Theorie und Geschichte der Zensur

Eine globale Perspektive

Im Rahmen der Veranstaltung Verbotene Bücher, 24.03.2023

Die Themen Meinungsfreiheit und Zensur haben auch heute nichts von ihrer Brisanz verloren. Sie scheinen sogar an Aktualität zu gewinnen angesichts der gegenwärtigen Krisen auf der ganzen Welt und mitten in Europa: Demokratien erodieren durch populistische Tendenzen, im Gegenzug erstarken autokratische und diktatorische Systeme.

Der folgende Artikel stellt ganz basale Fragen zur Zensur und gibt dabei einen Überblick über das Themengebiet und den Stand der wissenschaftlichen Erforschung. Am Anfang steht ein kurzer Abriss zur Geschichte der Zensur als Geschichte der Kommunikation (1), es folgt eine Diskussion der Terminologie, aufgespannt zwischen formellem und informellem Zensurbegriff (2). Nach einem Versuch, das Phänomen Zensur zu systematisieren (3), folgt ein kurzer Ausblick auf ein aktuelles Handbuchprojekt zur globalen Zensurforschung (4).

Zensur und Kommunikation

Was ist eigentlich Zensur und seit wann gibt es sie? Der Begriff ‚Zensur‘ selbst stammt aus dem alten Rom, auch wenn die Sache selbst schon viel älter ist und bereits frühzeitliche Kulturen nachweislich prägte, „from early Sumeria and Egypt to the controls built into Chinese ideography, as well as the taboos and protocols maintained around symbolic meaning in numerous other societies“.

Ganz allgemein lässt sich Zensur definieren als Kontrolle und Restriktion von Kommunikation – und diese ist eigentlich immer schon da gewesen. Als überall präsentes, weltweites Phänomen prägt es menschliche Kulturen von ihren Anfängen bis zum heutigen Tag. Kommunikation und ihre Kontrolle sind nicht ohne einander zu denken; und gerade in diesem Sinne lässt sich die Zensur nicht nur als destruktiv, sondern auch als produktiv verstehen: Sie stellt Kommunikation und damit Gesellschaft in gewissem Sinne erst her, dadurch dass sie Diskursräume absteckt und begrenzt, dass sie Literatur und Öffentlichkeit mitbestimmt. Ulla Otto formuliert es so, dass Zensur eine „historisch gleichaltrige Parallel- und Folgeerscheinung der Literatur“ sei – wobei man eher von Kommunikation allgemein sprechen müsste. Das tut z. B. Beate Müller, die „alle für ein Publikum bestimmten kommunikativen Äußerungen, ob schriftlicher oder mündlicher, visueller oder akustischer Natur“ als potenziell von Zensur betroffen beschreibt und daher neben der Literatur weitere Gebiete und Medien (in einer etwas unsystematischen Reihung) aufzählt, Musik und darstellende Kunst, Wissenschaft und Lehre, Theater und Film, Printmedien, Hörfunk und Fernsehen; zu ergänzen wären hier die digitalen Medien.

Wenn man demgemäß von einer gewissen Koexistenz, ja vielleicht sogar Koevolution von Kommunikation und Zensur ausgeht, dann fallen bei einem Blick auf die Geschichte drei Brennpunkte in dieser intrikaten Beziehung auf: Die großen Medienumbrüche der Kommunikations- und Wissensgeschichte gingen jeweils mit einem Wandel und Zuwachs von Zensur einher. Überraschend ist das nicht: Alle – der Wandel zur Schriftsprache, zum Druck und zur Digitalität – ermöglichten eine zeitlich und räumlich ausgreifendere oder dauerhaftere Form von Kommunikation.

Nach Armin Biermanns These ist die Zensur geradezu eine „Folge der Schrift“, die vor 5000 Jahren entstand, motiviert durch das „Bedürfnis nach Stabilität und Kontrolle der Kommunikation“. Während für die Genese der Literalität ein Zensurwandel als mindestens wahrscheinlich gilt, ist er für den zweiten Brennpunkt, die Gutenberg’sche Medienrevolution, ohne Zweifel belegt. Zensur gewann mit und aufgrund der massenhaften Verbreitung gedruckter Schriften an Bedeutung für die politischen und geistlichen Herrscher. Mit Restriktion reagierten sie auf die Publikationstätigkeit der Reformatoren, auf Luther allen voran. Zensur wurde zu einem politischen Instrument, das im Laufe der Zeit immer stärkere Institutionalisierung und Professionalisierung erfuhr, von Metternichs Überwachungsstaat bis zu den totalitären Zensurapparaten des NS-Staates und den kommunistischen Regimen des 20. Jahrhunderts. Den jüngsten medialen Umbruch stellt der Wandel zur digitalen Kommunikation dar – die erneut massive Veränderungen der Zensur, ihrer Formen und Strukturen zeitigt.

Dabei wäre es falsch, Kommunikation (oder enger gefasst: Literatur) und Zensur in der Geschichte als monolithische Blöcke wahrzunehmen, die ein reines Gegensatzpaar von Licht und Dunkelheit darstellen. Heinrich H. Houben, ein früher Zensurforscher, der vor allem durch den reichen Anekdotenschatz seiner Publikationen berühmt geworden ist, konnte das in Bezug auf den Vormärz im 19. Jahrhundert noch so formulieren: „Der Kampf der Literatur mit der Zensur, wie sie ehemals in deutschen Landen betrieben wurde, ist der ewige Widerstreit zweier Weltanschauungen, der Kampf des Lichtes gegen die Finsternis, der Aufklärung gegen den Obskurantismus.“ Jene These eines Dualismus zwischen dem Licht der freigeistigen Literatur und der Dunkelheit der restriktiven Zensur, zwischen Gut und Böse, lässt sich nicht verallgemeinern. Historisch angemessener ist es, die Dialektik der aufeinander bezogenen und sich gegenseitig definierenden kulturellen Phänomene Kommunikation und Zensur wahrzunehmen.

Denn Zensur galt von der Reformation an bis weit ins 18. Jahrhundert hinein keineswegs als etwas Schlechtes, Negatives. Herrscher wie Untertanen sahen in ihr allgemein die notwendige Basis eines Zusammenlebens in Sicherheit, Frieden und Ordnung – aus dem via Zensur Unruhestifter und Störfaktoren ausgeschlossen werden konnten. Selbst den meisten Aufklärern galt die Zensur weiterhin als probates Mittel der Kommunikationskontrolle, nun eben in ihrem Sinne eingesetzt, also etwa mit dem Ziel der Bekämpfung altgläubig-kirchlicher Positionen, aber auch nutzloser und nicht lehrreicher (Unterhaltungs-)Literatur.

In der Metternich-Zeit wiederum sprechen die ambivalenten Zensureinstellungen der Intellektuellen und ihre zahlreichen Berührungspunkte mit der institutionalisierten Zensur (nicht wenige Schriftsteller waren selbst Zensoren) gegen ein einfaches Schwarz-Weiß-Schema. Spätestens in der Moderne hat die Zensur dann allerdings ihr Positivimage gänzlich verloren: Sie wird zum Tabu. Keine Gesellschaft, kein Staat mehr, auch nicht Diktaturen und autokratische Systeme, stehen offen zu ihrem Gebrauch.

Zensurbegriffe

Bei all diesen Versuchen, das Verhältnis von Kommunikation und Zensur zu erfassen, kommt es darauf an, was man genau unter Zensur versteht. Denn es gibt keine universell gültige Definition und entsprechend auch keine „generell etablierten Paradigmen und akzeptierten analytischen Instrumentarien für die Arbeit an der Zensur“. Stattdessen existiert im allgemeinen Sprachgebrauch ebenso wie in der Forschung eine breite Skala dessen, was man unter ‚Zensur‘ fasst, von einem formellen zu einem informellen Zensurbegriff reichend. Mit formeller Zensur ist eine im Allgemeinen staatliche, zumindest aber von einer autoritativen Instanz ausgeübte Kontrolle von Meinungsäußerungen aufgrund von Vorschriften, verwaltungs- und strafrechtlichen Regelungen und Maßnahmen gemeint, mit informeller Zensur eine Kontrolle, die nicht durch autoritative Instanzen vollzogen wird, sondern durch andere gesellschaftliche und individuelle Zwänge, etwa durch ökonomischen, politischen und psychologischen Druck.

Es überrascht nicht, dass bei einem solchen informellen Zensurbegriff die Grenzen zu anderen Formen gesellschaftlicher Kommunikationslenkung und -kontrolle verschwimmen. Generell ist der Zensursemantik eine gewisse Vagheit eigen. Jenseits dieser Skala von engem zu weitem Zensurverständnis lässt sich ein quasi referenzloser Begriff von Zensur wahrnehmen, ein Begriff, der vom Tatbestand selbst entkoppelt ist. Damit meine ich die in Politik und Medien, Kunst und Kultur omnipräsente Zensurpolemik, bei der Zensur „zum inflationär verwendeten polemischen Kampfbegriff“ wird. Und zwar immer dann, wenn über Sagbarkeitsgrenzen gestritten wird.

Nicht nur Rechtspopulisten bedienen sich mit ihren geschickten Skandalisierungs- und Selbstviktimisierungsstrategien immer wieder des Zensurbegriffs, um Kritik an menschenverachtenden und diskriminierenden Äußerungen zurückzuweisen. Auch antidiskriminierende Tabuisierungen, Proteste und Boykotts – Stichwort Cancel Culture – werden in gesellschaftlichen Debatten oft als ‚Zensur‘ bezeichnet. Der polemische Dauereinsatz als Kampfbegriff führt generell zu einer Abnutzung, Abschwächung und semantischen Verkürzung von Zensur.

„Eine Zensur findet nicht statt.“ (Art. 5 Abs. 1 GG)

Um noch einmal etwas näher auf den formellen Zensurbegriff einzugehen, sei das Paradebeispiel präsentiert, das sich in der bundesdeutschen Verfassung, Artikel 5 des Grundgesetzes, findet. Das hier fixierte Zensurverbot sichert das bürgerliche Grundrecht auf Meinungsfreiheit ab. Wörtlich heißt es: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ (Art. 5 Abs. 1 GG)

Gemeint ist hier mit ‚Zensur‘ nach der herrschenden rechtswissenschaftlichen Meinung die staatliche Vorabprüfung einer zur Veröffentlichung bestimmten Meinungsäußerung.

Ein derart enger Zensurbegriff, der nur die staatliche Vorzensur erfasst, blendet zahlreiche Phänomene der Kommunikationskontrolle und -restriktion aus. Deshalb ist er für eine historische Zensurforschung nicht brauchbar, zum einen wegen des Anachronismus, zum anderen auch aus sachlichen Gründen. Denn nicht einmal die umfassende systematische Literaturregulierung, die die katholische Kirche jahrhundertelang mit Instrumenten wie dem Index librorum prohibitorum ausgeübt hat, wäre nach diesem Verständnis als Zensur zu bezeichnen. Wenn Rom heute den Index wieder einführte und den Kirchenmitgliedern Zehntausende Bücher verböte, wäre das nach dem deutschen Grundgesetz keine Zensur – eben weil lediglich der Staat der ‚Gegner‘ ist, vor dem es schützen soll. Grundrechte sind Abwehrrechte gegen den Staat, so die berühmte Formulierung im so genannten Lüth-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Januar 1958.

Es gibt noch andere kritische Fragen, die man an den engen Zensurbegriff der deutschen Verfassung stellen kann. In Zeiten globaler Digitalisierung, in denen Internetunternehmen eine umfassende Diskurskontrolle ausüben, in denen Filterblasentechnologien und betriebliche Geschäftsordnungen die Kommunikation lenken, scheint die eigentliche Gefahr für die Meinungsfreiheit gar nicht mehr unbedingt vom Staat auszugehen – zumindest nicht in demokratischen Rechtsstaaten. In dieser neuen Situation diskutiert die Rechtswissenschaft daher über die Frage nach der so genannten Drittwirkung des Grundgesetz-Artikels 5 auf nicht-staatliche Institutionen, also z. B. auf privatwirtschaftliche Unternehmen. Übrigens hatte bereits das erwähnte Lüth-Urteil die Frage nach der mittelbaren Drittwirkung des Grundgesetzes angestoßen und die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte betont, in deren Geist alle Normen im Rechtsstaat ausgeübt werden sollten.

Die Frage ist also: Sollte Zensur also nicht nur für den Staat verboten sein, sondern auch für andere Akteure? Einer solchen Forderung nach weniger Kommunikationskontrolle im Netz steht indes ein anderes großes Problem unserer Zeit geradezu entgegen, und zwar die Rechtsdurchsetzung im digitalen Raum. Um Gesetze auch digital durchsetzen zu können, gilt in Deutschland seit 2017 das umstrittene „Gesetz zur Verbesserung der Rechtsdurchsetzung in sozialen Netzwerken“ (NetzDG). Es erlegt den großen Internetprovidern umfassende Kontrollpflichten auf, wodurch die digitale Kommunikationskontrolle zweifelsohne gestärkt wird. In diesen Kontext gehört auch das seit 2021 geltende „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität“, das Meldepflichten der Internetanbieter beinhaltet. Denn nicht nur die Kommunikationskontrolle gefährde die Meinungsfreiheit, sondern, so die amtliche Begründung, auch gerade ihr Gegenteil: Im Internet und besonders in den sozialen Medien beobachtet der Gesetzgeber eine zunehmende Verrohung der Kommunikation, die wiederum die Meinungsfreiheit gefährde.

Censorship materializes everywhere

Wenn man Zensur nun nicht nur als politische Machtausübung und staatlich-autoritäre Herrschaftspraxis definiert, sondern in einem weiteren Sinne darunter eine wie auch immer geartete Kommunikationskontrolle versteht, formell und informell, privat und öffentlich – dann muss man feststellen, dass eine Freiheit von Zensur gar nicht existiert. In diesem weiten Begriffsverständnis ist Zensur nicht nur im vormodernen Feudalismus oder in aktuellen Diktaturen allgegenwärtig, sondern immer und überall, sie ist „inevitable, no matter the socio-political context“. Auch in demokratischen Rechtsstaaten erscheint sie in diesem Sinne nicht als Sonder-, sondern als Regelfall menschlicher Kultur. Robert Post erklärt: „If censorship is a technique by which discursive practices are maintained, and if social life largely consists of such practices, it follows that censorship is the norm rather than the exception. Censorship materializes everywhere“.

Besonders einflussreich für eine weite Zensursemantik wurden die soziopolitischen Konzepte von Michel Foucault und Pierre Bourdieu. Foucault nimmt in seinen Forschungen gesellschaftliche Ausschlussprozesse, „procédures d’exclusion“ in den Blick, die den Diskurs kontrollieren, selektieren und organisieren; auf diese Weise macht er verborgene Repressionen sichtbar. Die durch ihn inspirierte, poststrukturalistische Zensurforschung, die seit den 1990er Jahren stattfindet und für die Posts zitierter Sammelband Censorship and Silencing zum Standardwerk wurde, wird auch als New Censorship (Theory) bezeichnet. Im Fokus stehen Beziehungen zwischen Diskurs und Macht, und zwischen Sprache und Restriktion.

Die Zensurforschung erlebte durch New Censorship einen merklichen Aufschwung, dennoch gab und gibt es auch Kritik an einem derart weiten, allzu vagen Begriff von Zensur. Laut Biermann lässt sich mit ihm „wissenschaftlich – nichts mehr anfangen“, da er nahezu „jede vollzogene Selektionsleistung“ erfasse, „die etwas zum Thema macht und anderes am Horizont beläßt, also ‚zensiert‘“; in einem solchen Begriffsverständnis würden Zensur und Gesellschaft gleichsam identisch. Besonders historisch-empirisch arbeitende Forscherinnen und Forscher kritisieren den weiten Zensurbegriff als „beinahe bedeutungsleer, auf jeden Fall aber wissenschaftlich weitgehend inoperabel“ und warnen vor einer „Inflationierung und Entleerung des Begriffs“. Moore hingegen betont die Vorzüge eines weiten Verständnisses von Zensur, das eben nicht nur die allgegenwärtige globale Zensur von Staaten in den Blick bekomme, sondern auch die weiche, durch äußeren Druck provozierte Zensur, nicht zuletzt die Selbstzensur.

Phänomenologie der Zensur

Es stellt für die Forschung eine große Herausforderung dar, das Phänomen Zensur zu systematisieren und zu kategorisieren. Gerade weil eine Vielfalt an Definitionen und Begriffsverständnissen existiert, ist es kaum möglich, eine transhistorisch und transepochal valide Zensurphänomenologie aufzustellen. In einem ersten Versuch seien hier lediglich die Komponenten einer derartigen Zensurphänomenologie aufgeführt: die Subjekte, Objekte, Mittel, Funktionsorte und Motive der Zensur.

Als Zensursubjekte kann man die Träger der Zensur bezeichnen, eben jene politischen und gesellschaftlichen Akteure und Instanzen, die die Kommunikationskontrolle ausüben. Je nachdem, ob man einen formellen oder einen informellen Zensurbegriff zugrunde legt, zählen dazu Institutionen wie Staat und Kirche, Behörden, aber auch weitere gesellschaftliche Gruppierungen wie Bildungseinrichtungen, Interessenverbände oder politische Bewegungen, der Markt und, im Falle der Selbstzensur, die eigene Person. Zensurobjekte sind mündliche und schriftliche, akustische und visuelle Äußerungen, die von Zensur betroffen sind, aber auch die mit ihnen verbundenen Personen – z. B. Schriftstellerinnen und Schriftsteller, jedoch im Prinzip alle Mitglieder einer Gesellschaft –, Institutionen (Verlage, Rundfunkanstalten, Presseorgane), Medien (Druck, Film, Fernsehen, Internet) und Gegenstände (Kunstwerke, Bücher, andere Datenträger), die von Zensur betroffen sind.

Die Verfahren, Techniken und Strategien, mit denen die Zensursubjekte operieren, kann man als Zensurmittel bezeichnen. Dazu gehören offizielle Verbote, amtliche Verordnungen und Indizes (genannt wurde der Index librorum prohibitorum), Bücherverbrennungen und Zensurstriche ebenso wie digitales Blockieren und Löschen. Im Rahmen eines informellen Zensurbegriffs zählt man zu Zensurmitteln auch ökonomische Schädigungen, Boykotts, Berufsverbote und diverse andere Mittel der Kommunikationskontrolle.

Drei besondere Funktionsorte – oder auch „Einbruchstellen“ – der Zensur lassen sich im Kommunikationsprozess festmachen, entsprechend der sozialgeschichtlichen Trias von Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur: Zensur kann sich erstens auf die Produktion von Äußerungen beziehen, d.h. auf Autorinnen und Autoren zielen. Sie kann zweitens die Distribution, also Verteilung und Verbreitung von Äußerungen betreffen, zum Beispiel durch Verlage, Plattformprovider oder andere Medienanbieter. Drittens richtet sich Zensur auf die Rezeption von Äußerungen, indem sie Lektüre sanktioniert oder zirkulierende Meinungsäußerungen diffamiert.

Zensurmotive schließlich sind die Beweggründe der Zensur. Zum Teil werden diese von den Zensursubjekten selbst vorgebracht, wenn z. B. die frühneuzeitlichen Herrscher betonen, zum Erhalt von Ordnung, Sicherheit und Frieden die Kommunikation zu kontrollieren. Zum Teil können Beweggründe nur indirekt aus Zensuraktivitäten erschlossen werden; so werden etwa wirkmächtige Motive wie der Machterhalt von Regierenden selbstredend nicht ausdrücklich formuliert. In der Forschung benennt man, zurückgehend auf Otto, als die wichtigsten Zensurmotive religiöse, moralische und politische. Bemerkenswerterweise finden sich genau diese drei im Titel des kurbayrischen Zensurkatalogs von 1770, Catalogus verschiedener Bücher, so von dem Churfl. Büchercensurcollegio theils als religionswidrig theils als denen guten Sitten, theils auch als denen Landsfürstlichen Gerechtsamen nachtheilig verbothen worden, demonstrativ aufgeführt. Zu ergänzen wäre der Jugendschutz, ein schon in der Römischen Republik nachweisbares Zensurmotiv, das besonders seit dem 18. Jahrhundert in Erscheinung tritt.

Diese aufgelisteten Komponenten einer Zensurphänomenologie, Zensursubjekte und -objekte, Zensurmittel, Funktionsorte und Motive, bilden ein komplexes Beziehungsgefüge, dessen Relationen sich auf syntagmatischer Ebene (z. B. zwischen den Zensurträgern und ihren Methoden) sowie auf paradigmatischer Ebene (z. B. zwischen den Zensurmotiven verschiedener Epochen) beschreiben lässt.

Handbuch-Projekt

Bald wird im Nomos Verlag ein von mir herausgegebenes Handbuch unter dem Titel Zensur. Handbuch für Wissenschaft und Studium erscheinen – eine Publikation, die in der heutigen Situation an besonderer Relevanz gewinnt. Es wurde schon betont, dass das Thema Zensur auch in unserer Gegenwart virulent bleibt. Gerade die gewaltige Präsenz formell-staatlicher Zensur wird uns heute deutlicher denn je vor Augen geführt. In aktuellen Krisen, besonders angesichts der brutalen Unterdrückung von Meinungsfreiheit im russischen Angriffskrieg, geht es nicht um verborgene Unterdrückungsmechanismen in Sprache, Kultur und Gesellschaft, die im Foucault’schen Sinne aufzuspüren wären; es geht auch nicht um kulturelle und politische Debatten der Sagbarkeit im demokratischen Rechtsstaat. Das, was uns aktuell vor Augen geführt wird, ist Zensur in ihrer härtesten, brutalsten Form, formell-staatliche Zensur.

Dies macht das entstehende Zensur-Handbuch viel politischer und brisanter, als es derartige Handbuchprojekte normalerweise sind. Üblicherweise versammeln sie den Stand der Forschung, um ein Standardwerk für Wissenschaft und Studium zu schaffen. Das möchte freilich auch unser Handbuch. Zugleich aber stößt es immer wieder von der akademischen Forschung aus in politisch hochaktuelle Konstellationen vor, zu denen es sich positioniert. Besonders deutlich wird das in den Ausführungen zu Russland und China, aber auch zur ‚wilden Zensur‘ in Süd- und Mittelamerika.

Zum Aufbau des Handbuchs seien zum Schluss ein paar Hinweise erlaubt: Am Anfang stehen begrifflich-theoretische Grundlagenartikel sowie Analysen zu Zensur in den großen Handlungsfeldern Politik, Religion und Wirtschaft, Kunst, Medien und Recht. Auf die Präsentation der zensurgeschichtlichen Epochen von der Antike bis zum 21. Jahrhundert folgt sodann eine Sektion, mit der wir – erstmals übrigens – die globale Dimension der Zensurforschung ernst zu nehmen versuchen: Jeder Kontinent wird hinsichtlich seiner Zensurgeschichte und -gegenwart vorgestellt. Zum Schluss werden aktuelle Kontroversen und Polemiken analysiert, von der so genannten Cancel Culture über Identitätspolitik und kulturelle Aneignung hin zu Rechtspopulismus und Verschwörungstheorien.

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