Sono molti

Raffael und die Antike

Im Rahmen der Veranstaltung Raffael, 07.04.2022

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Sono molti“, „Es gibt viele“. Die beiden ersten Worte von Raffaels Epistola, die er möglicherweise zwischen 1517 und 1519 an Papst Leo X. schrieb, klingen wie das Incipit einer päpstlichen Enzyklika, eines Lehrschreibens: Ubi primum oder Rerum novarum oder Spe salvi und wie sie alle heißen. In Wirklichkeit sind jedoch die Rollen vertauscht: Der Künstler schreibt hier an seinen Souverän und ermahnt ihn, seiner Aufgabe als Hüter und Förderer der Kultur nachzukommen; er weist ihn auf seine Verantwortung für die Erhaltung und Erforschung der antiken Monumente hin.

Der Schreiber kon­nte davon ausgehen, dass sein Adressat damals das erforderliche Bildungsniveau besaß, um einen solchen Diskurs zu begreifen. Leo stammte aus Florenz, wo er 1475 als Giovanni de’Medici und zweiter Sohn von Lorenzo de’Medici, genannt der Prächtige, im selben Jahr wie Michelangelo geboren war. Er wuchs nicht nur in einer Blütezeit der Florentiner Kultur auf, sondern wusste auch von seinem Vater, wie eng Kunst und Politik miteinander verbunden sind und dass man selbst einer hohen eigenen Bildung bedarf, um mit der Verantwortung, die ein solch hohes Amt für Kultur und Bildung trägt, qualifiziert umgehen zu können.

I.

Anders als vielen heutigen Politikern und Verantwortlichen war seinerzeit Herrschern, selbst Heerführern wie dem päpstlichen Oberbefehlshaber, dem Herzog Federico da Montefeltre von Urbino, und nicht zuletzt den damaligen Päpsten das Gespür für diese Verantwortung eigen. Man banalisiert als Historiker wie als Politiker, wenn man Kunst und Kultur als schlichtes Propagandamittel ansieht oder sie nach ihrem materiellen Wert oder Ertrag bemisst. Dann verkennt man die soziale und moralische Rolle von Architektur, Malerei, Skulptur, Musik, Literatur, Wissenschaft und Forschung, aber auch von Umgangsformen und missversteht die Notwendigkeit ihrer Förderung. Mittlerweile wird Kultur häufig durch ihre Kommerzialisierung populistisch missbraucht; ohne Inhalt können Kulturmanagement und Marketing keine Kulturförderung übernehmen. Verfall und Plünderung der Bauten Roms in nachantiker Zeit, die Zerstörung Palmyras und des Immerather Doms im 21. Jahrhundert gründen in sehr verwandten Problemen.

Natürlich verstanden von den Protagonisten auch zu Raffaels Zeit einige mehr, andere weniger von Kultur, aber sie waren allgemein sensibel genug, sich darum zu bemühen. Das bedeutet keineswegs, dass sie frei von Aggressionen, Intrigen, Ausbeutung und anderen negativen Charakterzügen waren. – Welch einen Unterschied ein gebildeter Papst für das kulturelle Klima auf allen Ebenen macht, habe ich selbst während des Intermezzos des Pontifikates von Benedikt XVI. bei meiner Arbeit an den Vatikanischen Museen erlebt.

Ich habe an dieser Stelle schon einmal darauf hingewiesen, dass ohne Kultur keine Verkündigung der christlichen Botschaft möglich ist. – Obwohl Raffael in seiner Epistola den Vandalismus von Goten, Barbaren und Päpsten beklagt, ist er weit entfernt von jeglicher Art undifferenzierter Identitätspolitik; in einer kritischen Geschichtsbetrachtung und Formanalyse sieht er sogar den Neuanfang der nachantiken Architektur bei den „Tedeschi“, den „Deutschen“, in der Gotik, weil sie „Sinn“, „ragione“ ergebe.

Leo X. hatte die Tragweite von Kunst und Kultur unter seinem Vorgänger unmittelbar miterlebt. Ein eklatantes Beispiel war um 1510 die Einrichtung des belvederischen Statuenhofes. Julius II. hatte hier nach dem Vorbild von Vergils Aeneis in einer Heldenschau, in der antiken Statuen gleichsam eine bestimmte Rolle unabhängig von ihrer herkömmlichen Ikonographie zugewiesen wurde, sein Programm formuliert, das ein augusteisches Zeitalter als Ideal für sein Pontifikat propagierte.

Julius hatte versucht, seine Demonstration mit den besten antiken Statuen zu inszenieren: Den Apoll trug er aus seiner persönlichen Sammlung bei; den Laokoon, laut Plinius das hervorragendste Kunstwerk der Antike, erwarb er unmittelbar nach seiner Auffindung und kaufte gezielt weitere Statuen wie die Venus Felix oder die Ariadne als Kleopatra hinzu. Raffael bekam den Auftrag, wie auf einem Titelblatt diesen Diskurs im Fresko des Parnass 1510/11 auf der Wand in der Privatbibliothek Julius‘ II. anzukündigen, durch deren Fenster man zum Belvedere hinüberblicken konnte, also von dem Ort, an dem der Papst seine wichtigsten Besucher in Privataudienz empfing: Die Gottheit, numen, Apoll, inspiriert den prophetischen Dichter Homer, dessen Vision über Vergil und Dante in die Gegenwart tradiert wird.

Auf der Wand gegenüber hatte Julius II. von Raffael die Allianz mit Giovanni de’Medici in intensiven Porträts offiziell zum Ausdruck bringen lassen. Leo hat die Fähigkeit, Bilder für spirituelle oder politische Ziele einzusetzen, vielleicht noch stärker beherrscht als sein Vorgänger und bis ins Detail verfolgt. So hat er unmittelbar nach seiner Wahl im März 1513 in die laufende Ausführung der Fresken in der Stanza di Eliodoro und die Gestaltung der Begegnung zwischen Leo d. Gr. und Attila eingegriffen, um den politischen Aufruf Julius‘ II., die damaligen französischen Aggressoren mit dem Motto „Raus mit den Barbaren!“ aus dem Kirchenstaat zu vertreiben, in eine spirituelle Botschaft zu verwandeln.

Vom dem ehemals dem Hunnenkönig energisch sich entgegenstemmenden Papst ist die Aktion völlig auf die beiden Apostelfürsten im Himmel übergegangen; Attila reagiert auf sie, nicht auf den Papst. Leo X. wird in seinem wahrscheinlich ersten offiziellen Porträt nach seiner Krönung zum Friedenstifter, als den man ihn bei seiner Wahl begrüßt hatte. Die Episode spielt nicht mehr am historischen Ort nahe ­Mantua, an dem die Grenze des Kirchenstaates gesichert werden sollte; der neue Papst verhindert lediglich, dass die Pforten der Hölle die Kirche überwältigen. Für sie steht Rom symbolisch als „patria di tutti li Cristiani“, „Heimat aller Christen“, manifest in dem von Pseudo-Beda propagierten Ewigkeitssymbol des Colosseum. Eine römische Wasserleitung und eine der Triumphsäulen des Kaisers Trajan oder Mark Aurel definieren die Stadtsilhouette.

II.

Genau um die Erhaltung der Monumente dieses antiken Rom geht es in Raffaels einleitend genannter Epistola an Leo X. Sie ist in drei Versionen erhalten, von denen die dritte, zwar nicht eigenhändige, aber zeitgenössische, einen Steinwurf weit von hier in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Ausgehend von einem historischen bzw. kunsthistorischen Diskurs, geht es sehr spezifisch um die stilkritische, d. h. visuelle Analyse, in der die Entwicklung der antiken Kunst vom griechischen Ursprung bis zum Verfall unter Kaiser Diokletian bzw. Konstantin dargestellt wird, dem nur die Architektur entgehe.

In diesem Kontext findet sich auch die bemerkenswerte Unterscheidung der Stilepochen am Konstantinsbogen; zu einem seiner Reliefs liegt eine Silberstiftstudie ebenfalls hier in München in der Graphischen Sammlung. An die in der Epistola folgende kritische, aber wie gesagt durchaus wertschätzende Betrachtung der gotischen Architektur schließt sich ein Blick auf die eigene Epoche bis Bramante an. Im stärker theoretischen Teil, in dem die klassischen Säulenordnungen erörtert werden, sind neben dem Quellenstudium ausführlich eine Methode und die benutzten Instrumente beschrieben, die eine sorgfältige Dokumentation antiker Gebäude ermöglichen, wie sie Raffael bei der großangelegten Rekonstruktion des antiken Rom zur Anwendung gebracht hat.

Leo X. hatte damit ein beeindruckendes, wissenschaftliches Projekt in Auftrag gegeben, dessen Ausführung Raffael mit einem umfangreichen Stab seiner Mitarbeiter betrieb. Dennoch hebt die Epistola mit einer ausdrücklichen Mahnung an den Souverän an und nimmt ihn in die Pflicht, indem Raffael ihm seine Verantwortung für die bedeutenden Kulturgüter deutlich vor Augen führt.

Zu viele wichtige Bauten, Reste und Statuen waren gerade in jüngerer Vergangenheit zerstört worden, darunter die Pyramide, die sich zwischen Petersbasilika und Engelsburg befunden hatte, die als das legendäre Grabmal des Romgründers Romulus galt und in der Ikonographie des Petrusmartyriums fast eine legitimierende Rolle für das Christentum hatte. Raffael hat diese Bedeutung auch in seiner Kreuzesvision Kaiser Konstantins zum Ausdruck gebracht, die er noch für Leo X. entworfen hatte, aber wegen seines frühen Todes nicht mehr ausführen konnte.

Die Klage über den Verfall Roms ist spätestens seit Hildebert de Lavardin im Jahre 1116 fast zu einem Topos geworden und bezieht im Laufe des 15. Jahrhunderts, mindestens seit Cencio de’Rusticis Brief vom Konstanzer Konzil 1416, die Päpste als Verantwortliche mit ein. Dabei spielen einerseits die drastische Geschichte vom Bildersturm, die man von Sylvester, Gregor d. Gr. oder Bonifaz IV. erzählte, eine Rolle, ­andererseits ging die Zerstörung in allen Pontifikaten weiter. Pius II. hielt sich beispielsweise in seiner eigenen Bulle 1462 eine Hintertür zur persönlichen Plünderung antiker Monumente offen. Die großen Verluste unter Alexander VI. und Julius II. waren frisch in Erinnerung.

Vor allem aber hatte Leo X. selbst Raffael im August 1515 zum Präfekten ernannt, der im großen Stil antike Marmorblöcke als Baumaterial für die neue Peterskirche beschaffen und lediglich entscheiden sollte, ob der Wert eventueller römischer Inschriften einer Wiederverwendung entgegenstünde. Handel und Zerstörung des antiken Erbes gingen also weiter, und genau dagegen ergriff Raffael in seiner Epistola die Initiative. Bereits der 1501 verstorbene, sienesische Architekt Francesco di Giorgio Martini, einer der universellsten Künstler des 15. Jahrhunderts, der das römische Ambiente sozusagen von außen erlebte, hatte versucht, solcher „Barbarei“ ein Programm entgegenzusetzen, indem er die antiken Monumente wenigstens in Bauaufnahmen erhalten wollte.

Leos persönlicher Einsatz in künstlerischen Fragen konnte sehr beeindruckend und bisweilen differenziert sein. Genau ein Jahr nach seiner Wahl auf den Stuhl Petri war Bramante, der Baumeister der neuen Peterskirche, am 12. März 1514 gestorben. Ob sich sein Tod durch Krankheit oder einen Unfall angekündigt hatte, muss hier nicht weiter erörtert werden. Jedenfalls hatte Bramante „moriens“ dem päpstlichen Bauherrn Raffael als seinen Nachfolger empfohlen.

Trotz aller offensichtlichen Wertschätzung für beide Persönlichkeiten ist der Papst dem Vermächtnis seines Architekten nicht blindlings gefolgt. Nach zwei Wochen setzte Leo den erst Einunddreißigjährigen nur kommissarisch ein. Dann traf er sich täglich mit ihm und dem fast achtzigjährigen Fra Giocondo, Bramantes Magister operis, zu Gesprächen, um sich selbst in die Materie einzuarbeiten; erst am 1. August war er offenbar überzeugt, Raffael zum Baumeister von St. Peter zu ernennen.

Mehr oder weniger in diesen Kontext hinein hat Raffael – wahrscheinlich gemeinsam mit seinem Freund, dem mantuanischen Botschafter Baldassare Castiglione, – seine Epistola geschrieben. Unabhängig davon, ob Raffael Francesco di Giorgios früheren Aufruf kannte, blieben die Antikennachzeichnungen des Sienesen in seinem Atelier, sogar über seinen Tod hinaus, aktuell. Leo X. war offenbar so kultiviert, dass er in der Lage war, die Problematik zu verstehen, und so sensibel, dass es lohnte, sie ihm vorzutragen. Raffael, nicht zuletzt in seiner Funktion als Präfekt für die Beschaffung von antikem Marmor, empfand die Notwendigkeit, die Verantwortung des Papstes explizit und kritisch anzusprechen. Leider ist weder der beabsichtigte Zweck des Schreibens bekannt, noch, ob die Gedanken, deren endgültige Form wir nicht kennen, jemals bis zu Leo gedrungen sind.

III.

Anscheinend war Raffael 1506 oder 1507 bereits ein zweites Mal nach Rom gereist, bevor er 1508 endgültig dorthin übersiedelte. Spätestens seit diesem zweiten Aufenthalt lässt sich seine lebenslange Faszination für den römischen Zentralbau des Pantheon verfolgen. Zuletzt wollte er hier in einer aus seinem Nachlass restaurierten Ädikula beigesetzt werden. Während er diese Ädikula durch eine Madonnenstatue christianisiert hat, hatte er in seiner frühen Studie den antiken Innenraum von allen mittelalterlichen Einbauten des christlichen Altares befreit und den ursprünglichen antiken Eindruck zeichnerisch rekonstruiert.

Nach seinem endgültigen Umzug nach Rom 1508 hat er für den päpstlichen Bankier, Agostino Chigi aus Siena, vielleicht den reichsten Mann der damaligen Welt, um 1512 ein eigenes Pantheon als Grabkapelle geschaffen, in dem er bis in die subtile Bauornamentik und die kostbaren antiken Marmorinkrustationen, einschließlich des enormen Blockes aus dem seltenen Africano als Schwelle, den Stil des eindrucksvollen Vorbildes fortzusetzen fähig war. Vor allem die Materialien waren für ihn ein entscheidender Faktor, die klassische Antike neu erstehen zu lassen.

Raffaels Interesse am Pantheon ist nie erloschen; er studierte es vor Ort oder, indem er Bauaufnahmen von Freunden oder Mitarbeitern kopierte. Der Vergleich eines eigenhändigen Blattes mit weiteren Studien in einem Codex aus seiner Werkstatt lassen die Dynamik und Neugier in seinem Umfeld erahnen. Mit Raffaels Grab wird die Restaurierung und Transformation eines antiken Monumentes zu seinem letzten Werk, und es ist nicht verwunderlich, wenn seine Zeitgenossen am 6. April 1520 nicht in erster Linie den Tod eines inspirierten Malers, nicht den Tod eines genialen Architekten, sondern den Tod des begnadeten Gelehrten, der die Antike verstand, beklagten.

In seiner Malerei erzeugt Raffael beim Betrachter ungeahnte Sinneseindrücke. Ich denke da an die Intensität seiner Porträts in den Stanzen, mit der der Maler über fünfzig Persönlichkeiten am päpstlichen Hof, vom Kardinal bis zum Reitknecht, vorstellt, z. B. den Kardinal Raffaele Riario in seinem Fresko der Messe von Bolsena von 1511. Dies gilt bis in die Abstraktion des Lichtes, wie es die Kerzen und Öllichter mit dem sie umgebenden Rauch suggerieren, die auf dem Opferaltar des Hohenpriesters im Tempel von Jerusalem während der Vertreibung des Heliodor flackern.

In seiner Architektur belebt Raffael durch sein Spiel mit einer klassischen Gliederung seine Aufrisse. Indem er im Palazzo Branconio die Ordnung bis in das Untergeschoss hinabführt, öffnet er die Fassade und lädt den Passanten ein einzutreten; mit Polychromie, Stuck und Bildern beginnt er einen vielfältigen Dialog. Einerseits steigert Raffael durch seine künstlerische Virtuosität beim Betrachter die Sensibilität zu sehen, andererseits besaß er selbst eine eigene subtile Fähigkeit zu sehen, die ihn zu sehr differenzierten wissenschaftlichen Beobachtungen befähigte, so dass er in dieser besonderen Weise ebenfalls zu sehen lehrte.

Darin liegt eine Faszination von Raffaels Archäologie. Vielleicht am eindrucksvollsten ist seine erwähnte Stilkritik des Konstantinsbogens in Rom, mit der er die Spolien von den konstantinischen Architekturelementen unterscheiden, mit der er aber auch den Reliefschmuck in trajanische, antoninische und konstantinische Entstehungszeit datieren konnte, wie es heute immer noch als archäologische Lehrmeinung gilt. Aus dieser Analyse zog er Schlussfolgerungen auf die konstantinische Epoche und steht damit methodisch in der Tradition des antiken griechischen Geschichtsschreiber Thukydikdes aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert oder des oströmischen Gelehrten Manuel Chrysoloras um 1400 und geht Johann Joachim Winckelmann und den Archäologen in der Folge voran.

Offenbar hatte Bramante diese Qualität von Raffaels Auge, das zu subtiler Differenzierung fähig war, schon während dessen Romaufenthaltes 1506/07 wahrgenommen; denn er bestellte ihn als Schiedsrichter, der den Wettbewerb zwischen vier Bildhauern für eine Replik des damals gerade ausgegrabenen Laokoon entscheiden sollte.

Antike Skulptur faszinierte Raffael zeitlebens. Rund zehn Jahre später schickte er seinen Mitarbeiter Giovanni da Udine zum Quirinal, um das kolossale Pferd der Dioskuren-Gruppe zu vermessen und die Maße in eine eigenhändige Rötelzeichnung einzutragen. So pragmatisch ging er beim Studium vor.

Aus dieser profunden Kenntnis hat Raffael immer wieder geschöpft. Etwa in der noch von ihm 1519/20 entworfenen Kreuzesvision Kaiser Konstantins hat er diesen Einschnitt in der Geschichte des Christentums über das Grab Petri verlegt, indem er die ruinöse topographische Situation des römischen Marsfeldes, wie man sie vom Vatikan aus sah, mit seinen rekonstruierten Bauten zeigt. Damit fügt er bildlich dem Papsttum eine weitere Legitimation hinzu.

In ähnlicher Weise entwickelte er die Rekonstruktion der zerstörten Teile des Titusbogens aus seiner stilistisch differenzierten Kenntnis antiker Bauornamentik. Diese profunde Kompetenz generiert sich unter anderem aus einer privaten Antikensammlung des Künstlers. Eine Zeichnung seines Schülers Giulio Romano belegt z. B., dass Raffael eine ionische Basis besaß, ein selten vorkommendes antikes Baudetail, das in dieser Ausprägung von dem antiken Architekturtheoretiker Vitruv beschrieben wird.

IV.

Ich möchte wenigstens kurz die Übersetzung des lateinischen Architekturtraktates Vitruvs erwähnen, die Raffael persönlich bei dem alten Marco Fabio Calvo in Auftrag gegeben hatte und die ebenfalls zum Münchner Lokalkolorit gehört und in der Bayerischen Staatsbibliothek aufbewahrt wird. Raffael hat sie eigenhändig mit Randnotizen versehen und plante offensichtlich eine illustrierte italienische Edition. All dies wirft ein Bild auf seine vielschichtige Bildung, seinen Ideenreichtum und seine mannigfaltige Kreativität in allen seinen Betätigungsbereichen. Es zeigt aber auch einen jungen Mann von grenzenlosem Engagement, der durch sein eigenes Vorbild nicht nur die Reichen und Herrschenden mitreißen konnte, sondern seinen Zeitgenossen zufolge sein soziales Umfeld, die Menschen in seiner Werkstatt und seine Freunde.

Raffaels analytischer Ansatz in seiner Beschäftigung mit der Antike war offenbar im Bewusstsein geblieben. Bereits 1755 war Johann Joachim Winckelmann bekannt, dass Raffael Zeichner in Griechenland zur Dokumentation von antiken Bild- und Bauwerken unterhalten hatte, wie Winckelmann in seiner Erstlingsschrift Über die Nachahmung der Griechischen Werke anführte und in Raffaels Lebensbeschreibung von Vasari lesen konnte. Winckelmann, der im Übrigen sein berühmtestes Diktum von der „edlen Einfalt, stillen Größe“ an Raffaels Sixtinischer Madonna entwickelt und erst in einem zweiten Schritt ohne Bedenken auf die antike Skulpturengruppe des Laokoon umgeleitet hatte, befand weiter, dass man mit den antiken Werken „wie mit einem Freunde vertraut sein“ müsse; darin sah er einen Wesenszug Raffaels.

Trotz allem mündet Raffaels Beschäftigung mit der Antike nicht in einem Klassizismus. Vielleicht lässt sich sein Verhältnis zur Antike mit einer Metapher umschreiben: Leonardo riet dem Künstler einen Schwamm mit Farbe zu tränken, gegen die Wand zu werfen und durch den Fleck und die Tropfen, die die Wand herunterlaufen, seine Phantasie anzuregen. Die Antike scheint Raffaels Schwamm zu sein, den er mit seinem Studium füllt und aus dem er genuin schöpfen kann.

Drei großformatige Kompositionen, die von Frauengestalten dominiert werden und muntere Kinder in den Vordergrund stellen und die Raffael 1512 nahezu gleichzeitig gemalt hat, mögen das anschaulich machen. Die Madonna di Foligno und die Sixtinische Madonna sind sich im Atelier des Malers vielleicht sogar begegnet; denn die eine war offenbar gerade fertig und verließ die ­Werkstatt, als der Auftrag für die andere hereinkam. Es gehört aber als dritte „Grazie“ eine mythologische Figur in diesen Reigen; denn Anfang 1512 ist ebenfalls das Fresko der Galathea in der Villa von Agostino Chigi entstanden. Ähnlich wie Raffael die Chigi-Kapelle in Santa Maria del Popolo aus dem Verständnis des antiken Pantheon schuf, so triumphieren Galathea und die Marien im selben Himmel.

Während die Gegenüberstellung dieser drei Frauengestalten in einer Reduktion, nahezu abstrakt, deutlich machen kann, wie sehr die Antike zu Raffaels Wesen gehörte, so mag seine Madonna unter der Eiche zeigen, wie virtuos, nahezu verschwenderisch, er vor Antike sprühen konnte. Ich will die Komposition mit ihrer Komplexität von Räumlichkeit, Figuren, Landschaft und Accessoires nicht näher kommentieren, sondern nur den spielerischen Umgang ansprechen und auf einige völlig heterogene Quellen hinweisen, die im Atelier in Form von Zeichnungen verfügbar waren: Die aus einer antiken Matrone entwickelte, schräg im Bild sitzende Madonna lehnt auf einer neo-attischen Kandelaberbasis, die Raffael in ihrer Proportion vergrößert und angepasst hat, während er die komposite Basis mit ihrer subtilen Bauornamentik, die von dem gewaltigen Tempel des Mars Ultor auf dem Forum des Augustus stammt, auf das notwenige Maaß in ihrer Proportion extrem verkleinert hat. Die beiden antiken Bauten jenseits der Hügel entstammen einfach zwei einander gegenüber liegenden Seiten eines seiner Zeichnungsbücher.

Raffael hat nicht nur Materialien, die er in zeichnerischer Form oder als Objekte in seiner Werkstatt zusammengetragen hatte, im Entwurfsprozess in seine Schöpfungen integriert, er hat auch in seine Rezeptionen mittels eigener Studien pointiert eingegriffen. Z. B. hat er das Paris-Urteil, das er von Marcantonio Raimondi hat in Kupfer stechen lassen, nach der Vorlage eines antiken Sarkophags entwickelt und nicht nur die zentrale Szene durch eigenhändige Aktstudien „transformiert“. Die Druckgraphik ist in vieler Hinsicht ein wichtiges Gebiet von Raffaels Schaffen.

In anderen Fällen evoziert er eine frei erfundene Antike, wie etwa in den Kartons für die Bildteppiche in der Sixtinischen Kapelle. Im Rahmen einer Untersuchung unter Einsatz digitaler Technologien versuchen wir u. a., Raffaels Phantasie-Antike zu interpretieren.

V.

Künstler sind immer eine Herausforderung, manchmal durch das, was sie sagen, aber vor allem durch das, was sie können. Indem Betrachter, Auftraggeber etc. auswählen, legen diese ihre eigene Qualität offen. Diese Wahl ist ebenso ein Wagnis wie eine künstlerische Schöpfung. In der Offenheit für diesen Dialog und in seiner Dynamik liegt die Verantwortung eines Herrschers oder einer Gesellschaft; wer Künstler hingegen verbietet, entlässt oder ihre Werke negiert, macht sich unglaubwürdig.

In gleichem Maße besteht die Verpflichtung einer Gesellschaft, für den Zugang zu Kultur und ihre Pflege Sorge zu tragen: Das betrifft unterschiedliche Bereiche, etwa den öffentlichen Raum, in dem wir leben, auch wenn es sich nicht um die ehrwürdigen Ruinen des antiken Rom handelt. Es geht um den Zutritt zu Museen, und immer häufiger sogar zu Kirchen, vor allem für junge und weniger bemittelte Menschen; dies betrifft vor allem die überhöhten Kosten des Entree-Billetts, ferner das Copyright, das den freien Umgang mit unserer Bildkultur ausbremst – bis hin zu unser beider Raffael-Monographien –, und weitere Stolpersteine. Raffaels Appell könnte nicht perfider pervertiert werden als durch ein Plakat der EU: Es kann nicht das Ziel der Rettung der Ruinen von Pompei sein, den Tourismus zu fördern.

Museumswerbung durch den Kaffeeshop verhöhnt seine Mahnung an den Papst. Ihm ging es mit seinem expliziten Aufruf an Leo X. zur Erhaltung und Erforschung der Antiken Roms nicht um eine Valorisierung, d. h. eine kommerzielle Aufwertung der Kultur. Wenn er den Einsturz eines antiken Gebäudes beklagt, weil man die Pozzuolanerde für neue Bauten darunter ausgraben wollte, ist das mittlerweile schon eine Metapher für den heutigen Umgang mit Kulturgütern.

Raffael hat einen Appell durch die Virtuosität seiner eigenen Kunst nachhaltig unterstrichen. Der Konsens, den die Veranstaltungen und Ausstellungen zu seinem 500. Todestag vor zwei Jahren (die Pandemie hatte verhindert, dass die Veranstaltung schon im Jahr 2020 stattfand; Anm. d. Red.) im ganzen westlichen Kulturkreis von Sankt Petersburg über Stendal bis London und über Dresden, Città di Castello bis Neapel demonstriert haben und immer noch weiter demonstrieren, zeigen, dass sein Aufruf auch nach 500 Jahren nicht tot, sondern weiter notwendig ist und Hoffnung generiert. 

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