existenz der Glaubensgemeinschaft unausweichlich ist. Die Widersprüchlichkeit seines Wesens hat das verhindert und ihn am Ende scheitern lassen.
Man kann sagen: Ratzinger/Benedikt ist eine tragische Figur kat’exochen. Vielleicht lag seine eigentliche Berufung im Studium der Theologie – zu dem er, von nahem betrachtet, eigentlich niemals Zeit hatte. Die meisten seiner nachqualifikatorischen Schriften sind Gelegenheitsschriften, streng wissenschaftliche Werke sind in seiner Bibliografie recht rar. Er wurde von Anfang an mit vielen anderen Aufgaben im kirchlichen Dienst belastet, vor allem von jener, zu der er nicht wirklich geeignet war: das Leiten. Welche theologischen Schätze sind uns deswegen entgangen? Vielleicht eine epochale Analyse des Themas Glaube und Vernunft, das ihn seit der Bonner Zeit umgetrieben hat, aber nie umfassend
behandelt wurde.
Aber ist er wirklich gescheitert? Letztbestimmend ist die (im besten Sinne) naive Ehrlichkeit seines Wesens. Sie hat ihn die Entscheidung treffen lassen, die ganz ohne Zweifel in die Geschichtsbücher eingehen wird. Als er sah, dass ihm die Kraft zum Durchregieren fehlte, hat er demissioniert. So viel kann man mit Sicherheit sagen, auch wenn nicht völlig klar ist, welche Ereignisse und Geschehnisse insgesamt ihn de facto dazu bewogen haben. Man darf jedoch nicht übersehen, dass ein den meisten unvorstellbarer Mut dazu gehört hat.
Der vor ihm letzte Papst, der (mehr oder weniger) freiwillig sein Amt aufgegeben hatte, war 1294 Cölestin V., der einfältige Einsiedler Pietro da Morrone aus den Abruzzen. Seine Amtszeit währte ein halbes Jahr. Sechs Jahre später liegt die Jenseitsfahrt Dantes, die er in der Divina Comedia gestaltet hat. Diese entsteht zwischen 1307 und 1320, also nur wenige Jahre nach dem Ende Cölestins (1296 in Fumone). Im Inferno begegnet der Dichter dem abgedankten Papst. In der Hölle? Ja, denn er war (Inf. 3,59 f.) „Colui che fece per viltà il gran rifiuto“, also der, “der feig den großen Auftrag von sich wies“ (Übersetzung Karl Vossler).
Dieses Verdikt des großen Dichters hat man nie ganz vergessen – auch bei Ratzingers Rücktritt nicht. Der einstige Sekretär Johannes Paul II. und nachmalige Kardinalerzbischof von Krakau (von Benedikt ernannt), Stanisław Dziwisz, konnte es sich nicht verkneifen zu konstatieren: Auch Jesus sei nicht vom Kreuz herabgestiegen. Il gran rifiuto – Benedikt XVI. kannte sehr wohl diese Assoziationen. Er hat sich nicht beirren lassen.
Was also wird nun bleiben von diesem in allem großen Christenmenschen? Das lässt sich heute noch nicht auch nur annähernd definitiv sagen. Zur Wirkungsgeschichte einer Persönlichkeit gehört immer auch die Nachgeschichte; die in diesem Fall kaum begonnen hat. Gleichwohl kann man einige Puzzlesteine liefern, die bleibend gültig sind und somit auch ins endgültige Bild gehören. Dazu zählt in jedem Fall der Entschluss von 2013. Er besitzt im Übrigen seine eigene Ironie.
Ausgerechnet der Mann, der fast ein halbes Jahrhundert Protagonist des Denkens von 1870 gewesen ist, der in diesen Jahren die Erhabenheit und Exzellenz des Petrusamtes unermüdlich herausgestellt hat, ausgerechnet er also hat den Papat entzaubert und entmythologisiert. Im Dunstkreis des Ersten Vatikanischen Konzils dichtete man das Te Deum um: „Te papam laudamus, te Dominum confitemur – Großer Papst wir loben dich…“. Der römische Bischof ist gottgleich. Das erschien als genuin katholisch! Von nun an aber ist der Pontifex ein Mensch, der versagen, der überfordert werden, der keine Dimension der Hinfälligkeit mehr verbergen kann. Das hat großen Nutzen für die Kirche. Der Papst kann zu sich selber stehen – er ist weder auf graue Eminenzen angewiesen noch muss er die Mühsal einer Vertuschung von Krankheit und Verfall auf sich nehmen. Er stellt sich damit in den Dienst jener Wahrhaftigkeit, die die Kirche zu großen Stücken in den Wirren der letzten Jahrzehnte verloren hat.
So gesehen hat Benedikt XVI. die unheilvolle Kette des neuzeitlichen Papalismus ein für alle Male zerrissen und neue Perspektiven für das Petrusamt eröffnet. Dem gegenüber verblassen viele andere segensreiche Entscheidungen seiner Amtszeit. Ein Maßnahmenpaket sollte man aber doch erwähnen: Das sind die drei Enzykliken über die so genannten göttlichen Tugenden Glaube, Hoffnung, Liebe, vornehmlich die erste mit dem Initium Deus caritas est von Weihnachten 2005 – seine Antrittsenzyklika, in der gewöhnlich die Päpste eine Art Programm für ihre Amtszeit entwerfen. Wie noch kein Dokument vergleichbarer Art zuvor würdigt er unter diesem Stichwort nicht bloß die geistige Liebe (Agape), sondern ausdrücklich auch den körperlichen Eros. Das war so noch nicht geschehen.
IV.
Und noch ein Letztes: eine völlig vergessene, aber sehr bedeutsame Entscheidung: 2007 erklärte er, dass der jahrhundertelang als dogmatisch angesehene Limbus puerorum, der jenseitige Aufenthaltsort ungetauft verstorbener Kinder, nur eine nicht verbindliche Lehrmeinung sei. Diese Entscheidung hat erhebliche Folgen für das Verständnis dogmatischer Lehrentwicklung in der Kirche, einem Hauptstreitpunkt der gegenwärtigen binnenkirchlichen Diskussion, etwa beim Synodalen Weg.
Nahezu ein Jahrzehnt hat Ratzinger nach seiner Amtszeit noch gelebt. Es war nicht überstrahlt von der Abendsonne nach einem langen Arbeitstag. Auch hier nur zwei Beispiele. Zum einen haben konservativ-traditionalistische Kreise wiederholt versucht, den Emeritus vor den eigenen Karren zu spannen. Nicht immer hat er widerstanden und damit, gewiss nicht in bewusster Absicht, die Agenda seines Nachfolgers beeinträchtigt. Die beiderseitigen Bekundungen, es passe kein Blatt Papier zwischen sie, konnten an den Fakten wenig ändern.
Irritierend wirkte in diesem Kontext auch der äußere Habitus Benedikts: Schlichte Gemüter mindestens konnten sich des Eindrucks nicht erwehren, es existierten halt doch zwei Päpste. Sekretär Gänswein gab dem Nahrung, als er, wenig erleuchtet, dozierte, es gebe eben einen Papst fürs Spirituelle – Ratzinger – und einen fürs Grobe – Franziskus. Der Vatikan sollte dringend eine Regelung verabschieden, in dem die Lebensform eines zurückgetretenen Pontifex moderiert wird.
Das zweite Beispiel ist der Umgang mit den unglückseligen Missbrauchsvorwürfen. Was gern übersehen wird: Benedikt war der erste hochrangige Kirchenvertreter, der sich dezidiert und robust gegen die bisherige kirchliche Taktik der Vertuschung und Minimalisierung gewandt hat. Noch unter seiner Ägide als oberster Glaubenshüter veröffentlichte die Glaubenskongregation 2001 ein Vademecum zum Umgang mit dem Missbrauch: Alle Fälle sollten nun nicht mehr auf Diözesan-, sondern auf Vatikanebene behandelt und entschieden werden. Auch die Verjährungsfristen wurden verlängert. 2010 hat er dann als Papst die Vorschriften verschärft, auch die Fristen nochmals verlängert. Gleichwohl hat ihn bis in die letzten Tage der massive Vorwurf der eigenen Vertuschung von Opfern in seiner Zeit als Erzbischof von München und Freising verfolgt. Er ist gestorben als Beschuldigter in einem in Traunstein eingeleiteten Zivilprozess. Das ist trotz seines Todes noch nicht ausgestanden. Neue Vorwürfe stehen im Raum.
Ratzinger war, alles in allem, eine hoch bedeutungsvolle, aber auch eine tief tragische Gestalt. Am Ende ließen seine physischen Kräfte rapide nach – das Sehen, das Hören, das Sprechen, die Bewegung. Der Tod nahm ihn am 31. Dezember 2022 in seine erlösenden Hände. Es war der Festtag des Papstes Silvester I., als dessen Charakteristikum seine Angst und Ängstlichkeit in Erinnerung geblieben ist (Fresken in der Silvesterkapelle bei der römischen Kirche SS. Quattro Coronati). Am Vortag des Epiphaniefestes 2023, des Festes der Erscheinung der Herrlichkeit des Herrn, wurde der Papa emeritus auf dem Petersplatz mit einem von seinem verfallsgezeichneten Nachfolger geleiteten Requiem aus dieser Welt verabschiedet. Es war eine ganz neue Liturgie, mit der der Wahrer des Alten der Barmherzigkeit dessen übergeben wurde, der gesagt hatte: „Siehe, ich mache alles neu“ (Apok 21,5).