Einleitung
„Nur wer Gott kennt, kennt den Menschen.“ So Guardinis Thema auf dem Berliner Katholikentag 1952. Der Satz ist bekannt und (deswegen) überhört. Denn wer kennt Gott?
Allerdings tiefer bedacht: Wer könnte einen solchen Satz aussprechen, derart lapidar, ohne in den Radius Gottes gelangt zu sein? Ohne Überhebung und aus Vertrautheit mit dem Werk Guardinis lässt sich sagen, er habe sich und sein Denken beständig „hinübergespannt zu Ihm“. Mehr noch: „Er hat es vielen verschwiegen, wie tief er Gott den Vater angebetet hat, und wie vertraut ihm die Schönheit Christi war“ (Heinrich Kahlefeld). Und wie Vielfalt und Tiefe der Arbeiten Guardinis beweisen, leuchtet in dieser gespannten Haltung Wunderbares und Großes auf. So stellt sich immer wieder die Frage, worin die einzigartige Thematik dieses Werkes besteht, worin seine Grundanschübe liegen, warum es unterschiedlichste Menschen – und in welcher Zahl! – mitnahm, in welchem Ziel es sich bündelt.
Werk und Werden
Der hier unterbreitete Vorschlag lautet: Guardini hat Gott, den Lebendigen, als Kraft des Werdens gedacht und erfahren. Als Kraft des Anfangs, der Initiative; als Anfang der Schöpfung, mehr aber noch als Anfang der Erlösung – Erlösung ist ja „größer als die Schöpfung“: „Und wenn schon das Schaffen, welches macht, daß das Nichtseiende werde, ein undurchdringliches Geheimnis ist, so ist allem Menschenblick und Menschenmaß vollends entrückt, was das heißt, daß Gott aus dem Sünder einen Menschen macht, der ohne Schuld dasteht. Es ist ein Schöpfertum aus der reinen Freiheit der Liebe. Ein Tod liegt dazwischen, eine Vernichtung (… Diese) Unbegreiflichkeit trifft das Herz.“ Von diesem zweiten, „dem anderen Anfang“ her wird das Werden des Menschen skizziert, der sich in das „Werk“ Gottes einsetzen lässt. Das Werk – ein Wort, auf dem die Arbeit von Burg Rothenfels und die lebenslange Ausfaltung der christlichen Existenz fußten, ein Wort, in dessen Bewegtheit und eschatologischen Weitblick Guardini die Jugend und die Hörer in der Universität mitnahm.
Im Werden liegt Freiheit, in der Freiheit entscheidet sich Schicksal, und Guardini wagte es, vom Schicksal Gottes am Menschen zu sprechen. Aber auch vom Schicksal des Menschen an Gott, der sich mit ihm konfrontiert. Daraus erhob sich lebendig die Passion – Leiden und Leidenschaft – Gottes, und darin wurde auch der Mensch lebendig, der sich in den Lichtraum seiner Initiativen stellt. „Gott ist gar nicht so, daß er eine fertige Wirklichkeit und auszuführende Forderungen entgegenstellt. Sondern er hat die Fülle der fordernden Wirklichkeit und zu erratenden, mit rechter Initiative und Schöpferschaft zu erfassenden Möglichkeit erzeugt. Die Welt wird tatsächlich so, wie der Mensch sie macht.” Einigen gelingt die Zumutung des Neuen, vielen auch nicht: „Die Bedeutung der Heiligen (…) liegt darin, daß in ihrem Dasein der Vorgang der Neuwerdung, bei uns überall verhüllt und gestört, mit einer besonderen Deutlichkeit, Energie und Verheißungskraft durchdringt.“
Von dieser Neuwerdung aus ist Guardinis Theologie – anders als bei vielen – nicht zuerst Anthropologie, sondern zuerst Rede vom göttlichen Logos, zuerst Rede von der Offenbarung, zuerst Rede von dem sich mitteilenden Geheimnis. Zu Gott hat der Mensch die Knie zu beugen und in ihm herrlich zu werden. Im offenbaren Gott wird sich der Mensch offenbar. So formte Guardini mit seiner ganzen Denk- und Gestaltungskraft eine Generation junger Menschen und führte sie über die zwölf braunen Jahre hinweg.
In Guardinis Leben wirkte eine währende Anziehung, die den Urteilen und Fragen ein Ziel verleiht und das Werk bis in die reichen Verästelungen hinein trägt und durchleuchtet: die Anziehung durch den Herrn. Der Herr des eigenen Daseins, der Herr der Geschichte, der Herr der versprochenen Zukunft – Guardini findet einen unnachahmlichen Ton, „Jesus den Christus“ ergreifend vor Augen zu stellen, oft geradezu leuchtend.
Schon der junge Promovend will und wird das Dasein anders und gegenläufig zur Zeitgenossenschaft thematisieren, wird es aus dem „nur Heiligen“ der Religions-wissenschaft herausholen (wie bei Rudolf Otto oder Friedrich Heiler); fascinans und tremendum, die beiden Kennzeichen religiöser Erfahrung, werden wieder auf den Ursprung aller Offenbarung, auf ihren tragenden, wahrenden Grund hingelenkt; erst aus seinem Geheimnis steigt eine selbst geheimnisvoll anziehende Schöpfung auf.
Eine erste Wegmarkierung findet sich schon früh. Am 17. März 1914 schreibt der Freiburger Student in einer Art „Konfession“ an Josef Weiger: „Ich will ein Doppeltes: Von den Brennpunkten der Offenbarungsvermittlung, dem canon aus, von Tradition, hl. Schrift und einer echten Psychologie geleitet, die göttliche Wahrheit erfassen, klar, tief, schlicht, daß die Menschen draus denken und leben können, denen ich sie darzubieten habe. Und weiter, mit allen Mitteln, die Philosophie, Kunst, Erfahrung mir darbieten, sie zu erschließen suchen, um sie als das darzuzeigen, nach dem alle sich sehnen. Und das lehren, klar und so, daß ein Glaube draus wird (…). Wo sind also die festen führenden Punkte in diesem weiten Gebiet? Das kann nur die Offenbarung selbst sein, in den Formen, wo sie mir am deutlichsten und klarsten entgegentritt: im Canon, in Opfer und Sakrament, in der Grundverfassung der Kirche. – Das auf der einen Seite. Auf der anderen meine eigene Natur, das eingeborene Streben meines Geistes, sein intellektuelles Gewissen. Ich muß den Mut haben und ihm vertrauen, denn es ist dieselbe Stimme Gottes, die ihrem großen objektiven Ruf in der Offenbarung aus dem Innern meiner Seele antwortet. Freilich muß das auf Reinheit und Liebe ruhen; ich muß ganz in den Geist jener objektiven Gegebenheiten eingehen; muß andererseits meine Seele so gestalten, daß sie wirklich zuverlässig in ihrem Streben und Urteilen sei. Aber ich muß, scheint mir, den Mut haben, in meinem Denken, trotz des innigsten Anschlusses an die Vergangenheit, an die Arbeit der Großen, allein und auf mir selber zu stehen, mich der Fülle des Mannigfaltigen, Wirklichen zu öffnen, und es selbst in die großen Ordnungen des Gedankens hineinzutragen so gut ich kann. So wird der Weg rastlos weiterführen, bereit von jedem anzunehmen, aber im letzten doch allein. – Ich bitte Dich, sag mir, ist das Torheit? ist das Vermessenheit?“
Ein verwandte Aufgabe tut sich früh auf: die Verankerung der Schöpfung im schöpferischen Wort. Gott, der Logos, bedingt, erhellt, gestaltet die Welt. Sein und Wort gehören zusammen. Die Spannungseinheit von Welt und Offenbarung lässt Gott nicht nur in der Welt erkennen, Welt selbst ist seine erste Offenbarung. Damit ist nicht nur naturhaftes Dasein gemeint, vielmehr auch die eigenschöpferische Welt des Menschen, wie sie dem Konzept von Mann und Frau in der Genesis mitgegeben ist: Auch menschliches Tun ist vom Logos durchwirkt und wird vom Logos in die Wirklichkeit gehoben.
1918 hatte Karl Barth mit seinem Kommentar zum Römerbrief einen klaren Trennungsstrich zwischen Kultur und Christentum, noch schroffer: zwischen Religion (als Kulturausdruck) und Christentum eingetragen. Damit radikalisierte er die Lehre Christi zur reinen Eschatologie, außerhalb des nivellierenden Vergleichs mit der menschlichen Welt, isolierte sie damit aber auch vom menschlichen Verstehen. In der zweiten Bonner Vorlesung vom WS 1922/23 kritisiert der junge Dogmatik-Dozent Guardini: „1.) Diese Theorie enthält durchaus Richtiges: die Sonderung Gottes von allem Irdischen. Sie steht damit im schärfsten Gegensatz zur liberalen protestantischen Theologie, die die Religion zu einer Angelegenheit der Kultur gemacht hatte, für die sie die letzte Weihe alles Irdischen war. Die Religion ist keine Angelegenheit der Kultur, sondern deren schärfste Bedrohung. 2.) Doch wird Barth zum Häretiker, wenn er die menschliche Uranmaßung begeht und Gott doch unter eine Kategorie bringt, wenn es auch die des Andersseins ist. Gott ist nicht nur der Unbekannte. Inwiefern steht er zur Welt in einem positiven Verhältnis? a. Er hat die Welt geschaffen; b. er hat sie als diese geschaffen und ist Urbild des Soseins; alles Endliche ist Abbild des Unendlichen – in verschiedenem Maße; ein Ding ist nun umso wertvoller, je reiner, reicher und einfacher es Gottes Sein offenbart. c. Er hat uns Aufgaben gestellt, die unser natürliches Können übersteigen.“
Auf diesem gedanklichen Grund wird Guardini seinen Entwurf der Mitarbeit des Menschen am Werk Gottes entfalten, denn dieses Werk ist noch nicht am Ziel, es ist im „Werden“. Andererseits wird die Verfehlung dieses Auftrags in einer durchgängigen Kulturkritik gekennzeichnet, womit Guardini spätere Ansätze der Technikkritik Heideggers und der Frankfurter Schule vorwegnimmt.
Herz und Person
Austragungsort einer dialogischen, personalen, werkfreudigen Theologie wird das Herz. Guardini hatte das Jahr 1933 mit der Veröffentlichung seiner Dostojewski-Studien bereits vorweggenommen: in der Kennzeichnung der Dämonie, zu welcher das Menschliche fähig ist, aber auch mit der Kennzeichnung des Herzens, das dem dämonischen Schein die Kühnheit des wirklich Großen gegenüberstellt. Entweder richtet sich das Dasein in vielfacher Empörung gegen das Endliche, oder es lebt aus einer zustimmenden Kraft des Herzens. „Innigkeit vom Herzen her“ – nichts anderes ist Personsein.
Mehr noch als im Gewissen sieht Guardini im Herzen das eigentliche Organ des Hörens und klaren Entscheidens – es hat Anteil am Blut der Leidenschaft und ist doch geklärt vom Geist. Klarheit meint niemals leidenschaftsloses Urteil. Sie meint die – auch nach langem Ringen – gewonnene lichtvolle Entscheidung zum Guten. In ihr zittert der Kampf noch nach, bebt das Herz vom Erlebten. In Zusammenhang mit der Lichtfülle des Herbstes spricht Guardini davon, „daß es abgründiger gar nicht hinabgehen kann als in der Klarheit mancher Nachmittage“. Dieser Vordenker hat in seiner Theologie des Herzens vermittelt, dass es abgründiger gar nicht hinabgehen kann als in die Klarheit Gottes, zu der sich das Herz von sich aus entscheiden soll, aus freien Stücken entscheiden will. Seine Theologie des „Herzens“ ist gerade nicht sentimental; sie sucht, wie sonst selten, in Christus „das Ungeheure, alle Maße Sprengende; das, was die Liebe wecken kann, die wirkliche, wissende, eingeweihte Liebe“ – so kann „das gläubige Innere den Stoß seines Wesens erfahren, die Schwingung seines Eigensten spüren“.
Entscheidung für den Herrn ist kein blutleerer Willensakt. Sich-erlösen-Lassen ist mehr als ein gedanklicher Vorgang; Erlösung reizt vielmehr in der bezwingenden Gestalt der Schönheit. „Schönheit ist die Weise, wie das Sein für das Herz Angesicht gewinnt und redend wird. In ihr wird das Sein liebesgewaltig, und dadurch, daß es Herz und Blut berührt, berührt es den Geist. Darum ist die Schönheit so stark. Sie thront und herrscht, mühelos und erschütternd.“
Schließlich zeigen die Tagebücher Wahrheit des Denkens und Wahrheit des Tuns (1976) und die Theologischen Briefe an einen Freund (1980) jenen Guardini, der in seinem Alter mit der Angst vor der Endlichkeit ringt. Nur in der Öffnung auf den Schöpfer wird die dunkle, mächtige, verschlossene „Erde“ von sich selbst gelöst. Natur ist nicht einfachhin das Richtige oder gar selbst Göttliche: Der heutigen „Naturgläubigkeit“ hätte der große Lehrer zutiefst widersprochen. Denn Natur, die gefallen ist, trägt nichts anderes als das Siegel der Endlichkeit; sie ist Leben, das wieder im Tod untergeht. Gott ist für den späten Guardini Antwort auf die Bedrohung, die im Raum der Natur selbst liegt; er ist Lösung aus dem verzehrend Endlichen. Person ist von ihrem Schöpfer ins Leben gerufen, und zwar letztlich – durch die Todespforte hindurch – zu einem erlösten, unvergänglichen Leben vor Seinem Angesicht. Dieser Verheißung zu trauen, heißt den Bann des bloß Natürlichen zu brechen, heißt Blut und Geist, Sehnsucht und Denken zusammenzubringen – was eben die selten geübte Kraft des Herzens ausmacht. Solches Trauen, solche Treue hält dem Abgrund der Schwermut stand, dem Sog nach unten.
Guardinis Werk ist deswegen so bezwingend gewesen – und es zeichnet sich ab, daß sich dieses Bezwingende wieder einstellt –, weil seine Schriften aus einer tiefen Verflechtung von Person und Gedanken stammen: aus der Fülle und Genialität des begreifenden Herzens. Er selbst weiß von seiner Begabung, seine Hörer aufmerken zu machen „in Widerspiel, Frage, Zweifel, ja Widerspruch, weil es oft anders gar nicht möglich ist, das Denken in jene Bewegung zu bringen, die es über die Umgrenztheit der bloßen Begriffe hinaushebt“.
Heiligkeit und Denken
Ein Zeugnis für viele: „Beim Hören von Guardinis Kolleg kommt manchmal der Augenblick, wo man an das Verstehen rührt. Es ist dann zuviel für ein Herz. Das eigene kleine Geisteslicht sieht man nicht mehr, es geht in der großen Helle unter. Und wenn man ganz selbstlos geworden ist, dann erdrückt einen das doch nicht. Denn dieses Licht ist ja die Wahrheit“ (Erich Görner).
Guardini hat in einem wundervollen, schmalen Aufsatz – wie so manches Wundervolle von ihm geringen Umfangs ist – über den „klassischen Geist“ notiert: „Es gibt eine Tiefe, die in der Undurchdringlichkeit ruht. Sie bedeutet, daß man nicht hinkann; daß etwas im Abgrund liegt, oder im Dunkel, oder auf unzugänglichen Höhen, oder im Wirbel. Sie besteht im Ungeheuren; in der Übersteigerung des Maßes; in der Überflutung der Grenzen. Es gibt aber auch eine andere Tiefe; jene, die in der Klarheit liegt, die klassische. Hier braucht nichts ‚gedeutet’ zu werden. Da sind keine Falten, die einer Auseinanderlegung bedürften; keine Höhen, vor denen der Geist ohnmächtig stünde; keine Abgründe, in denen er versänke. Kein Chaos bricht hervor und erfüllt mit seinem Schauer. Alles steht hell in deutlicher Gegenwart. Aber jede Linie ist von einer schwingenden Fülle gesättigt. Man kann über sie eigentlich nichts Besonderes sagen. Das, worum es sich handelt, liegt offen.“
Heiligkeit durch Denken, durch Austragen des verworrenen Daseins – Guardini gehört zu den großen Lehrern der Kirche.