Medizinische Maßnahmen orientieren sich am Dreischritt „Anamnese – Diagnose – Therapie“. Je genauer ein Patient seine Beschwerden und deren Auftreten beschreiben kann, umso gezielter lässt sich deren Ursache ermitteln. Mit nur zwei Fragen kommt man nicht nur einer Diagnose, sondern auch einer Therapie näher: „Was hast Du? – Was fehlt Dir?“ Es ist bezeichnend für diese Fragen, dass sie mit einem „zu viel“ und einem „zu wenig“ sowohl Krankheitssymptome erfassen als auch deren Überwindung in den Blick nehmen: Was fehlt, kann ergänzt werden. Was im Übermaß vorhanden ist, muss reduziert werden. Es liegt nahe, diese Möglichkeit auch für Diagnose und Therapie der Kirchenkrise einzusetzen. Allerdings ist frühzeitig zu bedenken, dass Therapien in der Medizin unterschiedliche Ziele haben. Im günstigsten Fall ermöglichen sie eine vollständige Heilung. Im ungünstigen Fall sind sie lediglich palliativ ausgerichtet. Dann ist das Grundleiden nicht mehr zu kurieren. Aber das Leiden am Leiden kann verringert werden.
In jeder Therapie ist der Faktor „Zeit“ entscheidend. Denn es kommt darauf an, dass der Patient wieder Lebenszeit hinzugewinnt oder zumindest der noch verbleibenden Zeit Lebensqualität abgewinnen kann. Über den Erfolg einer Therapie entscheidet auch der Zeitpunkt, an dem sie eingeleitet wird. Mancher Patient könnte gerettet werden, würde rechtzeitig gehandelt. Auch hier drängt sich eine Analogie zur Kirchenkrise auf: Wieviel Zeit bleibt noch, um jene Probleme zu lösen, die ihre Zukunftsfähigkeit in Frage stellen? Reicht die Zeit, um ihre Rückständigkeit gegenüber der modernen Kultur wettzumachen? Oder zeigen sich an der Kirche bereits Zeichen des kulturellen und religiösen Absterbens? Kommen allenfalls noch palliative Optionen in Betracht?
Vielen Patienten, die nicht mehr zu retten sind, hat man oft die Wahrheit über ihren Zustand verschwiegen. Stattdessen wurde ihnen Hoffnung auf neue Therapieansätze, auf ein Wunder, auf Rettung in letzter Sekunde gemacht? Wie steht es derzeit um den Patienten ‚Kirche‘? Ist er noch zu retten? Sorgt der Heilige Geist für ein Kirchenwunder? Gibt es einen Kurswechsel im Vatikan, der doch noch grünes Licht für umfassende Reformen gibt? Oder kommen alle Vorschläge für die umfassende Selbstkorrektur einer religiösen Institution bereits zu spät?
Mortalität und Vitalität der Kirche
Bemüht man die Statistik der Kirchenaustritte und der demografischen Entwicklung der Kirchenzugehörigkeit muss man skeptisch sein. Der Kirche gehen die lebenserhaltenden Kräfte aus; sie kann kaum noch Selbstheilungseffekte erzeugen. Erstmals in der deutschen Nachkriegsgeschichte ist im Jahr 2022 weniger als die Hälfte der Bevölkerung zahlendes Mitglied einer christlichen Kirche. Hochgerechnet auf das Jahr 2060 wird es noch ein Viertel sein. Aber selbst dafür braucht es günstige Umstände. Die jährliche Austrittsquote müsste dauerhaft unter 1 % liegen. Im Jahr 2022 lag sie bei 2,5 %. Es ist offenkundig nur eine Frage der Zeit, bis die Kirche auf dem Nullpunkt sozialer Bedeutung und religiöser Relevanz angekommen ist. Es kann sogar sein, dass sie schon vorher einen „toten“ Punkt erreicht.
Diese zeitdiagnostisch verwendete Metapher ist ebenso prägnant wie ernüchternd. Sie signalisiert Leblosigkeit und Ratlosigkeit. Ihre Verwendung ist nicht erst in der aktuellen Kirchenkrise aufgekommen, sondern entstammt einer Zeitdiagnose des Jesuiten Alfred Delp aus den 1940er Jahren: „Wir sind trotz aller Richtigkeit und Rechtgläubigkeit an einem toten Punkt. Die christliche Idee ist keine der führenden und gestaltenden Ideen dieses Jahrhunderts. Immer noch liegt der ausgeplünderte Mensch am Wege. … Wir haben durch unsere Existenz den Menschen das Vertrauen zu uns genommen. … Und gerade in den letzten Zeiten hat ein müde gewordener Mensch in der Kirche auch nur den müde gewordenen Menschen gefunden. Der dann noch die Unehrlichkeit beging, seine Müdigkeit hinter frommen Worten und Gebärden zu tarnen“ (Aufzeichnungen aus dem Gefängnis, hrsg. von Roman Bleistein, Freiburg 2019, 318ff.). Für Delp haben nicht die Anpassung an den Zeitgeist oder mangelnde Rechtgläubigkeit in die Krise geführt. Vielmehr haben moralischer und dogmatischer Rigorismus das Christentum ausgezehrt.
Damit sind genau jene Bezugspunkte markiert, von denen Kritiker einer Kirchenreform meinen, dass gerade ihre Beachtung sowohl Bestand und Identität als auch Status und Relevanz der Kirche sichern könnte. Die Orientierung an Dogma und Moral wird aber dann existenz- und identitätsgefährdend, wenn diese Orientierung in eine Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise führt. Genau dies ist der Fall seit der Aufdeckung eines pandemischen sexuellen Missbrauchs und seiner Vertuschung durch Kleriker. Die Unehrlichkeit und Unaufrichtigkeit auf die Delp anspielte, besteht heute im Bestreiten systemischer Ursachen, zu denen auch eine dogmatische Überhöhung des Priestertums und eine humanwissenschaftlich obsolete Sexualmoral zählen. Diese Ursachen werden mit denselben Mitteln verschleiert, welche die genannten Folgen herbringen: fromme Worte und Gebärden. Das bischöfliche Erschrecken über sexuellen und spirituellen Missbrauch verflacht zur Pose; die Vorstellung von diözesanen Missbrauchsgutachten wird zum ausgeleierten medialen Bußritual – und der sexuell ausgeplünderte Mensch muss sich Entschädigungen vor Gericht mühsam erstreiten.
Allerdings verleitet die Rede vom toten Punkt auch dazu, der Kirche voreilig einen Totenschein auszustellen. Selbst wenn bei ihr ein Atem- und Herzstillstand festzustellen ist, sind zunächst Wiederbelebungsmaßnahmen angezeigt. Aber sie müssen zeitnah stattfinden. Zudem verlangen sie den massiven Einsatz von Technik und medizinischem Können. Es muss vor allem schnell gehen. Denn sinnvoll sind derartige Interventionen nur dann, wenn noch Vitalzeichen erkennbar sind. Erst dann gibt es eine Überlebenschance und vielleicht auch eine günstige Langzeitprognose. Vermutlich muss die Kirche auch – um im Bild zu bleiben – zusätzlich eine langwierige Rehabilitation durchlaufen.
Im Folgenden soll sondiert werden, ob sich für die Kirche eine sozio-kulturelle Überlebenschance auftut, wenn sie zur Therapieoption einer „nachholenden Modernisierung“ greift. Damit ist gemeint, dass sie unproduktive Ungleichzeitigkeiten mit jener Epoche und Gesellschaftsformation überwindet, in der sie das Evangelium wahrnehmbar, vernehmbar und annehmbar machen will. Die zur Diskussion gestellte These lautet: Wenn sich die Kirche nicht „modernisiert“, findet sie keinen Platz in der Moderne. Anders formuliert: Wenn das reale Leben mit seinen Chancen und Herausforderungen nicht in die Kirche einkehrt, kann die Kirche nicht ins Leben zurückkehren!
Moderne – Modernität – Modernisierung
Um zu präzisieren, was hinter der Forderung steht, die Kirche müsse endlich in der Moderne ankommen, muss zunächst geklärt werden, was mit den Begriffen „Moderne“ und „Modernität“ eigentlich gemeint ist und welche Herausforderungen für die Kirche damit umrissen werden. Vielfach werden diese Leitbegriffe als Container verwendet. Sie enthalten unterschiedliche Elemente, die sich in philosophischen, ideen- und kulturgeschichtlichen sowie gesellschaftstheoretischen Studien zu den Charakteristika der Zeit nach 1800 finden. Hierbei fungiert „Moderne“ als Epochenbegriff. „Modernität“ steht hingegen für die epochenspezifische Signatur von sozialen Strukturen, Interaktionen, Handlungsorientierungen und Mentalitäten. Ein typisch
modernes Bewusstsein zeichnet demnach aus, dass es
- an die Stelle kultureller Uniformität den Ruf nach Pluralitätsfähigkeit setzt,
- die Reste einer ständischen Gesellschaft mitsamt jeglichem Untertanengeist vertreibt und nach freien, ihrem Gewissen verantworteten Bürger ruft,
- Freiheit mit Toleranz vereinbaren will,
- in öffentlichen Angelegenheiten statt obrigkeitlicher Verfügung die Partizipation und den Diskurs aller Betroffenen erwartet.
Die „Modernität“ sozialer Verhältnisse, Strukturen und Institutionen bemisst sich danach, inwieweit sie willens und fähig sind, sich einem permanenten Wandel zum von der Vernunft gebotenen Besseren zu unterziehen. Das impliziert ein Bewusstsein der Kontingenz von Gegenwart und Vergangenheit sowie eine Orientierung am Zukünftigen als dem erhofften Besseren. Dieses Bessere ist aber nicht bloß Gegenstand menschlichen Hoffens, sondern zugleich auch Resultat seines Wollens und Tuns. Es soll ein Prozess in Gang gesetzt werden, welcher auf der gesellschaftlichen Verwirklichung von Grund- und Menschenrechten insistiert und daran auch die Legitimität und Autorität staatlicher Akteure misst. Die Gesellschaft zum Besseren zu verändern, heißt ferner, die unterschiedlichen Sphären der Gesellschaft (z. B. Wirtschaft, Recht, Wissenschaft) gemäß ihrer Eigenlogik und Eigenrationalität zu entfalten und dabei ein Höchstmaß an Effizienz der darin ablaufenden funktionalen Prozesse zu erzielen.
Vor diesem Hintergrund hat Jürgen Habermas Kriterien formuliert, anhand deren sich auch die Modernitätskompatibilität religiöser Gemeinschaften ermessen lässt. Notwendig ist zunächst die religionsinterne Ausbildung eines reflexiven Bewusstseins, wodurch sie „aus eigener Einsicht auf eine gewaltsame Durchsetzung ihrer Glaubenswahrheiten und auf den militanten Gewissenszwang gegen die eigenen Mitglieder … Verzicht leisten“ (Glauben und Wissen. Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, Frankfurt 2001, 14f.). Modernitätskompatibel ist nach Habermas ein religiöses Bewusstsein,
- „das zu konkurrierenden, aber ihrerseits reflexiv gewordenen Religionen ein vernünftiges Verhältnis gewinnt,
- das den institutionalisierten Wissenschaften die Entscheidung über mundanes Wissen zugesteht und
- das die Prämissen der Menschenrechtsmoral an die eigenen Glaubenswahrheiten anschließt“ (Nachmetaphysisches Denken II, Berlin 2012, 254).
Die Kriterien der Modernitätskompatibilität werden der Kirche offenkundig von außen aufgenötigt. Mit dem Hinweis auf einen fehlenden Kompatibilitätstest mit ihrem theologischen Selbstverständnis sind viele Reformen seit dem II. Vatikanischen Konzil nur zögerlich angegangen und mit dem Vorbehalt der Rückabwicklung durchgeführt worden. Das aber ist nur die halbe Wahrheit. Die andere Hälfte zeigt eine beträchtliche Lernkurve beim Bemühen einer Inkulturation des Christentums in eine von permanentem Wandel geprägte soziale Umwelt.
Das Konzil selbst hat der Kirche eine dialogische Verhältnisbestimmung ihres Weltverhältnisses ins Stammbuch geschrieben. Es finden sich zahlreiche Impulse für den Prozess des widerständigen Sich-Einlassens auf die sozio-kulturelle Signatur der Moderne und für eine kritisch-konstruktive Resonanz im Inneren der Kirche auf Veränderungen ihres sozialen Umfeldes. Die Kirche soll wahrnehmen, „was an Gutem in der heutigen gesellschaftlichen Dynamik vorhanden ist“, und mit Achtung blicken „auf alles Wahre, Gute und Gerechte, das sich die Menschheit in den verschiedenen Institutionen geschaffen hat und immer neu schafft“ (GS 42). Dies schließt auch die Überlegung ein, ob die säkulare Moderne von sich aus Werte und Normen hervorbringt, zu deren Anerkennung im Raum der Kirche letztlich keine Alternative besteht.
Vor diesem Hintergrund lassen sich die „Modernität“ der Kirche und ihr Modernisierungsbedarf anhand einer Doppelfrage ermitteln: Gelingt es ihr, auf zeitgemäße Weise, der Sache des Evangeliums gerecht zu werden? Gelingt es ihr, auf evangeliumsgemäße Weise den Herausforderungen der Zeit gerecht zu werden?
Aber sogleich melden sich Einwände gegen die Maßgeblichkeit der Moderne: Sind nicht mit jedem wissenschaftlich-technischen Modernisierungsschub bisher stets kontraproduktive Nebeneffekte verbunden gewesen? Wurde bei dem Versuch, mit der säkularen, autonomen Vernunft Geschichte zu machen, nicht auch das Un- und Widervernünftige mitproduziert? Hängt die Lebensdienlichkeit von Wirtschaft, Technik und Politik nicht davon ab, dass sie ökonomisch Unverrechenbares, technisch Unableitbares und politisch Unverfügbares respektieren? Gibt es nicht kulturelle Traditionen, die man bewahren sollte, wenn man vorankommen möchte? Kritiker der Moderne verweisen auf zahlreiche problemerzeugende Problemlösungen, die für die Moderne typisch sind und die sich um die Diagnose „Dialektik der Aufklärung“ (M. Horkheimer/Th. W. Adorno) gruppieren. Wird nicht jede Institution, die sich auf eine solche Moderne einlässt, zwangsläufig teilhaben an ihren Pathologien, Krisen und Entgleisungen? Wenn die Kirche beginnt, in ihrem Inneren die Moderne nachzuholen, ist es dann nicht unvermeidlich, dass sie alle Fehlentwicklungen der Moderne wiederholen wird?
Vor allem aber: Ist von der Kirche wirklich Zeitgenossenschaft mit der säkularen Welt oder nicht viel eher kritische Ungleichzeitigkeit und selbstbewusste Ungleichförmigkeit verlangt? Ist von der Kirche wirklich eine Inkulturation in die säkulare Welt oder nicht viel eher die Markierung einer Differenz zwischen dem Heiligen und dem Profanen gefordert? Schließlich rührt der Appell, sich der Welt nicht anzugleichen (vgl. Röm 12,2; Jak 4,4) an ein Grundthema der gesamten Christentumsgeschichte. In höchstem Maße angebracht ist somit tiefe Skepsis gegenüber einer Kirchlichkeit, die auf Konformität mit der Gesellschaft angelegt ist, also auf Opportunitätsdenken beruht.
Der „Synodale Weg“ – Projekt einer nachholenden Modernisierung der Kirche?
Diese Zweifel richten sich derzeit vor allem auf die Reformagenda des „Synodalen Weges“ (2020–2023), die auf vier Synodalforen verteilt wurde: (1) Macht und Gewaltenteilung in der Kirche – (2) Priesterliche Existenz heute – (3) Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche – (4) Leben in gelingenden Beziehungen. Ursprünglich war dieses Projekt begonnen worden, um über Konsequenzen der MHG-Studie über sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch Kleriker nachzudenken. Sehr bald zeigte sich, dass die Aufarbeitung dieses Missbrauchs vor der Frage nach systemischen Ursachen nicht Halt machen durfte und auch vermeintlich dogmatisch abgesicherte Positionen zu Rang und Stand der Priester, zur sakralen und ökonomischen Machtaggregation auf Seiten der Bischöfe, zur Geschlechteranthropologie und kirchlichen Sexualmoral neu verhandelt werden sollten.
Insgesamt wurden 15 Texte verabschiedet. Neben einer Präambel und einer theologischen Grundlegung des Reformprozesses sind je ein Grundtext der Synodalforen zu Macht und Gewaltenteilung, Priesterlicher Existenz und Frauen in Diensten und Ämtern der Kirche sowie aus jedem Forum sogenannte „Handlungstexte“ beschlossen worden. Der Grundtext des Synodalforums 4 Sexualität und Partnerschaft verfehlte im September 2022 die notwendige bischöfliche Zustimmung. In den Handlungstexten finden sich etliche Voten, die eine bisher in der Grauzone des kirchenrechtlich nicht Erlaubten angesiedelte Praxis betreffen – z. B. Segensfeiern für Paare, die aus dem Rahmen der kirchlichen Ehelehre fallen. Andere bekräftigen Anliegen, die schon seit Jahrzehnten im Vatikan vorgetragen werden – z. B. die „Laienpredigt“, das Frauendiakonat und die Aufhebung des Pflichtzölibats.
In welchem Maße kann nun davon gesprochen werden, dass diese Voten auf eine nachholende Modernisierung der Kirche drängen? Bestehen sie den Test auf Modernitätskompatibilität mit den von J. Habermas formulierten Kriterien? Anhand einiger Stichproben soll eine kurze Evaluation einiger Synodaltexte versucht werden.
Die erste Stichprobe zielt auf den Grundtext von Forum I Macht und Gewaltenteilung in der Kirche. Hier wird gleich zu Beginn die Anschlussfähigkeit an die Rechtskultur einer demokratisch geprägten Gesellschaft thematisiert und unterstrichen, dass kirchliches Recht an den Grund- und Menschenrechten ausgerichtet werden muss und möglichem Machtmissbrauch durch Transparenz, Rechenschaftslegung und effektive Machtkontrolle vorgebeugt werden kann. Gesucht wird auch nach innerkirchlich bereits bestehenden Affinitäten zu den Prinzipien von Demokratie und Gewaltenteilung: „Eine Veränderung der kirchlichen Machtordnung ist aufgrund einer eigenen kirchlichen Geschichte des Synodalprinzips, aufgrund demokratischer Entscheidungsprozesse in Orden und kirchlichen Verbänden und aus Gründen gelingender Inkulturation in eine demokratisch geprägte freiheitlich-rechtsstaatliche Gesellschaft geboten“. Zwar kann dem Text attestiert werden, dass er um eine Anschlussfähigkeit von Glaubenswahrheiten an die Prämissen der Menschenrechtsmoral bemüht ist und insofern ein erstes Modernitätskriterium erfüllt. Aber so groß die Lernkurve auch ist, die der Grundtext dokumentiert, so gering ist die Zahl konkreter Umsetzungsmaßnahmen. Der Handlungstext Synodalität nachhaltig stärken sieht die Einrichtung eines „Synodalen Ausschusses“ bzw. „Synodalen Rates“ als Beratungs- und Beschlussorgan bzgl. Grundsatzentscheidungen von überdiözesaner Bedeutung zu pastoralen Planungen, Zukunftsfragen und Haushaltsangelegenheiten der Kirche vor. Der Handlungstext Gemeinsam beraten und entscheiden begnügt sich mit dem Appell an die freiwillige Selbstbindung des Bischofs bzw. Pfarrers an die Beschlüsse von Beratungsgremien, die allen Kirchenangehörigen zugängig sind. Als Rahmen für diese Selbstverpflichtung wird „die verbindliche Glaubenslehre und Rechtsordnung der Kirche“ ausgegeben.
Eine zweite Stichprobe entnehme ich dem Forum III Frauen in Diensten und Ämtern in der Kirche. Auch hier ist der gleichnamige Grundtext bemüht, sich hinsichtlich seiner Prämissen und Kernposition als kompatibel mit einer modernen Menschenrechtsmoral zu erweisen. Keinen Zweifel lässt man daran, dass das Prinzip der Geschlechtergerechtigkeit auch eine theologische Grundlage hat (vgl. Gal 3,28). Alle Getauften und Gefirmten sollen die allen gleichermaßen geschuldete Anerkennung und Wertschätzung ihrer Charismen und ihrer geistlichen Berufung erfahren. Diese darf nicht abhängig gemacht werden von ihrer geschlechtlichen Identität. Entsprechend ihrer Eignung, ihren Fähigkeiten und Kompetenzen sollen sie in Diensten und Ämtern tätig werden dürfen, die der Verkündigung des Evangeliums in unserer Zeit dienen.
Die dritte Stichprobe bezieht sich auf Forum IV Leben in gelingenden Beziehungen. Folgt man dem Kompatibilitätskriterium, dass Kompetenz und Autonomie der Wissenschaft in säkularen Angelegenheiten von Seiten der Kirche zu respektieren sind, dann steht für die Kirche eine Neubewertung menschlicher Sexualität inklusive des Phänomens der Homosexualität an. Diese Neubewertung ergibt sich aus einer differenzierten human- und naturwissenschaftlichen Betrachtung des Zusammenspiels genetischer und epigenetischer Prozesse sowie des Anteils psychosozialer Faktoren bei der Ausbildung einer sexuellen Orientierung. Ein religiöses Bewusstsein kann bei der Identifikation dieser Faktoren keine eigene Kompetenz und Autorität beanspruchen. Wenn es zu einer normativen Bewertung menschlicher Sexualität ansetzt, muss ein religiöses Bewusstsein sich auf hinreichend abgesicherte Tatsachenurteile stützen. Führen neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu einem veränderten Tatsachenurteil, kann dies Auswirkungen auf ein ethisches Werturteil haben. Die Überzeugungskraft und Gültigkeit des Werturteils ist von der Richtigkeit der darin reflektierten Tatsachenaussage abhängig. Dieser Nexus gilt für jede Ethikkonzeption, die empirische und normative Bezüge der Urteilsbildung anerkennt, und stellt kein Sonderproblem kirchlicher Sexualethik dar. Der Handlungstext Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt gesteht explizit der säkularen Wissenschaft die Kompetenz des Tatsachenurteils zu, wenn er sich zur biologischen Geschlechtsidentität des Menschen äußert: „Die biologische Geschlechtsidentität eines Menschen ruht zunächst auf dem chromosomalen Code des XX bzw. des XY auf. Sie lässt sich aber keinesfalls darauf reduzieren. Die biologische Geschlechtsidentität entwickelt sich stattdessen in komplizierten Wechselwirkungen zwischen genetischen und epigenetischen Faktoren … Sexualhormone wie Testosteron oder Östradistol treten in allen Geschlechtern auf, wobei sie in typisch männlichen oder weiblichen Körpern in unterschiedlichen Konzentrationswerten auftreten.“
Die kirchliche Sexualethik steht in diesem Kontext vor einer doppelten Herausforderung. Der Handlungstext übernimmt eine Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zur Intersexualität: „Das hormonelle Geschlecht ist im Unterschied zum genetischen Geschlecht nicht typologisch binär (das heißt strikt männlich oder weiblich), sondern prägt sich auf einer gleitenden Skala aus, bei der der individuelle Status auch zwischen den beiden Polen liegen kann.“ Damit wirft er zum einen die Frage auf, ob und inwiefern die Kirche an einem „binären“ Menschenbild mit der Logik des „entweder Mann oder Frau“ noch festhalten kann und stattdessen einem polaren Menschenbild folgen soll. Zum anderen wird hier eine fundamentaltheologische Herausforderung deutlich. Ist die Kirche bereit, ein Verhältnis von Glaube und Vernunft anzunehmen, das der Vernunft eine Filterfunktion zuweist? Wenn gilt, dass nichts als Gegenstand des Glaubens in Betracht kommt, das valider Vernunfterkenntnis widerspricht, dann kann in einer theologischen Geschlechteranthropologie nicht mehr behauptet werden, dass der Mensch entweder als Mann oder als Frau biologisch Mensch ist. Wie weitreichend diese Herausforderung ist, zeigt die bischöfliche Ablehnung des Grundtextes zu einer erneuerten Sexualethik. Viele Kritiker setzten den Abschied von einem „binären“ Menschenbild mit einer Preisgabe biblischer Anthropologie gleich.
Reformen, die nichts ändern?
Haben die Reformvorschläge des Synodalen Weges das Potenzial, die Kirchenkrise zu stoppen? Handelt es sich um Versuche, eine produktive Gleichzeitigkeit mit der Moderne herzustellen, die zu spät erfolgen? Sind die Initiativen zu einer innerkirchlichen Demokratisierung und Machtkontrolle bereits deswegen vergeblich, weil ihre Umsetzung durch römische Autoritäten blockiert wird? Sind die angestrebten Reformen wirkungslos, wenn es darum geht, den Verlust an Vertrauen in kirchliche Amtsträger und den sozialen Niedergang einer religiösen Institution einzudämmen?
Zunächst sollte man Wirkung und Ertrag des Synodalen Weges an den Problemen messen, die zu seiner Einrichtung führten. Wenn dazu die Sensibilisierung für die entsprechenden Problemzonen der Kirche gehört, sieht die Bilanz weniger dürftig aus als zu befürchten ist. Gewachsen ist die Aufmerksamkeit für die prekäre sakral-spirituelle, administrative und finanzielle Machtaggregation in der Kirche. Sie ermöglichte den Missbrauch dieser Macht und die Überhöhung der Inhaber dieser Macht. Gewachsen ist die Bereitschaft, umfassende Maßnahmen zur Prävention sexuellen und spirituellen Missbrauchs zu etablieren. Gewachsen ist der Protest gegen die Missachtung von Frauen und nicht-binären Menschen, gegen lebens- und menschenfeindliche Verengungen der kirchlichen Sexualmoral. Gestiegen ist die Bereitschaft, institutionell und strukturell gegen Diskriminierungen in der Kirche vorzugehen und ihr Arbeitsrecht entsprechend zu korrigieren.
Von diesen „vertrauensbildenden Maßnahmen“ sind zunächst nur kircheninterne positive Effekte zu erwarten. Vermutlich werden einige Bleibekräfte gestärkt und bestehende Austrittsneigungen abgemildert. Hingegen wird ein Verständnis von „Synodalität“, das alle Merkmale einer repräsentativen Demokratie tilgt, eher die Fliehkräfte stärken. Falls die anvisierten Reformen tatsächlich erfolgen, werden sie kaum Rückkehrmotive verstärken. Wer einen Kirchenaustritt hinter sich hat, aber Christ bleiben will, findet konfessionsspezifische Aspekte des Christseins immer weniger belangvoll. Die Versuche, mit dem Diakonat der Frau eine nachholende Modernisierung auf dem Feld der Geschlechtergerechtigkeit vorzunehmen, dürften wenig Eindruck machen.
Was sich mit solchen Innovationen bestenfalls erreichen lässt, ist das Abrücken von einer unproduktiven Ungleichzeitigkeit mit einer liberalen Moderne. Eventuell ist die Fortschreibung einer menschenfreundlichen kirchlichen Sexualmoral auch ein erster Schritt um zu verhindern, dass das Stigma einer Institution, in der die Doppelmoral regierte, auch zum sozialen Stigma des ihr zugehörenden Individuums wird. Ihm würde nicht länger zugemutet, für das systemische Versagen einer Institution und ihrer Führungseliten in Mithaftung genommen zu werden. Ohnehin ist angesichts der sich überlappenden Kirchenkrisen und Skandale längst der Verbleib in der Kirche, nicht aber der Austritt gesellschaftlich begründungsbedürftig geworden.
Religionsdistanzierung
Die jüngsten Ergebnisse aus dem Religionsmonitor 2023 der Bertelsmannstiftung legen nahe, zwischen Anlass und Grund für massive Kirchenaustritte zu unterscheiden. Die Austrittsneigung steigt mit dem Verlust an Vertrauen in die Reformbereitschaft religiöser Institutionen, denen fortwährend Missstände, Skandale und deren Verschleierung nachgewiesen werden. Parallel zu diesem Prozess der Kirchendistanzierung verläuft ein Prozess der Religionsdistanzierung. Der Bevölkerungsanteil wächst, der biografisch keine religiöse Sozialisation erfahren hat und dessen eigene „Religiositätseinschätzung“ immer geringer ausfällt. Es lässt sich nachweisen, dass in dem Maße, in dem eine institutionalisierte religiöse Praxis abnimmt, die Einschätzung wächst, dass jedwede religiöse Praxis entbehrlich, verzichtbar, belanglos ist.
Will die Kirche dem Prozess der Religionsdistanzierung etwas entgegensetzen, braucht es mehr und anderes als die Reformkonzepte des Synodalen Weges. Sie sind notwendig, aber nicht hinreichend. Mit ihnen allein ist nicht zu verhindern, dass die Kirche auf dem Nullpunkt der Relevanzskala eines modernen Menschen ankommt. Sie muss sich verstärkt jenen Kompetenzerwartungen widmen, die mit den ersten und letzten Fragen menschlichen Daseins zu tun haben. Eine hinsichtlich ihrer Strukturen und Glaubensinhalte „modernitätskompatibel“ reformierte Kirche findet erst dann Resonanz und Anerkennung, wenn sie zugleich ihre pastorale Kernkompetenz für die Bewältigung eines säkularisierungsresistenten Bezugsproblems menschlicher Daseinsdeutung und Lebensgestaltung unter Beweis stellt. Hierbei ist auf Formen religiöser Aufgeschlossenheit einzugehen, die auf den ersten Blick nicht auf Gott gerichtet sind, sondern subjekt- und selbstzentriert erscheinen. Es geht dem Menschen dabei ebenso um sich selbst und seine Identität wie um existenzielle bedeutsame Unterschiede: Was unterscheidet mein faktisches Ich von meinem wahren Selbst? Auf welche Weise komme ich dahinter, wie es letztlich um mich steht? Wird es einen Unterschied machen, ob es mich gegeben hat – oder nicht?
Diese Fragen sind insoweit sowohl modernitätskompatibel als auch säkularisierungsresistent, wie sie von Modernisierungsprozessen immer wieder ausgelöst, aber von ihnen nicht hinreichend beantwortet werden. Damit verbunden ist ein existenzielles Bezugsproblem für die Ausbildung eines religiösen Bewusstseins. Es kann als ein Akzeptanzproblem identifiziert werden, das in einer Doppelfrage zum Ausdruck kommt: Kann man „Ja“ zu einem Leben sagen, in dem es Vieles gibt, das völlig unannehmbar ist? – Kann man „Nein“ zu einem Leben sagen, in dem es etwas gibt, das ohne Wenn und Aber annehmbar ist? Wie man angesichts des kategorisch Unannehmbaren das Leben annehmen kann, stellt jeden Menschen vor ein existenzielles Akzeptanzproblem. Ob die Kirche für die Selbst- und Daseinsakzeptanz des Menschen gute Gründe anführen und zu einer entsprechenden Lebenspraxis beitragen kann, dürfte auch über ihre Relevanz und Akzeptanz entscheiden.