Die reiche Bilderwelt der Offenbarung hat Auslegern von Anfang an Probleme bereitet. Dies zeigt sich auch in der wechselvollen Auslegungsgeschichte. Nur allzu oft wird das Buch durch ein wörtliches und/oder lineares Verständnis missverstanden und teils auch für eigene Interessen missbraucht. Der jeweilige politische und/oder religiöse Kontext bestimmt häufig die Interpretation. Welche Auslegungsrichtungen lassen sich erkennen? Wie lassen sich diese einordnen? Was ist der tiefere Grund für die unterschiedlichen Auslegungsrichtungen? Wann ist eine Auslegung angemessen?
Die wechselvolle Auslegungsgeschichte der Johannesapokalypse
Die Gefahr einer Eisegese anstatt einer Exegese ist besonders bei der Auslegung der Offenbarung aufgrund der einladenden Deutungsoffenheit der zahlreichen Bilder und Symbole in den Visionszyklen zu beobachten. Sie wird damit zu einem zentralen Text, an dem die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Anwendung einer biblischen Hermeneutik deutlich wird, um Fundamentalismus und/oder ideologische Interpretationen zu vermeiden.
Exegese eines Bibeltexts bedeutet, einen Text mit reflektierten Methoden zu analysieren und zu interpretieren. Die Leserichtung ist aus dem Text heraus. Eisegese bedeutet, Ideen, Gedanken und Theorien in einen Bibeltext hineinzutragen Die Leserichtung ist dabei in den Text hinein. Bei der Vorstellung wesentlicher Linien der Auslegungsgeschichte wird deutlich werden, wo Eisegese die Interpretation der Offenbarung dominiert.
Entwicklungslinien und Korrelationen
Im Folgenden werden zentrale Auslegungsrichtungen geschichtlich eingeordnet, damit Entwicklungslinien, aber auch Korrelationen zwischen Exegese und Zeitgeschichte deutlich werden. Grenzen und Gefahren der Auslegung der Offenbarung werden sichtbar gemacht.
1. Die Offenbarung in der Antike
In der alten Kirche lässt sich ein Siegeszug der Offenbarung erkennen. Es gibt eine frühe Verbreitung und Wertschätzung aufgrund der adressierten Gemeinden Kleinasiens. Im 2. Jahrhundert wird die letzte Schrift des NT als (Heils-)Prophetie verstanden. Bereits hier entsteht eine millenaristisch-chiliastische Deutung. Der Höhepunkt der frühen Rezeption ist im 2./3. Jahrhundert zu erkennen. Die Offenbarung diente als Deutungshilfe bei den Christenverfolgungen und als (Heils-)Prophetie. Eine kanontheologische Wertschätzung lässt sich in dieser Zeit erkennen; insbesondere ist auf die antignostische Hermeneutik des Irenäus zu verweisen. Es entsteht in dieser Frühzeit auch ein erster Kommentar von Hippolyt (Commentarius in Joannis Evangelium et Apocalypsin); dieser entwickelt dezidierte Antichristvorstellungen mit antijudaistischem Gepräge und der Vorstellung des Christus princeps (Hippolyt, De Christi et Antichristo). In außerbiblischen Schriften werden Niedergangs- und Notszenarien jedoch nicht ausschließlich aus der Offenbarung abgeleitet (Ovid, Laktanz, Sibyllinen, das vierte Buch Esra, die syrische Baruch-Apokalypse). Zwischen jüdischen und christlichen apokalyptischen Strömungen gibt es einen regen Austausch in beide Richtungen.
Exkurs: Was ist Chiliasmus?
Der Begriff Chiliasmus kommt vom griechischen χίλια = Tausend.
Er bezeichnet ein aus der jüdischen Apokalyptik stammendes geschichtstheologisches Konzept, das annimmt, dass dem Weltenende und Endgericht eine Zeitspanne von tausend Jahren vorausgeht. Es gibt unterschiedliche Verwendungen dieses Konzepts in der Kirchen- und Exegesegeschichte: sowohl im Sinne einer Heils- oder Unheilszeit, als auch in einer wörtlichen, symbolischen chronologischen oder eschatologischen Deutung.
Die Vorstellung eines tausendjährigen Reiches findet sich auch in Offb 20. Nach dem Drachensturz (20,1f) durch einen Engel wird dieser gefesselt und im Abyss eingeschlossen. Der Drache wird in Anlehnung an Gen 3 als ὁ ὄφις ὁ ἀρχαῖος beschrieben und als Διάβολος καὶ ὁ Σατανᾶς näher identifiziert. Seine Inhaftierung schützt die Völker der Erde vor seiner Verführung (20,3). Zugleich tagt das Christusgericht (20,4–6), das die Martyrer zur ersten Auferstehung befreit.
Nach Ablauf dieser tausend Jahre folgt eine kurze Zeit der Freilassung (20,3) des Drachen. Der Prophet Johannes beschreibt einen brutalen Kampf des Drachen mit Gog und Magog, der nun beginnt und mit der endgültigen Vernichtung des Drachen im brennenden Schwefelsee endet (20,10).
Anschließend findet erneut ein Christusgericht statt, bei dem jeder nach seinen Taten gerichtet wird und Auferstehung bzw. den zweiten Tod im Feuersee als Lohn für seine Taten erhält. Die Vorstellung eines messianischen Zwischenreichs, in dem Frieden herrscht, findet sich auch in frühjüdischen Apokalypsen (1Hen, 4Esr, Bar).
Konkret: Offb 20 ist ein bildreicher Text, der durch atl.-jüdische Prätexte nahezu getränkt ist. Dass er gerade dazu einlädt, auf jeweils aktuelle Geschichtsereignisse angewandt zu werden, verwundert nicht. Grundsätzlich kann man festhalten, dass je bildreicher eine Sprache ist, desto weniger konkret und transparent ist sie im Blick auf den jeweiligen zeitgenössischen Kontext. Die Identifikation des Drachen mit bestimmten politischen Herrschergestalten oder Regimen ist daher in jeder Epoche und Kultur leicht hergestellt.
Eine Ideologisierung des Textes, der so rätselhaft und geheimnisvoll bleibt, ist schnell geschehen. In der Exegesegeschichte lassen sich diese Ansätze immer wieder im Laufe der Jahrhunderte erkennen, sowohl bei den Apostolischen Väter (Papias und Justin den Märtyrer) als auch bei den Kirchenvätern Irenäus und Tertullian. Gleichzeitig gab es auch Tendenzen, diese chiliastischen Vorstellungen zu bekämpfen (Hippolyt). Sowohl im west-, als auch im oströmischen Reich sind diese Vorstellungen adaptiert worden, wenn auch mit unterschiedlicher Ausprägung. Sie können stärker allegorisch eingefärbt sein, wenn sie aus der alexandrinischen Exegesetradition stammen.
Exkurs: Was ist Allegorie?
Der Begriff Allegorie kommt vom Griechischen ἀλληγορέω (allegoreo) und bedeutet „etwas anders ausdrücken“. Origenes ist der „Begründer“ der allegorischen Exegese. Er unterscheidet drei Schichten in der Hl. Schrift: Materielles, Psychisches und Pneumatisches und spricht von drei Schriftsinnen: einem buchstäblichen, einem moralischen und einem allegorischen. Als Beispiele für Allegorien in der Bibel kann auf Gen 40–41; Ez 34; Sach 1–6; Mk 4,1–9.13–20; Gal 4,24 verwiesen werden. Konkret lässt sich am Gleichnis vom Sämann eine Allegorie gut aufzeigen: Im Gleichnis wird von der Saat auf dem Feld gesprochen, die unterschiedliche Erträge bringt. Die nachfolgende Allegorie deutet dies im übertragenen Sinn: Der Sämann sät das Wort. (Mk 4,14) und Auf den Weg fällt das Wort bei denen, die es zwar hören, aber sofort kommt der Satan und nimmt das Wort weg, das in sie gesät wurde. (Mk 4,15) Die rätselhafte Bildersprache der Offenbarung ist bestens geeignet für Allegorien.
In der Antike bilden sich zwei Exegeseschulen heraus, bei der eine für ihre allegorischen Deutungen bekannt ist, nämlich die alexandrinische Schule (s. Kasten unten).
Angewandt auf die Auslegung der Offenbarung zeigt sich, dass bei der Rezeption der Offenbarung zwischen einem west- und oströmischen Rezeptionsstrang unterschieden werden kann. Die Entwicklung der theologischen Tradition ist in dieser Zeit sehr unterschiedlich verlaufen. Im Westen ist eine Ablehnung der Offenbarung durch Markion und Aloger, gleichzeitig aber auch die Kommentierung durch Viktorin von Pettau zu erkennen. Viktorins Ansatz ist dabei durch den Chiliasmus und
eine antijüdische Auslegung geprägt.
Viktorin von Pettau, als Märtyrer 304 unter Diokletian verstorben, legt eine spiritualisierende Deutung, eine eschatologisch-historisierende Exegese zur Offenbarung vor. Um 260 schreibt er einen Kommentar, der jedoch nicht fortlaufend ist, da zentrale Stücke fehlen (Offb 9; 15,6–19,10). Er entwickelt die sogenannte Rekapitulationstheorie, die er an Offb 8,2; 11,5 entfaltet. Seine Intention ist es, Falschprophetien zu verhindern. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass sich Prophetien der Offenbarung sich mehrfach in Katastrophen der Geschichte erfüllen. Die Visionserzählungen sind nicht chronologisch geordnet und nicht auf konkrete Ereignisse bezogen.
Im Westen entsteht in dieser Frühzeit die Vetus Latina, aber auch eine geschichtskritische, differenzierte Lektüre während der Christenverfolgungen. Die Theologie im Osten ist durch den Streit um die Eschatologie geprägt. Sowohl allegorische Auslegungen (Hintergrund: Chiliasmus), als auch eine historisch differenzierte Sicht durch Dionysius von Alexandrien, der erstmals den Autor der Offenbarung von demjenigen des Johannesevangeliums unterscheidet und die Offenbarung kritisiert, entstehen.
Mit der Konstantinischen Wende und dem Ende der Christenverfolgungen findet eine Aufwertung der Offenbarung statt. Kaiser Konstantin gestattet die Produktion biblischer Codices (Vollbibeln mit der Offenbarung) und christliche Bilder in der Öffentlichkeit, so dass die Symbole aus der Offenbarung einen Siegeszug in der Rezeption erfahren. Zudem wird Offb 4–5 in der christlichen Liturgie rezipiert; die Herrscherideologie wird mit der Offenbarung theologisch begründet.
In der Zeit von Athanasius bis zum Ende der Antike verfestigt sich die Stellung der Offenbarung im Kanon (Athanasius), auch wenn der Osten weiterhin Bedenken hat. Daher lässt sich eine Vorrangstellung des Westens bei der Kommentierung (im Sinne einer spirituellen Lektüre) erkennen. Bei Augustinus wird das Tausendjährige Reich, das mit Jesus begonnen hat als Symbolzahl verstanden. Hieronymus legt eine antichiliastische Deutung vor. In der Liturgie wird die Offenbarung Bestandteil in der Leseordnung des Westens und in der Kunst (ein Zyklus bildlicher Darstellungen entsteht: die karolingische Trierer Apokalypse).
2. Die Offenbarung im Mittelalter
Im Mittelalter zeigen Kommentare hohes Traditionsbewusstsein. Die Rezeption von Offb 21–22 ist besonders bei Kirchenbauten zu erkennen. Auch die Reichs- und Antichristtraditionen werden weiterentwickelt und die ersten Endzeitberechnungen entstehen kurz vor 800 n. Chr. Im 13. Jahrhundert entstehen Übersetzungen der Offenbarung (Arabisch, Mittelhochdeutsch). Das Bildverständnis verändert sich, insofern die Auslegungen aktueller werden. Offb 12 wird mariologisch gedeutet, die Verehrung Michaels entsteht. Entscheidend ist die Periodisierung der Geschichte und ihre dreifache Verfassung unter Vater, Sohn und Hl. Geist durch Joachim von Fiore. Das 13. Jahrhundert gilt als Zeit eschatologischer Hoffnungen und scharfer Auseinandersetzungen; 1260 Tage werden auf Jahre umgerechnet. Wyclif identifiziert den Papst mit dem Antichrist und plädiert für die Abschaffung des Papsttums.
Exkurs: Joachim von Fiore
Joachim von Fiore (1130–1202) lebte in Kalabrien; er war prägend als Abt des Zisterzienserklosters in Corazzo. Mit Erlaubnis von Papst Clemens III. widmete er sich her-
meneutischen Studien zur Offenbarung. Seine Deutung der Offenbarung ist welt- und kirchengeschichtlich, er vertritt einen geschichtstheologischen Ansatz (allegorische Exegese) in seiner Expositio in Apocalypsim. Die Offenbarung ist eine Prophetie der Korrelationen zwischen Welt- und Kirchengeschichte; das Weltenende wird berechnet (mit Verschiebung des Endtermins). Die Zeitgeschichte wird in drei Epochen untergliedert: in die Zeit des Vaters (= AT), die Zeit des Sohnes (= NT) und die Zeit des Heiligen Geistes (Zukunft; Offb 21). Die Ankunft des Antichristen wird vor der dritten Epoche terminiert. Diese Drei-Zeiten-Lehre legt Fokus auf die eschatologische Epoche (= Drittes Reich) und lässt sich als eine Kategorie des Chiliasmus verstehen.
3. Die Offenbarung in der Reformationszeit
Die Reformationszeit ist eine spannende Zeit für die Auslegung der Offenbarung (Hussiten, Erasmus, Martin Luther, Täuferbewegung). In ihr wird die altkirchliche Kritik an der Offenbarung erneuert. Bei den Hussiten kommt es zu Radikalisierungen und chiliastischen Hoffnungen. Der Humanismus führt zur Bibelkritik von Erasmus. Martin Luther achtet die Offenbarung gering (sie ist weder apostolisch noch prophetisch). Die kanonische Anerkennung erfolgt sowohl durch katholische als auch reformatorische Kreise. Gleichzeitig ist aber eine Reduzierung der liturgischen Rezeption (Leseordnung) zu erkennen. Bibelillustrationen entstehen ebenso wie volkstümliche Rezeptionen in der Reformationszeit mit zeit- und endgeschichtlichen Interpretationen, Aktualisierungen und sozialrevolutionären Umsetzungen (Täuferbewegung in Münster). Die römische Theologie bleibt rationaler und übergeschichtlicher im Umgang mit der Offenbarung.
Exkurs: Tausendjähriges Reich in Münster
Jan Bockelson alias Jan van Leyden alias Johann I. (1509–1536) gilt als Herrscher des Tausendjährigen Reiches in Münster; es wird durch König Johann I. proklamiert. Ein Rat der Zwölf wird installiert, der die zwölf Stämme Israels repräsentiert. Der Dekalog wird als Grundgesetz der theokratischen Herrschaft verstanden. Praktiziert wird Gütergemeinschaft aller Menschen beim Anbruch des Tausendjährigen Reiches. Dass dies unmittelbar bevorstand, schienen die Truppen des Bischofs zu beweisen, die als Vorboten der Apokalypse gedeutet wurden.
4. Die Offenbarung in der Gegenwart
Bei den zeitgenössischen Deutungen lassen sich neben einem fundamentalistischen Umgang v. a. die Ideologisierung des Tausendjährigen Reiches im Nationalsozialismus anführen, die klar als Missbrauch des Textes verstanden werden können. In eine andere Richtung gehen politisch-befreiungstheologische Deutungen (anti-Apartheid), die im Text Anhaltspunkte für den Kampf gegen diskriminierende und rassistische Verhaltensmuster in der Gesellschaft finden. Um die Jahrtausendwende(n) lässt sich jeweils ein „Boom“ der Offenbarung feststellen, der von Berechnungen der Endzeit geprägt ist. Schließlich lassen sich Ansätze erkennen, die Offenbarung als Deutungskategorie für die Katastrophen unserer Zeit (Klimakrise, Kriege) zu verstehen.
Zusammenfassung: Eisegese – Fundamentalismus
Während die historisch-kritische Methode die menschlichen Aspekte der Bibel überbetont, geht der Fundamentalismus in die gegenteilige Richtung und überbetont die göttlichen Aspekte der Bibel. Fundamentalismus ist ein Begriff, der erstmals 1895 bei einem Bibelkongress in Niagara/NY benutzt wurde. Er geht von der Irrtumslosigkeit der Hl. Schrift als Prämisse (Diktat des Hl. Geistes) aus und lehnt methodisch reflektierte, wissenschaftliche Interpretationen tendenziell ab. Es kommt in der Folge zu einer wortwörtlichen Lektüre der Bibel, die die Sprachgestalt des Textes ignoriert. Unter dem Anschein einer geschichtlichen Lektüre der Bibel wird der historische Kontext des Textes ignoriert. Erzählungen werden mit den sie deutenden Ereignissen gleichgesetzt, so dass es nicht zu einem echten Dialog mit Kultur und Glaube kommt. Häufig werden Bibel und Tradition getrennt und einfache Antworten auf komplexe Fragen gegeben.
Wissenschaftliche Exegese fragt stets: Wer interpretiert was und wie? Sie ist daher autorzentriert, textzentriert, und/oder leserzentriert. Der gängigste hermeneutische Ansatz ist der von Hans-Georg Gadamer, der die Bibel als dialektischen Vorgang und das Verständnis eines Textes als erweitertes Selbstverständnis versteht.