Vermittlerin oder zwischen allen Stühlen?

Zur Rolle der Kirche in Kuba

Im Rahmen der Veranstaltung "Kuba im Umbruch? 7. Karl Graf Spreti-Symposium", 08.06.2018

Hinführung

 

Ich reise seit 2007 zwei- bis dreimal im Jahr nach Kuba. Die Benediktinerkongregation von Sankt Ottilien, deren Abtpräses ich bin, hat dort im Jahr 2008 eine Klostergründung begonnen. Das ist sozusagen der Sitz im Leben meines Vortrags. Ich bin der zuständige kirchliche Höhere Obere, der diese Gründung beaufsichtigt und darf da von Zeit zu Zeit hinfahren. Wie es dazu gekommen ist, werde ich an geeigneter Stelle erwähnen – die Geschichte passt durchaus zum Thema des heutigen Tages.

Diese Klostergründung in Kuba – das will ich einfach vorausschicken –, die mir und uns ein sehr wichtiges und großes Anliegen ist, wird von der Regierung intensiv begleitet. Das beginnt damit, dass ich nicht mit einem Touristenvisum einreise, sondern immer mit einem Spezialvisum, das beim Innenministerium beantragt werden muss. Das Land, das uns für die Klostergründung zur Verfügung gestellt wurde, ist von der Regierung bewilligt worden. Es gab vor allem in den Anfängen unserer Klostergründung eine sehr intensive Beobachtung unseres Alltagslebens, optisch und akustisch. Wir haben den Eindruck, dass wir nicht mehr so interessant sind wie am Anfang, dass da inzwischen etwas weniger intensiv aufgepasst wird. Aber auch das, was wir anderswo über die Verhältnisse in Kuba erzählen, wird gerne und aufmerksam beobachtet. Das erfordert von mir Umsicht und Klugheit, auch heute, und dafür bitte ich Sie um Verständnis.

Ich möchte Sie vorneweg mitnehmen nach Santiago de Cuba. Auf einem der Bilder, die uns Professor Baier gezeigt hat, war die dortige Kathedrale zu sehen, mit zwei prächtigen Türmen, im Hintergrund das Meer und vor der Kathedrale ein Platz. Am 31. Dezember 1958 hatte der Diktator Fulgencio Batista y Zaldívar Kuba verlassen, und am 1. Januar rief Fidel Castro den Triumph der Revolution aus, und zwar auf diesem Platz, vor dieser Kathedrale. Er stand auf dem Balkon des Rathauses, des „ayuntamiento“, gegenüber der Kathedrale und hat da eine Rede gehalten, eine dieser ausführlicheren Reden, die sein Markenzeichen wurden. Diese wird zitiert als die Rede vom 1. und 2. Januar: sie begann am Abend und endete erst am nächsten Morgen.

Fidel Castro war nicht allein auf diesem Balkon. Neben ihm stand Enrique Pérez Serantes, der Erzbischof von Santiago und Primas von Kuba. Er hatte die Türen der Kathedrale für diesen Anlass öffnen lassen. In der frommen katholischen Überlieferung heißt es: damit Fidel Castro während seiner ganzen Rede immer den Tabernakel vor Augen habe. Wichtiger war wahrscheinlich diese symbolische Geste: die katholische Kirche von Santiago und implizit von ganz Kuba begrüßt diese Revolution mit offenen Türen. Das war am 1. und 2. Januar. Am 3. Januar veröffentlichte Erzbischof Pérez Serantes einen Hirtenbrief mit dem Titel „Vida nueva“, neues Leben, und formulierte in diesem Brief eine ziemlich enthusiastische Begrüßung der Revolution. Das nur einmal als kleine Szene, als Einstieg in diesen Vortrag.

 

Historische Wegmarker

 

Die Geschichte der Kirche in Kuba ist eingebettet in die übliche lateinamerikanische Kolonialgeschichte einschließlich des „Patronado“. Das heißt, die spanische Krone hatte sich vom Heiligen Stuhl umfassende Vollmachten für den Aufbau der Organisation der Kirche in allen Kolonien Lateinamerikas übertragen lassen. Es gab deshalb von vornherein eine gewisse Gleichschaltung der kirchlichen Entwicklung mit den Kolonialstrukturen. Die katholische Kirche war von daher auch positiv unterstützend auf die spanische Kolonialregierung hin orientiert. Kuba war enger an Spanien gebunden als die anderen Kolonien und erlangte als letzte überseeische Besitzung Spaniens eine vorübergehende Unabhängigkeit, die dann rasch durch die Abhängigkeit von den USA abgelöst wurde. In Spanien wird der Verlust Kubas bis heute als ein Trauma erinnert, mehr als der Rest Lateinamerikas. Eine bis heute gängige Redewendung drückt das aus: „Más se perdió en Cuba“. Bei einem Fehlschlag tröstet man sich damit, es hätte ja noch schlimmer kommen können, „in Kuba haben wir noch viel mehr verloren“.

Die Unabhängigkeitsbewegung Kubas hatte, anders als im Rest Lateinamerikas, eine starke katholische Basis. Anderswo gab es im Rahmen der Unabhängigkeitsbestrebungen starke antiklerikale und freimaurerische Strömungen. In Kuba war das kaum der Fall, und das liegt unter anderem daran, dass das intellektuelle Leben Kubas sehr stark von zwei katholischen Einrichtungen geprägt worden ist, der Real y Pontificia Universitad de San Jeronimo, die 1728 vom Dominikanerorden gegründet worden war, und vom Priesterseminar San Carlos y San Ambrosio, das sich ebenfalls zu universitätsähnlichen Institution entwickelt hatte, mit Kursen in vielen weltlichen Fächern. Beide liegen in Havanna und existieren bis heute in dem stolzen Bewusstsein einer ruhmreichen Geschichte. Das Seminar ist weiterhin das Priesterseminar der kubanischen Kirche. Die Universität ist seit Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr päpstliche Universität; sie hat sich 1842 sozusagen säkularisiert, besteht aber ausdrücklich auf der ehrwürdigen Traditionslinie der alten Päpstlichen Universität.

In diesen beiden Institutionen wurde die Unabhängigkeit Kubas vorgedacht und intellektuell entwickelt. Eine führende Rolle hat dabei ein Mann gespielt, der neben dem genannten José Martí vielleicht der zweite Vater der intellektuellen Unabhängigkeitsbewegung in Kuba ist: Félix Varela. Félix Varela ist etwas älter als Martí; er lebte von 1788 bis 1853, war Priester, Intellektueller und daneben Dozent an diesem Priesterseminar, hat dort Philosophie, Physik und Chemie unterrichtet, hat einen Lehrstuhl für Verfassungsfragen eingerichtet und wurde von der ganzen nachfolgenden Generation kubanischer Intellektueller als ihr Zieh- oder Stammvater betrachtet. „Félix Varela ist der Mann, der uns das Denken gelehrt hat“, sagte José de la Luz y Caballero. Seine Schüler spielten eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des kubanischen Nationalbewusstseins; einer von ihnen war der Lehrer José Martís.

1821 wurde Varela während einer kurzen Blüte des Liberalismus Abgeordneter für Kuba im spanischen Parlament. Er hat in dieser Zeit Petitionen für die Unabhängigkeit und ein Memorandum zur Abschaffung der Sklaverei verfasst. Als es in Spanien 1823 zur Restauration eines autoritären Regimes kam, wurden die renitenten Abgeordneten zum Tode verurteilte, darunter auch Félix Varela. Dieser ging ins Exil nach New York, wo er noch jahrzehntelang wirkte. Er gründete Zeitungen, schrieb mit am berühmten Baltimore-Katechismus und wurde Generalvikar der Diözese New York. Er starb schließlich im Exil. Dabei blieb er für Kuba eine wichtige Bezugsperson, auf die sich bis heute viele berufen. Er wird in allen gesellschaftlichen Kreisen hoch geehrt und geschätzt.

1910 wurden seine Gebeine in New York exhumiert und nicht, wie sonst üblich, in eine Kapelle verbracht, um eine etwaige Seligsprechung vorzubereiten. Felix Varela wurde stattdessen in der Aula Magna der Universität von Havanna beigesetzt und liegt dort heute noch. Inzwischen gibt es auch den Seligsprechungsprozess, aber ich weiß nicht, ob die Knochen aus der Aula Magna wieder herausgebracht werden können. In Kuba verleiht die Regierung seit 1981 den Félix Varela-Orden, als „höchste Auszeichnung für die unvergänglichen Werte der nationalen und universalen Kultur“, wie es heißt.

Das ist wichtig, weil nicht überall in Lateinamerika die katholische Kirche und ihre Repräsentanten so eng mit der nationalen Befreiungsbewegung verbunden waren. Daraus ergab sich ein gewisses Vorschusskapital und eine Tradition, auf denen auch der Erzbischof von Santiago noch aufbaute, als er die Revolution 1959 zunächst so enthusiastisch begrüßte.

In der Republik, also in der Zeit dieser Quasi-Kolonialherrschaft durch die USA, ist es der Kirche nicht schlecht gegangen. Sie konnte starke Institutionen entwickeln, die eben auch weiter das kubanische Nationalbewusstsein förderten, große Laienverbände und Schulen. Fidel Castro, das wurde schon erwähnt, war Jesuiten-Schüler. Das hatte durchaus Folgen: Im katholischen Kuba wird erzählt, dass Fidel Castro nach der Aufhebung und Umwandlung des Jesuitenkollegs in eine Militäreinrichtung persönlich die Anweisung gegeben habe, dass die Kapelle nicht angerührt werden dürfe. Sie müsse bleiben, wie sie zu seiner Schulzeit war, und so sei es dann auch geschehen.

Am Vorabend der Revolution gab es in Kuba ungefähr 670 Weltpriester für 6,5 Millionen Gläubige. Das ist eine ziemlich gute Quote. Es gab 158 Frauenklöster und 87 Männerorden. Damit stellte die katholische Kirche in Kuba eine starke, auch sozial und kulturell bedeutsame Kraft dar.

 

Kirche und Revolution

 

Entsprechend ihrer kubanischen Eigentradition war die katholische Kirche auch in die Revolution oder Rebellion einbezogen. Zahlreiche Geistliche wirkten als Kapläne bei den Rebellentruppen, mit Duldung oder Erlaubnis ihrer Bischöfe. Die Kirche reklamierte in den Folgejahren für sich, dass sie bei der Gewissensbildung der Revolutionsführer, auch bei denen, die sich später als atheistisch deklariert haben, durchaus eine wichtige Rolle gespielt habe. Der besagte Primas von Kuba, der Erzbischof von Santiago, der da auf dem Balkon stand, hatte schon 1953 nach dem gescheiterten Angriff auf die Moncada-Kaserne für den untergetauchten Fidel Castro verhandelt, damit es bei einem Gerichtsverfahren nicht zur Todesstrafe komme. Auf diese Garantie hin stellte sich Fidel Castro, es kam zum Gerichtsverfahren und zu einer Verurteilung. 1955 ging er nach einer Generalamnestie ins Exil, kehrte 1956 zurück und begann die Revolution.

Die Folgen der Revolution sind bis heute bestimmend, und das schlägt sich auch in der Sprache nieder. Der Ausdruck „Triumph der Revolution“ ist ein selbstverständlicher Redebestandteil, insbesondere bei Datierungen. Gemeint ist der 1. Januar 1959, und vieles wird danach datiert, z.B. die Ausgaben der einzigen kubanischen Tageszeitung „Granma“, dem Organ des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas. An vielen Gebäuden sieht man Jahreszahlen, die ab 1959 gezählt werden.

Zwei Castro-Zitate aus den ersten Jahren nach der Revolution belegen die katholische Rolle: „Die kubanischen Katholiken haben entschieden an diesem Werk der Freiheit mitgearbeitet.“ Und: „Dies ist eine sozialistische Revolution sui generis. Das sehen Sie schon an diesem Detail: Es handelt sich um die erste derartige Revolution auf der ganzen Welt, die mit völliger Unterstützung der Kirche beginnt.“

„Beginnt“ ist hier allerdings ein sehr wichtiges Wort: nach etwa zehn Monaten nahm die Revolution einen ausdrücklich kommunistischen und prosowjetischen Kurs auf. Daraufhin kam es zu Gegendemonstrationen, die stark katholisch geprägt waren, und nach der fallierten Schweinebucht-Invasion 1961 dann zu umfangreichen Verhaftungen auch von Kirchenführern. Dies führte zu einer Desillusionierung; es kam zu Hirtenbriefen, die sich sehr kritisch mit den Eingriffen der Regierung ins Unterrichtswesen beschäftigten, mit den Verstaatlichungen, den Agrarreformen, der Unterbindung der katholischen Medien und so fort. Im September 1961 wurden dann 161 Priester und ein Bischof ausgewiesen, auf ein kleines Schiff namens Covadonga gesetzt und losgeschickt. Das führte dazu, dass dann kurz danach viele Kirchenobere, vor allem solche mit Sitz in Spanien, ihre Priester, Ordensbrüder und -Schwestern aus Kuba abberiefen. Von etwa 800 Priestern blieben nur 200 zurück, von 2000 Ordensfrauen ebenfalls nur etwa 200. Am Ende des Jahres 1962 konnte die Kirche nur noch mit 10 Prozent ihres Personals weiterarbeiten.

Die Situation war nun schwierig. Jahrzehntelang galten die Anstrengungen dem einfachen Überleben der Kirche. Es wurde versucht, die Grunddienste des kirchlichen Lebens sicherzustellen: Gottesdienste, Sakramente, Taufen, Firmungen. Es gelang kaum, ein darüber hinausgehendes kirchliches Leben aufrechtzuhalten. Überdies war die Kirche auch verunsichert, da sie nicht wusste, wie sie sich angesichts der dramatisch veränderten Verhältnisse positionieren sollte.

Das Zweite Vatikanische Konzil führte vielerorts und auf vielen Ebenen zu einem Aufbruch und zu einer Befreiung aus Verkrustungen. Dies traf auch auf die kubanische Situation zu. Das Konzil und in der Nachfolge des Konzils die lateinamerikanischen Bischofsversammlungen von Medellín und Puebla boten in den 1970er Jahren eine neue Perspektive. Sie boten eine theologisch Grundlegung für eine Kirche, die sich sehr bewusst auf die Seite des Volkes stellt. Das schuf Möglichkeiten einer vorsichtigen Öffnung auch im Blick auf ein kommunistisches Regime, und kam es schließlich zu einem Modus vivendi: Die Kirche fand sich damit ab, dass sie in einem Land mit einem von einer sozialistischen Revolution geprägten Regime zu leben hatte und verzichtete auf Fundamentalopposition. Es wurde nun auch möglich, einige gemeinsame Ziele zu bejahen – etwa die häufig aufgezählten Errungenschaften der Revolution bei der Armenfürsorge, im Gesundheitswesen, der Egalität innerhalb gewisser Grenzen und bei der Abdeckung der Grundbedürfnisse. Andererseits fand sich der kubanische Staat mit der Existenz der Kirche ab und akzeptierte ihre historisch gewachsene Rolle in Kuba und Lateinamerika und ihre Dimension als Weltkirche.

 

Kirchliches Leben in der Gegenwart

 

Wie sieht das kirchliche Leben heute in Kuba aus? Als die Benediktiner 2008 nach Kuba kamen, sagte mir der Apostolische Nuntius: „Substanziell haben wir hier Freiheit.“ Es gibt allerdings Einschränkungen. Die Kirche hat keinen Zugang zu Massenkommunikationsmitteln und es ist ihr versagt, im Bildungssektor tätig zu werden. Sie wirkt weiterhin im Bereich von Caritas und Altenfürsorge, aber nicht mehr im Gesundheitswesen. Sie unterliegt einer intensiven staatlichen Aufsicht, die durch ein Büro für religiöse Angelegenheiten wahrgenommen wird. Dieses ist auf der Leitungsebene der Partei verankert. Alle Religionen unterliegen dieser Aufsicht in gleicher Weise. Dies wird gerne betont, und man kann heraushören, dass die Einreihung der katholischen Kirche neben den Zeugen Jehovas, verschiedenen Gruppen der Santería, den Mormonen und der kleinen Kapelle der russisch-orthodoxen Kirche die katholische Kirche ein bisschen zurechtstutzen soll. Aber es wird gleichzeitig auch ernstgenommen, dass die katholische Kirche nach wie vor historisch, kulturell-sozial, aber auch durch eine große Anzahl von Gläubigen bedingt eine entscheidende Rolle in Kuba spielt.

Die Kirche unterliegt auch den Einschränkungen, mit denen jeder Kubaner in seinem Alltagsleben zurechtkommen muss. Politische Betätigung gibt es nur im Rahmen eines sozialistischen Einparteienstaates. Alle Aspekte von Staatssicherheit werden sehr stark betont; man muss also auch damit rechnen, dass man abgehört und beobachtet wird usw. Das geht aber allen so, nicht nur den kirchlichen Amtsträgern. Und dann gibt es da noch den Alltag beherrschenden Faktor: Das Wirtschaftsleben ist auf einem sehr, sehr niedrigen Niveau. Viele Alltagsbedürfnisse, beginnend bei der elementaren Nahrungsversorgung, sind nur ganz schwer zu meistern, und das gilt für alle. Bischöfe und Priester müssen sich genauso bemühen, dass sie selber oder jemand anderer für sie jeden Tag etwas zum Essen auf den Tisch bringen bzw. bringt, wie alle anderen auch.

Eine weitere Erschwernis des Alltags, die die Kirche aufgrund ihrer Befassung mit Projekten vielleicht doch mehr trifft als viele andere, ist ein kompliziertes und aufwändiges Genehmigungswesen. Wir Benediktiner haben bei unserer Klostergründung in vielerlei Weise Unterstützung erfahren. Aber auch für uns sind relativ kleine Unternehmungen manchmal sehr beschwerlich: Erlaubnisse, Genehmigungen, Technikergutachten von vereidigten Sachverständigen usw. Das lähmt und kostet sehr Nerven. Ich kann das an meinen Mitbrüdern spüren, die da vor Ort leben, und das geht natürlich allen anderen auch so, die irgendwo in einer Funktion sind, in der sie Dinge bewegen müssen.

All das teilt die katholische Kirche allerdings mit allen Kubanern, das ist also keine herausgehobene Bedrängnis. Ein Mitarbeiter der Deutschen Bischofskonferenz, der kürzlich in Kuba war, sagte mir, er habe überall nachgefragt, wo die Verfolgung der Kirche spürbar werde. Die Gesprächspartner vor Ort hätten aber alle abgestritten, dass es solche Verfolgungen gebe, sie seien total eingeschüchtert. Nach meiner Erfahrung sind die Kubaner natürlich vorsichtig, aber ich glaube nicht, dass sich die katholische Kirche im Alltag verfolgt fühlt. Sie teilen das oft schwierige Alltagsleben aller Kubaner, aber darüber muss man sich ja nicht gerade bei einem Ausländer beschweren.

Die katholische Kirche ist heute in Kuba der größte nichtstaatliche Akteur im gesellschaftlichen und kulturellen Leben, eigentlich auch der einzige, der diese Organisationstiefe aufbringt und zugleich so intensiv mit dem Ausland vernetzt ist. Das gibt der katholischen Kirche eine grundsätzlich herausgehobene Stellung.

 

Die Ortega-Jahre

 

Mein Beitrag steht unter dem Titel „Vermittlerin oder zwischen allen Stühlen?“, das heißt es geht über Vermittlungen und Brückenbau. Ich habe zwei große Brückenbauer vor Augen. Der erste ist der schon mehrfach genannte Kardinal Jaime Ortega, der sehr lange, von 1981 bis 2016, Erzbischof von Havanna war. Er hat es geschafft, in dieser Zeit vier Papstbesuche nach Kuba zur organisieren. Der mit Abstand bedeutendste war zweifellos der Besuch von 1998. Prof. Baier hat dargelegt, was dieser Besuch für die Kirchenmusik in Kuba bedeutet hat, aber das ist auch auf vielen anderen Ebenen so gewesen.

Der Papstbesuch von Johannes Paul II. machte die katholische Kirche 1998 wieder als Massenorganisation sichtbar. Der Abschlussgottesdienst sollte im sogenannten Panamerikanischen Stadion abgehalten werden. Dort hätten etwa 34.000 Gläubige Platz gehabt. Als deutlich wurde, dass dies nicht ausreicht, musste der Gottesdienst auf die monumentale Plaza de la Revolución verlegt werden, die vom 109 Meter hohen Denkmal für José Martí und von den stilisierten Gesichtszügen Che Guevaras beherrscht wird. Dort nahmen mehr als eine halbe Million Menschen am Gottesdienst teil. Diese eindrucksvolle katholische Präsenz überraschte viele, selbst die katholische Hierarchie.

Der Besuch führte zu etlichen Veränderungen: Die Regierung gestattete den Bau eines neuen Priesterseminars und anderer kirchlicher Bauten. Weihnachten, zuvor ein normaler Arbeitstag, wurde zum Feiertag erklärt. Und der Kirche wurde das Agieren im öffentlichen Raum ermöglicht. Hier haben die geschickte Verhandlungskraft und das Auftreten von Erzbischof Jaime Ortega (seit 1994 Kardinal) eine wichtige Rolle gespielt. Er erzählte mir einmal, was da für ihn wichtig war. Irgendwann durften in den Pfarreien wieder Prozessionen stattfinden, die den geschützten Raum der Kirche verließen. Man durfte wieder mit einem Kreuz durch die Straßen von Havanna und von anderen Ortschaften ziehen. Er bekam die Erlaubnis, auf dem Kathedralplatz von Havanna, also an einem sehr sichtbaren öffentlichen Ort, eine Krippe aufzustellen. Das klingt vielleicht banal, aber das waren richtige Durchbrüche. Der Kardinal betrachtete diese neue Sichtbarkeit als Gelegenheit zur Evangelisierung. So wird da nicht nur eine Krippe aufgestellt: neben der Krippe wird immer jemand stehen, ein Katechet oder sonst jemand, der die Krippe erklären kann. So konnte den vielen Kubanern, die keine Glaubensinhalte mehr kennen, endlich wieder erklärt werden, was dieser Glaube eigentlich bedeutet, und das sogar im öffentlichen Raum.

„Öffentlicher Raum“ ist ein Schlüsselbegriff. Die katholische Kirche hat keinen Zugang zu den normalen Massenmedien. Aber der Laienrat des Erzbistums konnte im Jahr 2005 eine Zeitschrift gründen, die bis heute erscheint. Sie trägt den programmatischen Titel „Espacio Laical“, „Raum der Laien“, und in dieser Zeitschrift habe ich vor einigen Jahren noch sehr mutige Artikel gesehen, in denen offen über eine Gesellschaftsform „nach dem Kommunismus“ diskutiert wurde. Das Gebäude des ehemaligen Priesterseminars, ein imposanter Komplex an herausgehobener Stelle in der historischen Altstadt, war durch den Umzug des Seminars in einen Neubau auf dem Land frei geworden. Kardinal Ortega hat dort ein Kulturzentrum eingerichtet, das Centro Félix Varela. Dort finden zum Beispiel die von Rektor Baier geschilderten Kirchenmusikkurse statt. Es besteht die Hoffnung, hier mittelfristig eine akademische Institution der katholischen Kirche entstehen lassen zu können.

Kardinal Jaime Ortega gelang es, unter Wahrung einer Grundloyalität zur kubanischen Gesellschaft die Grenzen des öffentlichen Agierens der Kirche immer weiter hinauszuschieben und somit die Gestaltungsräume der Kirche zu vergrößern. Diese nutzte er zur Evangelisierung, aber dort sind auch Freiräume für Intellektuelle und für Kultur entstanden sowie für Werke der Caritas. Da durch internationale Hilfen dann auch Mittel zur Verfügung standen, konnten die Pfarreien – gerade während des „Periodo especial“ (‚Sonderperiode in Friedenszeiten‘, d.h. Wirtschaftskrise ab 1990, nach dem Zerfall der Sowjetunion) und auch später immer wieder – mithelfen, Not zu lindern und in der Armenfürsorge tätig zu werden.

Eine weitere Folge des Papstbesuches von Johannes Paul II. ist die Gründung der Benediktiner, denn im Nachgang zu diesem Papstbesuch verhandelte der Kardinal mit Fidel Castro über die neuen Möglichkeiten der Kirche in Kuba. Da ging es um das Priesterseminar und um ein neues Priesterhaus in Havanna. Der Kardinal fügte hinzu: „Und ich möchte Benediktiner holen.“ Darauf fragte Fidel Castro: „Benediktiner“ – Sie müssen denken, (er war) Jesuiten-Schüler –, „was machen die denn?!“ Die Geschichte ist etwas witzig, aber sie ist authentisch, sie ist mir oft erzählt worden. Der Kardinal wusste, dass er jetzt bei Fidel Castro Eindruck machen musste, und so sagte er: „Die machen Käse.“ Das steht nicht ganz im Vordergrund unserer Tätigkeiten, aber es gibt tatsächlich auch Benediktinerkäse. Jedenfalls, Fidel Castro erwiderte: „Ja, dann sollen die mal kommen.“ Und dieses dahingesprochene Wort, das ist eben der Vorteil der charismatischen Herrschaft nach Max Weber, das gilt dann auch. Bis heute weiß man im Religionsbüro sehr genau, dass natürlich diese grundsätzliche Erlaubnis für unsere Gründung von Fidel Castro selber gegeben worden ist. Das zählt bis heute und ist ein Grund, warum wir uns in Kuba befinden.

Papst Benedikt XVI. kam 2012. Das war ein kleinerer Besuch und der Papst war etwas erschöpft. Das habe ich noch in Erinnerung, da war ich auch zufällig im Land. Das hat einen praktischen Effekt gehabt: Neben dem Weihnachtstag sollte jetzt noch ein zweiter Feiertag der Kirche genehmigt werden, und zwar auf Wunsch der Regierung der Karfreitag. Kardinal Jaime sagte mir: „Das ist keine gute Idee. Unsere Leute, wenn die Feiertag hören, dann geht es um Rum und Tanzen, und Karfreitag passt nicht gut zusammen mit Rum und Tanzen.“ Den Karfreitag gibt es jetzt, und die Befürchtungen von Kardinal Ortega haben sich, glaube ich, erfüllt.

Papst Franziskus war schon zweimal in Kuba. 2016 kam es zur historisch ersten Begegnung mit dem Patriarchen von Moskau, als Papst Franziskus auf dem Weg in die USA in Havanna zwischenlandete. Dass das ausgerechnet in Kuba stattfindet, sagt einiges über die herausgehobene Rolle, die Kuba als ein Drehplatz internationaler Diplomatie und als ein relativ offener Ort hat – offen und gleichzeitig kontrollierbar. Da ist eben vieles möglich. Wenn man verhindern will, dass solche Gäste von der Öffentlichkeit bedrängt werden, dann ist auch das in Kuba sehr gut möglich, und deswegen kommt es ja in Kuba erstaunlich oft zu solchen internationalen Konsultationen, Friedenskonferenzen etc., zuletzt wegen Kolumbien. Nicht selten geschieht das mit einer gewissen Mitwirkung der katholischen Kirche.

Man kann sagen, dass der Höhepunkt der Amtszeit von Kardinal Ortega die Aussöhnung mit den USA war, diese Wiederannäherung, die durch die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen besiegelt wurde. Das hatte er wesentlich mit angestoßen, unterstützt durch die vatikanische Diplomatie. Der frühere Nuntius in Havanna, der heutige Kardinal Becciu, saß zu der Zeit schon im Staatssekretariat in Rom und hat das von dort aus begleitet. Auch die Botschaft der USA spielte eine wichtige Rolle. Die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen wurde 2015 vollzogen und führte zum Besuch von Präsident Obama in Havanna im März 2016. Ich war damals gerade in Kuba; Präsident Obama fuhr dreimal an unserem Kloster vorbei, im „Beast“, dieser großen gepanzerten Limousine, mit der er transportiert wird. Im Zuge dieser Annäherung wurden die Reisebeschränkungen aufgehoben; Bürger der USA konnten freier nach Kuba reisen. Und es kam zu einem Konzert der Rolling Stones, übrigens am Karfreitag.

Kardinal Jaime Ortega hatte einen ganz persönlichen Rapport mit Raúl Castro. In meiner Wahrnehmung waren das zwei alte Männer, die schon einiges auf dem Buckel hatten, jeweils auf ihre Weise ja auch etwas geleistet haben, die über manche Entwicklungen in der modernen Welt eher besorgt waren. Auf dieser Ebene verstanden sie sich, und so wurde manches möglich. Der Platz Kardinal Ortegas war daher nicht zwischen den Stühlen. Er nahm eine sehr wichtige Vermittlerposition ein in einem der entscheidenden Konflikte des 20. und 21. Jahrhunderts.

 

Die Jungfrau von Cobre

 

Die zweite Brückenbauerin, die ich erwähnen möchte, ist die Muttergottes von Cobre, die Barmherzige Mutter Gottes, die „Virgen de la Caridad“. Sie ist als Patronin Kubas seit ziemlich genau hundert Jahren anerkannt und spielt tatsächlich für Kuba eine sehr starke integrierende Rolle, so wie ich das eigentlich in keinem anderen Land kenne. Die Rassenfrage wurde ja vorher erwähnt, die Frage der schwarzen kubanischen Bevölkerung. Die Muttergottes von Cobre gilt als die Mutter aller Kubaner, weil sie ja von einem Schwarzen zusammen mit zwei Indios aus dem Meer gefischt wurde. Sie wird immer dargestellt auf einer umgekehrten Mondsichel mit Sockel, und auf diesem sieht man ein kleines Boot mit zwei braunen und einem schwarzen Mann; das ist die klassische Ikonographie der Muttergottes von Cobre, und schon dadurch kommt ihr eine national-integrierende Wirkung zu. Das wird dadurch verstärkt oder ergänzt, dass sie eine der Schlüsselfiguren im afrokubanischen Kult der Santería ist. Die Santería ist eine Religionstraditionen aus dem westlichen Afrika, die sich unter der Sklavenbevölkerung Kubas weiterentwickelt haben und die bis heute unter der Übernahme äußerer Formen des Katholizismus praktiziert werden.

Die Gottheiten der Santería – es gibt eine andere Form, die ohne Gottheiten auskommt –, also die Gottheiten der Santería werden unter der Gestalt von katholischen Heiligenfiguren verehrt: der heilige Lazarus, die heilige Barbara und eben auch die Muttergottes von Cobre werden von den Angehörigen dieser Kulte als Abbilder verschiedener afrikanischen Gottheiten angebetet. In den Wallfahrtskirchen dieser Heiligen kommt es zu einer interessanten Mischung: Katholiken, die da knien und den Rosenkranz beten, zur Messe gehen wollen oder zur Beichte, finden sich neben Anhängern etwa des „Ochún“ in Cobre – das ist die Gottheit, die hinter der Virgen de Cobre verehrt wird.

Das ist seelsorglich eine spannende Herausforderung; vor jedem Gottesdienst gibt es in der Wallfahrtskirche von Cobre ausdrückliche Mahnungen, wer zur Kommunion gehen darf und wer nicht. Man weiß, dass viele aus anderen Gründen da sind. Die Farbe der Muttergottes von Cobre ist gelb, und wer sich auf die Wallfahrt zur Muttergottes von Cobre macht, zieht sich gelb an, vor allem die Anhänger Ochúns, aber auch die Katholiken. Vor der Kirche werden gelbe Blumen verkauft, die man in der Kirche darbringen kann. Auch dieser Ritus ist sozusagen ökumenisch. Theologisch ist das nicht einfach, aber diese Doppelbödigkeit des Heiligtums und der Jungfrau von Cobre bekräftigt die große integrative Rolle der „Virgen de la Caridad“ für alle Kubaner, auch bei den Bevölkerungsschichten, die von intellektuelleren Themen erreicht werden. Cobre ist tief in der Volksreligiosität verankert, auch jenseits des katholischen Glaubens.

Übrigens wurde vor einigen Monaten der erste schwarze Bischof in Kuba geweiht, Silvano Pedroso Montalvo, der neue Bischof von Guantánamo-Baracoa. Er wurde interessanterweise in der Kathedrale von Havanna geweiht, nicht in seiner eigenen Kathedrale. Das ist vielleicht auch nochmal ein Zeichen dafür, dass man auch in Kuba weiß, dass dies ein Thema von nationaler Bedeutung ist: endlich gibt es auch auf der Ebene der Bischofskonferenz einen schwarzen Kubaner.

Im Jahr 2012, in dem Papst Benedikt XVI. Kuba bereiste, unternahm auch die Jungfrau von Cobre eine große Kuba-Tour. Sie wurde vom Altar heruntergeholt, auf einer Art Papamobil installiert und bereiste dann über Wochen hinweg das ganze Land. Der Erfolg war durchschlagend, und sehr viele Menschen strömten überall zusammen. Es gab Gottesdienste, denn diese Kubafahrt der Jungfrau war eine katholische Veranstaltung und kirchlich organisiert. Aber das wurde auch vom Staat unterstützt. Die anderen Verehrer, die Anhänger Ochúns, haben sich wohl auch gefreut, dass die Virgen von Cobre überall vorbeikam. Ich erfuhr damals, dass das eine gewisse Beeinträchtigung des Besuchs von Benedikt XVI. bedeutete. Der fand kurz nach der Rundfahrt der Muttergottes statt, und angesichts der wiederholten Massen-Events konnte man eine leichte Müdigkeit spüren. Das trug dazu bei, dass der Besuch von Papst Benedikt dann eher klein gehalten wurde und weitgehend ohne große Massenzeremonien auskam.

 

Andere Brücken

 

Wo kann die katholische Kirche noch Brücke sein, oder wo ist sie Brücke? Ich glaube, sie ist eine Brücke zur Emigration. Das ist ein großes Thema. Wir haben mehrfach von den Exilkubanern gesprochen, wobei bislang vor allem von der ersten Generation von Exilanten die Rede war, und dann noch von der Massen-Ausreise per Boot vom Hafen vom Mariel. Aber es hat natürlich später auch noch viel Emigration gegeben. Vor einigen Jahren wurden die Ausreisebeschränkungen deutlich gelockert. Die meisten Kubaner finden jetzt eine Möglichkeit, Kuba zu verlassen, wenn sie unbedingt wollen. Das hat auch Druck aus dem System herausgenommen, und das ist auch ein Grund, warum die Lage letztlich stabil blieb. Es wird nicht zu solchen Szenen kommen wie damals an der Grenze zu Ungarn, die dann ja den Kollaps des Ostblocks mit herbeigeführt haben. Die Ventile wurden etwas geöffnet – deshalb kann Druck aus dem System entweichen.

Die Exilkubaner sind eine sehr heterogene Gruppe. Sie kommen mit verschiedenen Erfahrungen und unterschiedlichen familiären Hintergründen: Einige sind aus politischer Opposition weggegangen, andere in der neueren Zeit vor allem aus Frustration über die ökonomischen Verhältnisse. Die Exilkubaner haben sich an vielen Orten niedergelassen, vor allem aber in Florida. Dort spielt die Emigration politisch eine große Rolle und ist auch kirchlich eine sehr wichtige Kraft. Unter den Exilanten gibt es natürlich sehr viele Katholiken und auch viele Priester. Kardinal Ortega und auch die anderen Bischöfe Kubas haben auf diesem Weg immer wieder Priester verloren. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Kardinal Ortega über einen Mann, den wir beide gut kannten, den ich auch sehr geschätzt hatte, der aber ausgereist war. Ich sagte ihm, der Verlust tue mir leid. Der Kardinal entgegnete, dieser habe wenigstens Anstand gehabt und sei vorher gekommen, um ihm zu sagen: „Ich kann nicht mehr, ich muss an meine Kinder denken“ – das war kein Priester –, „ich gehe jetzt mit meiner Frau und meinen Kindern nach Miami.“ Andere, so der Kardinal, hätten ihn erst vom Flughafen in Miami nach der Ankunft angerufen, und das sei dann schon sehr bitter geworden.

Die Exilkubaner arbeiten sich an den kubanischen Themen weiterhin ab, vor allem die stärker politisch motivierten. Da gibt es auch Ressentiments gegen die katholische Kirche auf der Insel, die sich ja mit den Verhältnissen irgendwie arrangieren muss. Die Polarisierungen sind aber nicht so extrem wie im politischen Bereich. Innerhalb der katholischen Kirche ist es meistens doch noch möglich, eine Verständigungsebene zu finden, und die beiden Erzbischöfe von Miami und Havanna haben guten Kontakt miteinander. Die katholische Kirche bildet so eine wichtige Brücke hin zu den Exilkubanern.

Gelegentlich wird über deren Rolle für die Zukunft Kubas spekuliert. Ein Kubaner sagte mir: „Was auch immer hier passiert, wir haben das alles jetzt 60 Jahre ertragen, wir wollen nicht, dass irgendwann Leute aus Florida kommen und uns erzählen, wie es richtig geht.“ Auch das ist eine Facette des Selbstbewusstseins der Kubaner und führt noch einmal zu einer stärkeren Identifikation mit den bestehenden Verhältnissen.

Kardinal Ortega erzählte mir einmal, wie er mit Exilkubanern, die die bestehenden Verhältnisse auf Kuba völlig ablehnen, in einer lateinamerikanischen Hauptstadt unterwegs war. Als sie an den Favelas, den Slum-Gebieten der Metropole, vorbeikamen, da sagten diese Exilkubaner plötzlich mit einem Anflug von Patriotismus: „Aber so etwas gibt es bei uns daheim nicht.“ In der Tat, die wirtschaftliche Egalität auf allerdings sehr niedriger Ebene führt auch dazu, dass es diese Verelendung in Kuba nicht gibt, die man in vielen Metropolen Südamerikas vorfinden kann.

 

Neueste Entwicklungen

 

Präsident Trump hat die diplomatischen Beziehungen mit den USA wieder reduziert, wobei – wenn ich es richtig verfolgt habe – da noch nichts formal wirklich Wichtiges passiert ist. Auf der informellen Ebene hat es allerdings eine große Störung gegeben. Vor etwa zwei Jahren gab es in Havanna unerklärte Krankheitsfälle beim diplomatischen Personal, insbesondere der US-amerikanischen Botschaft, es betraf aber auch ein paar Kanadier. Bis heute ist nicht geklärt, was da vorgefallen ist. Berichtet wurde über seltsame Geräusche und andere Vorfälle im Wohnumfeld der Diplomaten. Man vermutete Schallwellen im nicht hörbaren Bereich, die neurologische Schäden verursachen; das scheint sich aber nicht bestätigt zu haben. Die kubanische Regierung erklärte, ihr sei nichts bekannt und sie habe damit nichts zu tun. Ich halte das für plausibel, auch wenn man sagen muss, dass die Regierung sonst schon immer sehr gut informiert ist. Es gibt die Theorie, hier könnten amoklaufende Geheimdienstmitarbeiter am Werk sein, also kubanische Geheimdienstler, die außerhalb jeder Autoritätsstruktur auf eigene Faust Techniken ausprobieren. Es war auch von Nordkorea die Rede, was mir plausibler erscheint. Kurioserweise sind vor kurzem die gleichen Störungen bei Konsulatsangehörigen in Guangzhou in Südchina aufgetreten. Auch dort wurde das Personal wie in Kuba evakuiert und nach Amerika zurückgebracht, mit den gleichen Symptomen. Die Störungen haben bei einigen Angehörigen des diplomatischen Dienstes zu permanentem Gehörverlust geführt, also durchaus gravierend. Infolgedessen wurde das Personal der Botschaft in Havanna drastisch reduziert, und das hat natürlich die diplomatischen Beziehungen auf der praktischen Ebene sehr erschwert. Visum-Anträge werden einfach nicht mehr bearbeitet, weil niemand mehr da ist, der die Arbeit machen kann, oder jedenfalls in weit geringerem Umfang. Das hat also die Beziehungen nochmal verschlechtert bzw. in der Breite reduziert.

Als wir Missionsbenediktiner 2008 nach Kuba gegangen sind, waren noch viele Öffnungstendenzen, die wir vorher so schön beschrieben bekommen haben, spürbar: Lockerung im wirtschaftlichen Bereich, Erleichterung für Privatunternehmen, Freigabe von neuen Wirtschaftssektoren. In den letzten Jahren ließ sich eine deutliche Rückkehr zur sozialistischen Orthodoxie wahrnehmen; einige liberalisierte Bereiche wurden wieder stärker in die Staatswirtschaft integriert. Der Staat versteht sich nach wie vor und mit neuer Kraft als Hauptakteur der Wirtschaft. Staat heißt in diesem Fall tatsächlich Militär; das haben wir vorher schon gehört. Es war kürzlich davon die Rede, dass innerhalb der nächsten Jahre hunderttausend neue Touristenbetten errichtet werden sollen. Damit wird die jetzige Kapazität mehr als verdoppelt, und zwar alles im Staatssektor.

Das ist offenbar ein Versuch, die privatwirtschaftlich etablierten touristischen Unternehmen, diese kleinen Restaurants, diese kleinen Privatunterkünfte, auch ökonomisch wieder an den Rand zu drängen. Man bemerkt das auch an den Ressourcen im Land. Wir müssen ein Kloster bauen, aber das wird dadurch erschwert, dass Baumaterialien noch schwerer zu bekommen sind als zuvor, weil derzeit das Militär sehr stark in den Tourismus-Sektor investiert. Die Baumaterialien werden durch den Staat zugeteilt, und wenn es staatseigenen Bedarf gibt, dann hat der immer Vorrang vor dem Bedarf von Dritten, wie zum Beispiel einer kleinen Gruppe von Benediktinern, die eine Käserei eröffnen möchten.

Ja. Was hat sich geändert? Der Kardinal ist seit zwei Jahren im Ruhestand. Es gibt einen neuen Erzbischof, Juan de la Caridad García Rodríguez. Das ist ein Erzbischof, der sehr stark dem Bild des Bischofs entspricht, das Papst Franziskus skizziert hat. Der Papst hat ja gesagt, der Hirte soll nach den Schafen riechen, nach der Herde. Der neue Erzbischof ist tatsächlich ein Vollblutseelsorger. Das merkt man ihm an; das bezeichnet auch seinen ganzen Hintergrund und seine Erfahrung. Der Vorgänger-Erzbischof, der Kardinal, hat auch sehr stark auf anderen Ebenen gearbeitet. Er war in gewisser Weise auch ein Kirchenfürst, auch schon im Auftreten. Er verkehrte mit den Mächtigen der Welt auf Augenhöhe. Der Habitus des Auftretens des Nachfolgers entspricht viel mehr dem von Papst Franziskus. Man kann Veränderungen beobachten. Die Kirche konzentriert sich sehr stark auf ihre eigenen pastoralen Herausforderungen. Die sind in der Tat gewaltig und ich glaube, dass das gut ist.

 

Ausblick

 

Umbruch, wie es so schön auf der Einladung zum heutigen Seminar heißt, oder Wandel? Natürlich gibt es Wandel. Die alten Herren sind weg – Fidel, Raúl, der Kardinal. Eigentlich möchte ich noch Eusebio Leal Spengler dazuzählen, den Stadthistoriker, wie sein offizieller Titel lautet. Das ist der oberste Denkmalpfleger von Havanna – man kann das aber überhaupt nicht vergleichen mit jemandem, der diese Aufgaben in Deutschland hat. Er war im Grunde der Administrator der Altstadt von Havanna, die er sehr klug renoviert und auch wirtschaftlich wiederbelebt hat. Er schuf ein kleines Imperium, einschließlich des Imports all der Dinge, die gebraucht wurden. Er ist ein kulturell katholisch geprägter Intellektueller, der weltweites Ansehen genießt. In den letzten Jahren hat er allerdings seinen Einfluss zum Teil verloren. Einige Funktionen hat er noch, aber längst nicht mehr so viele wie noch vor drei Jahren. Diese vier großen alten Herren sind nicht mehr da.

Was wird sich jetzt ändern? In der Diözese, das habe ich schon gesagt, stehen die pastoralen Fragen im Vordergrund. Was der neue Präsident machen wird, kann ich gar nicht einordnen. Darüber wissen die Politwissenschaftler unter uns besser Bescheid. Er repräsentiere Kontinuität, hat er gesagt; das musste er sicher auch sagen, denn sonst kommt man nicht an diese Stelle, die er jetzt innehat. Wird es trotzdem Veränderungen geben? Nun, alles fließt, selbst wenn Stabilität die Parole ist. Wenn es zur Lähmung kommt, erzeugt das ja wieder andere Veränderungen. Man kann Veränderung gestalten und man kann sie erleiden. Ob in Kuba in den nächsten Jahren Veränderung gestaltet wird oder nur erlitten, das weiß ich noch nicht.

Wir Benediktiner sind geduldig. Wir sind der älteste Orden in der katholischen Kirche und seit 1.500 Jahren dabei. Ich habe meinen Mitbrüdern in Kuba gesagt, dass das Leben auf Kuba nicht leicht ist. Aber unser Leben ist immer noch etwas erträglicher als das der normalen Kubaner. Wir können dort leben und wir wollen da bleiben und dableiben. Das ist unsere benediktinische Form der Solidarität.

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