Warum ein eigenes Sakrament?

Einige Aspekte zur gnadentheologisch fundierten Pastoraltheologie des priesterlichen Amtes

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Luthers Bekehrung

 

Mit einer vielleicht überraschenden Replik auf Martin Luther bzw. auf seine Erfahrung der Rechtfertigungstheologie möchte ich meine Ausführungen eröffnen, denn diese Erfahrung hat viel mit dem priesterlichen Amt im katholischen Bereich zu tun.

Für den jungen Luther ist es die belastende Seite der Frömmigkeit, die er nicht nur erlebt, sondern die er selber in sich bestätigt und verschärft: „Luthers theologische Entwicklung hin zu einem neuen Verständnis der Gerechtigkeit Gottes und der Rechtfertigung des Menschen hatte sich an der quälenden Erfahrung des Sünder-Seins entzündet, umso mehr je stärker er sich als Augustiner-Eremit um ein regelstrenges und spirituell verdichtetes Mönchsleben bemüht hatte.“ Diese „Radikalität seiner Anfechtungsängste“ bestimmte die „existenzielle Wucht der religiösen Erfahrung […] in ihrer die ganze Richtung des theologischen Nachdenkens neuordnenden und strukturierenden Dynamik“ (Andreas Holzem).

Luther kann seiner Sündigkeit und seiner Unzulänglichkeit nicht entfliehen. Je weniger dies gelingt, desto mehr schiebt sich die Schraube tiefer mit der quälenden Frage, ob denn die religiösen Übungen genug waren. Und er kommt nicht davon los, dass man von Gott nichts geschenkt bekommt, sondern dass man sich seine Zuneigung zu verdienen hat. Aber je mehr er auf diese Weise mit Gott umgeht, je mehr er sich abfordert, desto deutlicher wird ihm auch, dass dies alles nicht gelingen kann.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Dilemma? Dreht sich diese Spirale nämlich immer weiter nach unten, dann bleibt am Schluss nur noch der zwanghaft-paranoide Wahnsinn; oder aber muss man sich der Magie ergeben, indem man daraus ein Spiel macht, diese Wenn-Dann-Beziehung zu Gott so in die Hand zu nehmen, dass man damit Gott selber austrickst: Wenn ich das und das tue, dann kann Gott gar nicht anders, als so und so mit mir zu verfahren. Mit jedem Wenn-Dann, das ein Gott dem Menschen auferlegt, gewinnt letzterer seinerseits gerade mit der Erfüllung dieses Wenn-Dann einen Zugriff auf Gott selbst. Ein solches Verhalten Gott gegenüber nennt Paulus Hybris und Selbstruhm des Menschen (vgl. Gal 6,3 und 14) – zwar mit dem Gefühl des Menschen, Gott gegenüber eine Leistung zu erbringen, aber im Sinne eines Verrechnungszusammenhanges und nicht einer lebendigen Beziehung der Freundschaft und des Vertrauens.

Luther kann noch rechtzeitig aus dieser letztlich alles zerstörenden Dynamik aussteigen. Es kommt zur Wende. Beim Studium der Paulusbriefe fällt es wie Schuppen von seinen Augen: Man kann sich die Liebe Gottes nicht verdienen, und man braucht dies auch gar nicht, weil sie längst durch Jesus Christus „verdient“ ist. Hier bringt Luther den Kern der christlichen Botschaft zum Vorschein. Er entdeckt auf schmerzlichem Weg und darum umso erlösender etwas, was leicht vergessen werden kann und was alle angeht. Luther erfährt die beglückende Einsicht: Nichts, gar nichts muss ich tun, damit mich Gott liebt. Er liebt mich unbedingt, ohne Bedingungen, und zwar als Sünder, noch bevor ich mich verändert habe. Nicht ein Wenn-Dann, sondern ein Ohne-Wenn-und-Aber bestimmt diese Beziehung. Was für eine Befreiung: Gott ist nicht eine Belastung, sondern eine Entlastung im Leben, er fordert nicht erst, sondern er schenkt. Seine Gnade ist voraussetzungslos. Und darin liebt er das Gegenteil seiner selbst, nämlich die sündigen Menschen. Diese Anerkennung und Liebe umfasst die Menschen nicht ausschließlich, sondern einschließlich ihrer dunklen Schattenseiten. Denn was nicht angenommen ist, ist auch nicht erlöst. Luther erkennt: Es ist ein Wahn, sich Gottes Liebe erwirtschaften zu wollen. Gott liebt bedingungslos, jeden Augenblick neu. So findet Luther den gnädigen Gott.

Vor einiger Zeit ist nach einem Gottesdienst eine ältere Dame auf mich zugekommen und hat gesagt: „Wissen Sie, ich habe Predigten fast immer nur erlebt als Muss, als Forderung, früher sogar als Beschimpfung: Wir müssen das und das tun. Nur dann liebt uns Gott.“ Es ist fürchterlich. Gott wird besetzt mit einem Arsenal von Bedingungen, damit er uns liebt. Diese Moralisierung unseres Glaubens steckt vielen Gläubigen zutiefst im Bauch, sodass wir Gott viel zu wenig oder manchmal überhaupt nicht mehr zutrauen können, dass er uns bedingungslos liebt, weil wir die Bedingungen von vornherein hineinschalten. Wir trauen es ihm nicht zu.

Auch beim priesterlichen Amt geht es um die Frage nach der Gnade. Die geistliche Leitung ist kein weltlich Ding allein. Es ist deswegen ein Sakrament, weil es mit dem zu tun hat, was Luther so wichtig ist und was jedes Sakrament symbolisiert und realisiert, nämlich ein Zeichen der unbedingten Vorgegebenheit der Liebe Gottes zu sein. Dafür steht auch das priesterliche Amt. Aber was heißt das dann? Ein erster Suchversuch führt ins Zweite Vatikanum.

 

Konzilstexte: Fehlanzeige?

 

„Das aber genau ist die Schwäche des Priesterdekrets. Es wird theologisch nicht gesagt, wie das Priestertum der Priester zu verstehen ist […]“. Diese Kritik von Ludwig Mödl trifft ins Schwarze. Dass überhaupt ein eigener Text über das priesterliche Amt entstanden ist, wird damit begründet, dass diesem Stand jedoch bei der Erneuerung der Kirche Christi höchst bedeutsame schwierigere Aufgaben zukommen. Damit konzentriert sich das Konzil auf die Frage, wie denn der priesterliche Dienst konkret ausschaut. Die Frage ist allerdings: Wird vielleicht zu schnell die Würde des Presbyteramtes handlungsbezogen erörtert, also nicht erst einmal in seiner Eigenwertigkeit, die zwar Basis des Handelns ist, aber von diesem Handeln nicht ersetzt werden kann? Wird das Sakrament so ethisiert, dass es nur noch als Hülle dient, in die hinein die schwierigen Aufgaben formuliert werden? Und was „bringt“ das Amtscharisma gegenüber dem persönlichen Charisma?

Wenn Friedrich Wulf in seinem Kommentar zu Presbyterorum ordinis schreibt: „Nicht Weihe und Heiligkeit des Priesters, sondern sein Dienst und seine Aufgabe in der Kirche stehen im Vordergrund der Betrachtung“, und wenn er dies positiv vermeldet, beruhigt dies nicht; denn die Frage bleibt, ob, wo und wie dann Weihe und Heiligkeit bzw. Sakramentalität in ihrem Selbstwert erörtert werden. Es handelt sich hier offensichtlich doch nur um „Dekrete“ mit besonderen Handlungsverweisen und weniger um „dogmatische Konstitutionen“ wie etwa die Kirchenkonstitution und die Pastoralkonstitution, in denen von einer gründlichen Besinnung auf das theologische Wesen der Kirche her ihr Innen- und Außenbezug besprochen wird. Selbstverständlich wird die Sakramentalität des priesterlichen Amtes auch in den Priester-Dekreten vorausgesetzt, aber zu wenig eigens als die gnadenhafte Bedingung der Möglichkeit verdeutlicht, das geforderte Handeln auch tun zu können.

Das Wesen des Amtes zeigt sich in einem ganz bestimmten Leben und Dienst der Priester. Doch gründet dieses „Sich-Zeigen“ im vorgängigen Wesen dieses Amtes, dass die Gnade für seine Ausführung sakramental geschenkt ist. Sakramentalität steht für die Selbstwertigkeit der Gnade Gottes. Ein Blick auf die Fußwaschungsgeschichte vor dem Abschiedsmahl in Joh 13,12-17 zeigt diesen Zusammenhang sehr deutlich. Zunächst gilt diese Geschichte selbstverständlich für das gesamte Volk Gottes, für alle Christen und Christinnen in ihrem Umgang miteinander und von daher mit allen Menschen. Derart wird diese Geschichte auch als Gründungsgeschichte christlicher Diakonie angesehen, in die alle Gläubigen im gemeinsamen Priestertum gerufen sind (vgl. Lumen gentium). Aber diese Geschichte meint eben auch jene, die als „Meister“ eine besondere Verantwortung in diesem Volk Gottes haben. Aber woher kommt die Kraft? In der Geschichte wird dies in der anderen Szene erzählt. Denn hier erlebt Petrus: In dem Maß, in dem er sich von Jesus die Füße waschen lässt, hat er Anteil an Christus. Jedem priesterlichen Dienst geht das gnadenhafte Tun Christi voraus, und dies gilt umso mehr für das amtliche Priestertum.

Diese Begegnung zwischen Petrus und Jesus erfüllt alle Bedingungen, die von einer klassischen katholischen Sakramententheologie an die Grundlegung eines Sakramentes zu stellen sind: Äußeres Zeichen, innere Gnade und Einsetzung durch Jesus Christus. Könnte man von daher nicht die gesamte Fußwaschungsgeschichte auch als Gründungsgeschichte jenes Sakramentes ansehen, in dem bestimmten Menschen in einer besonderen Weise die Gnade geschenkt wird, sich zu Gunsten der Menschen, ihres Glaubens und ihres Heiles zu verausgaben?

Die theologische Notwendigkeit, zwischen dem gemeinsamen und besonderen Priestertum nicht einen graduellen, sondern einen wesentlichen Unterschied zu sehen, der sich gegen jede Hierarchisierung zwischen Dienst und Volk Gottes sperrt (denn der konziliare Hierarchiebegriff bezieht sich nur auf die innere Struktur des Amtes selbst zwischen Bischof, Priestertum und Diakonat), gründet in der unbedingten Zusage Gottes für die Bedingungen dieses Dienstes. Die Formulierung aus Lumen Gentium, dass sich das gemeinsame Priestertum der Gläubigen und das amtliche Priestertum „in ihrem Wesen und nicht nur dem Grade nach“ unterscheiden, ist ein Widerspruch in sich und dahingehend zu korrigieren, dass das „nur“ zu streichen ist. Denn wenn das Wesen des sakramentalen Amtes gnadentheologisch verstanden wird, kann es keine Gradunterschiede geben. Der Unterschied zwischen gemeinsamem und besonderem Priestertum darf „nicht graduell in dem Sinn verstanden werden …, als seien die Priester die vollkommeneren Christen“ bzw. als stünden sie in einer höheren Ordnung über dem gemeinsamen Priestertum, sondern beide „werden als in spezifischer Weise zu unterscheidender Anteilhabe am Priestertum Jesu Christi bestimmt“ (Peter Walter). Oder mit Julius Kardinal Döpfner gesprochen: „Erhöhen wir ja nicht unsere priesterliche Berufung auf Kosten der allgemeinen christlichen Berufung.“

Das priesterliche Amt repräsentiert die Vorgegebenheit des Leibes Christi und konstituiert damit nicht ein höheres oder besseres Priestertum als das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen, sondern ein wesentlich anderes, insofern es die Vorgegebenheit Christi in den Gnadengaben und ihrer Vernetzung repräsentiert, so dass sich die Gläubigen in der Gemeinschaft der Kirche in Christus miteinander verbunden erfahren und diese Einheit aus der Hand Gottes als Gabe empfangen können. Aus dieser Perspektive kann es sich überhaupt nicht um einen Gradunterschied handeln, als gäbe es zwischen den Getauften und Ordinierten einen Würdeunterschied vor Gott und den Menschen. Die Differenz liegt im Wesen, nämlich in der sakramental geschenkten und amtlich vollzogenen Proexistenz für das Volk Gottes in Kirche und Welt.

Was das Priesterdekret also nicht ausführlich genug bedenkt, ist die gnadenhaft-sakramentale Begründung des priesterlichen Dienstes. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass diese Texte weitgehend als Überforderungen der Priester wahrgenommen wurden, und zwar bei gleichzeitiger Unsicherheit ihrer Kernidentität in dem, was sie nicht selber herstellen müssen, nämlich in der sakramentalen Herkunft ihres Dienstes. Additiv aufgenommene Handlungsanweisungen machen nicht klar genug, wie die Tätigkeiten mit der in diesem Sakrament geschenkten Gnade zusammenhängen, sowohl ermöglichend wie auch inhaltlich bestimmend.

Die Suche nach dem sakramentalen Kern der priesterlichen Tätigkeiten ist also nicht immer nur eine Frage rückwärtsorientierter Priestersehnsüchte, sondern darin kann sich die Weigerung manifestieren, „gnadenlos“ in den Dienst genommen zu werden.

 

Gnade: tragend und orientierend

 

Der presbyterale Dienst ist ein Amt, das durch die Gnade Gottes als Ermöglichungsbedingung dessen getragen ist, was in den Diensten und Funktionen, wie sie vom Wesen der Kirche her erforderlich sind, nottut. Von dieser Gnade im eigenen Dienst getragen, sind weder Identitätsängste noch machtstrategische Abgrenzungen nötig. Denn die eigene priesterliche Identität muss nicht hergestellt werden, sondern ist zum Dienst am Volk Gottes geschenkt.

Es handelt sich dabei nicht zuerst um das persönliche Charisma, sondern um ein eigenes, im Sakrament geschenktes „Charisma“ (die Sakramententheologie spricht von einem „unauslöschlichen Merkmal“), das den persönlichen Charismen im Sinne dieser Gnade und dieses Dienstes die entsprechende Richtung und zusätzliche Dynamik gibt. Das Ritual der Handauflegung verkörpert diesen für diesen Dienst geschenkten Indikativ der Gnade: „Vernachlässige die Gnade nicht, die in dir ist und die dir verliehen wurde, als dir die Ältesten aufgrund prophetischer Worte gemeinsam die Hände auflegten“ (1 Tim 4, 14). Das Weiheamt ist ein Geschenk der Gnade, das nicht mit dem personlichen Charisma identisch ist, wenn es dieses auch voraussetzt, sondern ein im Sakrament zusätzlich gegebenes Gnadengeschenk für diese Verantwortung.

Mit der Abwehr einer substantialistischen Sicht der Sakramente darf nicht die gnadentheologische Dimension der Sakramente als Wirklichkeiten, die im Sein der Gnade Gottes verwurzelt sind und von daher Leben und Handeln in diesem Sein ermöglichen, verabschiedet werden. Denn die im Sakrament jeweils spezifisch geschenkte Treue Gottes ist kein idealistisches Hirngespinst, sondern eine Substanz – allerdings eine Substanz, die in dieser Relation zwischen Gott und Mensch gegeben und aufgegeben ist. Sie bedeutet, dass Gott in unbedingter Weise immer erst einmal die Gnade schenkt und hat das Ziel, dass diese Gnade dann auch die Kraft gibt, Leben, Handeln und, wie beim priesterlichen Dienst, die jeweiligen Aufgaben aus dieser Gegebenheit heraus zu gestalten. Diese Gestaltung ist, spätestens seit dem Zweiten Vatikanum, nicht mehr ein Akzidenz des Sakraments, sondern sein integraler Bestandteil, womit gerade gesichert ist, dass das Handeln der Menschen in dem Sinne „substantiell“ wird, als es sich von seiner innersten Substanz, nämlich von der gnadenhaften Beziehung Gottes her, selbst „transsubstantiieren“ lässt (Elmar Klinger).

Dieses sakramentale Geschenk des Dienstes am und im Volk Gottes ist als Basis der eigenen Tätigkeit voraussetz- und spirituell erfahrbar. Man muss dann das Standbein der eigenen Identität nicht mehr in dem suchen, was eigentlich das Spielbein ist, nämlich in einer bestimmten Lebensform. Vielmehr kann von diesem Gnadengeschenk her die Freiheit entwickelt werden, in unterschiedlichen Lebensformen die Radikalität dieses Dienstes zu leben.

Es ist die Bedingungslosigkeit der Gnade, die von denen, denen sie geschenkt ist, nicht in Bedingungen umgemünzt werden darf. Dies hat Auswirkungen für die Tätigkeiten dieses Amtes. Denn diese Vorgegebenheit der Gnade ist nicht herrschaftsförmig, sondern zerbricht jede Herrschaft. Sie ist eine Macht, aber eine, die gezeichnet ist vom Ursprung, nämlich von der liebenden Bedingungslosigkeit im Umgang mit den Menschen. In diesem Geist ist das Amt zu gestalten: in dieser Unbedingtheit in der Gegebenheit und zugleich in der Unbedingtheit, dass nicht zu eigenen Bedingungen damit umgegangen werden darf.

Diese Verwurzelung in der Gnade Gottes ist ein Bereich, der nicht durch Funktionen und durch eigene Leistung ersetzt werden kann, weder durch rituelle und zölibatäre Gesetzlichkeit noch durch die faktischen Dienstfunktionen, und schon gar nicht durch ein aktivistisch-hektisches Dienstverständnis. Denn es braucht Zeit, mit dieser geschenkten Gnade existentiell in Berührung zu kommen und von ihr her auch tatsächlich leben zu können. Eine Spiritualität, die sich in der Gnade verwurzelt weiß, eröffnet eine Dynamik, die alle Aktivitäten, alle Liturgien und alle priesterlichen Lebensformen trägt und in ihrer Qualität bestimmt. Wird das priesterliche Amt von dieser Ermöglichungsdimension seiner selbst abgetrennt, wird die kirchliche Leitung vom Sakrament abgelöst, erfährt die menschliche Gebrauchsmacht über Gott und über die Menschen keine substantielle Kritik mehr von Seiten jenes Gottes, der alles gibt und gerade darin keinem Verwendungszweck zu unterwerfen ist. Von dieser Basis her, die ebenso fest ist im Glauben wie sie niemals machbar ist, weil sie sonst dem Verfall der menschlichen Machbarkeit unterliegt, strahlt eine Freiheit aus, die diese geschenkte priesterliche Identität nicht anderswo oder noch anderswo festmachen muss. Denn dann geht es nicht mehr darum, ob Mann oder Frau, ob verheiratet oder unverheiratet, diese priesterliche Identität geschenkt bekommen und wagen, sondern ob sie im Zeugnis ausdrücklich mit dem verbunden sind, was das Sakrament ausdrückt, nämlich Zeichen der in Christus erschienenen Gnade Gottes in der Leitung der Kirche zu sein.

Wenn man sich vorstellt, welche Selbstveränderung einer vierhundert Jahre relativ unveränderten Liturgie in der Liturgiekonstitution zugemutet wird, vor allem bezogen auf die Heilige Messe, dann bleibt eine solche tiefgreifende Reflexion auf nötige Veränderungen in der Lebensform des presbyteralen Amtes aus. Zwar wird gesagt, dass die Ehelosigkeit nicht mit der Natur des presbyteralen Dienstes (also mit seiner theologischen Identität) notwendig verbunden ist (Priesterdekret 16,1), doch vermisst man eine an den gegenwärtigen Zeichen der Zeit und ihren Herausforderungen orientierte Konzeption priesterlicher Lebensformen. Die mangelnde Profilierbarkeit im theologischen Bereich (vor allem hinsichtlich der Gnadentheologie innerhalb dieses spezifischen Zusammenhangs), führt dazu, dass kaum daran gedacht wird, die Angemessenheit anderer Lebensformen für das priesterliche Amt in Betracht zu ziehen. Was für alle Zusammenhänge zwischen Gnade und Leben gilt, gilt auch hier: Je unklarer die gnadentheologische Herkunft, desto unfähiger, unfreier und unpräziser wird der Bezug auf die Zeichen der Zeit.

 

Auf der Seite der Gnade

 

Alle Gläubigen haben an den drei Ämtern Christi Anteil, und sind, wie in der Taufe erlebbar, KönigInnen, PriesterInnen und ProphetInnen. Die Sendung in diese Ämter Christi hinein beinhaltet immer schon das diese Sendung ermöglichende Geschenk, sie durchzuführen – in der Gesellschaft wie auch im kirchlichen Dienst. Diese Sendung substantiiert sich allgemein im Sakrament der Firmung und speziell im Sakrament des presbyteralen Amtes. Indem derart jede Verantwortung in der Kirche aus einem Sakrament heraus wächst, weiß es sich zugleich mit jener Gnade in Verbindung und davon getragen, die Inhalt aller Sakramente ist.

Im katholischen Bereich ist nicht jedes Amt, wohl aber das geistliche Leitungsamt mit einer sakramental verstandenen Ordination verbunden. Dabei geht es um das heikle Verhältnis von Gottes Gnade und menschlicher Leitung, von Evangelium und Macht. Indem die Gläubigen in der Taufe auf Christi Tod und Auferstehung getauft sind, sind sie zugleich in diesem Christus untereinander in einer bestimmten Beziehung. Alle Gläubigen sind nicht nur für sich mit Christus verbunden, sondern sind in Christus auch miteinander verbunden – noch bevor sie etwas dafür „geleistet“ haben. Genau dies benennt Paulus im 1. Korintherbrief mit dem Zuruf: „Ihr seid der Leib Christi“, wobei er darin zugleich den Zusammenhang der Charismen aufweist: In diesem Leib Christi gibt es unterschiedliche Gnadengaben, die aufeinander bezogen sind (vgl. 1 Kor 12, 27).

Was also gewissermaßen die Taufe und das darin geschenkte Priestertum aller Gläubigen für die einzelnen Menschen bedeutet, bedeutet analog dazu das priesterliche Amt für die Kirche. Geht es beim ersten Sakrament um die unbedingte Vorgegebenheit der Liebe Gottes für die einzelnen Menschen und darum, dass sie durch ihr Leben diese Gnade Gottes sichtbar machen, so geht es beim sakramentalen Amt um die unbedingte Gnade Gottes für die Beziehungen dieser Menschen in der Kirche, und zwar insofern, als es dafür bestimmte Menschen gibt, die die Verantwortung übernehmen, dass Gottes Gnade nie vergessen wird, nie in der Gesetzlichkeit erstickt und nie in widerlichen Strukturen zerstört wird. Sie sorgen dafür, dass die zuvorkommende Liebe Gottes in der Kirche, ihren Institutionen und Texten, ihren Rechtsvorschriften und in ihrer Pastoral aufleuchtet und dass dieser Gnade keine kommunikativen und strukturellen Hindernisse in der Gemeinschaft der Gläubigen entgegengesetzt werden.

Bedenkt man das priesterliche Amt in diesem Horizont, dann ergibt sich ein ganz bestimmtes pastorales Profil, nämlich dafür zu sorgen, dass die Beziehungen der Gläubigen untereinander, die Beziehungen der verschiedenen kirchlichen Gruppen sowie die kirchlichen Strukturen nicht gnadenlos sind, sondern vom Zuspruch der Liebe Gottes getragen werden. Alle diesbezügliche Vor-Gegebenheit ist immer zuerst als Gabe, und dann erst als Aufgabe zu erschließen: die Traditionen von Bibel und Kirche genauso wie die vielen unterschiedlichen Gegebenheiten in den Charismen der Gläubigen. Dass die Gabe Gottes im Leben der Menschen das Sagen bekommt und dass darin die Menschen selbst zu einem solchen Glauben ermächtigt werden, dafür steht die leitende „Macht“ des priesterlichen Amtes.

Im Folgenden möchte ich einige Bereiche andeuten, die nicht erschöpfend sein müssen, die aber grundsätzlich klären, worum es im sakramentalen Amt geht, wenn seine „geistliche Leitung“ gnadentheologisch begründet wird.

 

Gnade in der Tradition: In den ersten Jahrhunderten wurden jene, die eine besondere Verantwortung für die Gemeinden übernahmen, Presbyter genannt. Presbyter heißt „der Älteste“ und geht zurück auf jene Grunderfahrung in frühen Kulturen, dass die Ältesten die alten Geschichten zu erzählen wussten, die die Identität einer Kultur erlebnisbezogen ausdrückten und atmosphärisch verdichteten. Später wird dieser Begriff nicht mehr an das Alter, sondern an die Funktion, an den Dienst der Verkündigung gebunden, nämlich kein Jota der Geschichten Jesu und der Geschichte Christi und überhaupt aller Heiligen Schriften Israels unter den Tisch fallen zu lassen. Denn die Vorgegebenheit Gottes realisiert sich für die Gläubigen darin, dass sie die Gottesbeziehung nicht zu produzieren haben, sondern dass ihnen jene Gottesbeziehung geschenkt ist, die in der Bibel und in der Tradition der Kirche erzählt wird – durchaus im entsprechenden Plural, wie sie dort begegnen. So gilt der Satz des kleinen Propheten Maleachi: „Denn die Lippen des Priesters bewahren die Erkenntnis, und aus seinem Mund erwartet man Belehrung!“ (Mal 2,7).

Selbstverständlich sind alle Gläubigen auf Grund von Taufe und Firmung berufen, die Vorgegebenheit des Evangeliums auch in ihrem eigenen Leben und auch für die Kirche zu entdecken und wichtig zu nehmen; doch hat das Weiheamt die spezifische Verantwortung, dass die ganze Tradition durch die Geschichte hindurch weitergetragen wird, dass auch jene Geschichten in eine Zeit hinein gesagt oder zumindest aufbewahrt werden, die zunächst mit den Erfahrungen der Gläubigen nicht viel zu tun haben – also auch darüber hinaus, was alle Gläubigen (einschließlich der Priester selbst) mit ihrem Glauben und Leben in Verbindung zu bringen vermögen, die aber für andere Orte bzw. künftige Zeiten elementar sein können. Sie repräsentieren die Vorgegebenheit des Glaubens, wie sie im Glauben der Verstorbenen des vergangenen Volkes Gottes zum Vorschein gekommen ist – vor allem die Erinnerungen vom Volk Gottes des ersten Bundes und von den Ursprungserinnerungen und Geschichten der ersten christlichen Gemeinden. Zu betonen ist vor allem die Vergangenheit der Opfer und Märtyrer und Märtyrerinnen als „gefährliche Erinnerung“ an die Ohnmacht der Botschaft, wenn sie der Gewalt ausgesetzt ist.

Nicht zuerst den Gläubigen insgesamt, sondern dem priesterlichen Amt fällt die rechenschaftspflichtige Verantwortung zu, dass diese „alten“ Geschichten und Gedanken nicht in Vergessenheit geraten. Hier sind die Grenzen der Möglichkeit, die Kirche als „Demokratie“ zu beschreiben. Denn die Vorgegebenheit zum Beispiel aller vier Evangelien und aller darin erzählten Geschichten und Gleichnisse kann weder von einer machtvollen Minorität noch von einer Majorität außer Kraft gesetzt werden. Würde der gegenwärtige Erfahrungsbezug zum Maßstab der christlichen Erinnerungen gemacht werden, dann wäre dies ein Verrat an den vielen Erfahrungsgeschichten zwischen Mensch und Gott in der Tradition der Kirche bzw. in den biblischen Geschichten – die auch dann vorgegeben bleiben, selbst wenn sie uns zu einer gewissen Zeit nicht viel sagen. Niemand weiß, wann sie wieder bedeutsam werden könnten.

 

Gnade in der Verkündigung: Innerhalb dieser gesamten Vorgegebenheit von Gottesbegegnungen bzw. der Menschenbeziehungen im Horizont Gottes in Bibel und Tradition nimmt das Weiheamt, wenn es denn im Herzen sich aus der Gnade Gottes heraus verankert, insbesondere jene Geschichten ernst, die in der Verkündigung diese Gnade Gottes erlebbar machen. Das Weiheamt wird jedenfalls allen Versuchen widerstehen, die Geschichten der Bibel und der Tradition vorschnell zu moralisieren und für Postulate, Verordnungen und Gesetze zu instrumentalisieren.

Im Blick auf meine eigene priesterliche Biographie schaue ich nicht ohne Schuldgefühle auf meine ersten Jahre als Kaplan in Nürnberg, als ich (wie überhaupt viele aus unserer Generation) biblische Geschichten vor allem imperativisch ausgelegt habe: So haben wir die Geschichte von Johannes 8, die Begegnung Jesu mit der Ehebrecherin, vorschnell dahingehend interpretiert, dass auch wir Menschen so miteinander umzugehen hätten, vor allem mit Sündern und Sünderinnen. Dabei haben wir gleichzeitig die erste und entscheidende Botschaft verschüttet, nämlich zuerst zu sagen: Wie Christus mit der Ehebrecherin umgeht, so geht er jetzt mit uns um, die wir selber diese Versöhnung nötig haben, nämlich in der von Gott her uns nicht erniedrigenden Selbsterkenntnis, Sünder und Sünderinnen zu sein.

Fast alle biblischen Geschichten und Gleichnisse haben erst einmal diesen indikativischen Gnadenaspekt, bevor der entsprechende Imperativ des Handelns auszusprechen ist, damit dieses Handeln nicht nackte Forderung und Überforderung ist, sondern durch die Erfahrung der Gnade und Freundschaft Gottes seine vitale Ermöglichung bekommt. Dies muss nicht in jeder Verkündigung, zum Beispiel in jeder Predigt geschehen. Aber dies darf auf keinen Fall in der Gesamtverkündigung ausfallen. Gerade wenn Menschen immer wieder über das Wort der Verkündigung die Erfahrung der unbedingten Liebe Gottes geschenkt wird, ist es dann auch möglich, im Ernstfall prophetisch in dem Sinne zu predigen, dass zugunsten einer ganz bestimmten Solidarisierung massive Forderungen und Ansprüche zu erheben sind.

Die sakramentale Struktur des Weiheamtes, die es in der Gnade Gottes zentral einwurzelt, zeigt sich dann in einer quasi-sakramentalen Verwirklichung der Wortverkündigung, indem darin nichts beansprucht wird, was nicht wenigstens versucht wurde, auf dem Hintergrund der Gnade Gottes zu ermöglichen. Deshalb bezieht sich die priesterliche Verantwortung besonders auf die Symbolhandlungen und Rituale der Kirche, vor allem in den Sakramenten, weil in deren relativ konstanter Vorgegebenheit die Gegebenheit der Gnade erfahren werden darf – und die freilich nicht erst hergestellt werden muss, sondern aus sich selbst heraus (es opere operato) tragende Kraft entwickelt.

Auf diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass die Gnade in Wort und Symbol zwar mit der Sinnkategorie zu tun hat, sich darin aber nicht erschöpft, weil sowohl in der biblischen Spiritualität wie auch in den Sakramenten durchaus Erfahrungen zum Ausdruck kommen können, die menschliche Sinnproduktionen durchkreuzen, zumindest überbieten: indem der Mensch nämlich in den Erfahrungen der Brüche noch Rede- und Symbolformen bekommt, in denen sinnloses Leid und nicht mehr nachvollziehbare Gottesbeziehung in der Klage- und Konfliktbegegnung mit Gott – in der kein Sinn geschenkt wird, wohl aber eine Wegbegleitung – eingebracht werden bzw. wenn im Ritual kontrafaktisch vollzogen wird, wozu die eigene Erfahrung nicht mehr reicht.

 

Gnade für das Volk: Auch die Geschichten der lebenden Gläubigen hat eine eigene theologische Dignität, die das priesterliche Amt zu schätzen und zu schützen hat. Denn es wird in Zukunft einmal dafür verantwortlich sein, dass auch die Geschichten und die Glaubenseinsichten der Gegenwart für eine künftige Gegenwart nicht verloren gehen. Man kann nicht auf der einen Seite von der Tradition viel halten und von der Gegenwart wenig, weil die Gegenwart immer einmal ein Bestandteil der Tradition werden wird. Das Traditionsprinzip der katholischen Kirche rekonstruiert auch die jeweilige gegenwärtige Pastoral als geistgewirkte Wirklichkeit.

So gibt es im Volk Gottes eine doppelte Machtkonzentration: einmal im Weiheamt, zum anderen in den strukturellen Ausdrucksformen des Sensus fidelium, des Glaubens der Gläubigen. Beide sind konstitutiv aufeinander verwiesen, um sie selbst sein zu können. Allerdings liegt das Problem darin, durch welche Prozesse hindurch sich der Sensus fidelium zum Ausdruck bringt: in zentralistischer Verordnung oder aber in einer entsprechenden Kommunikation, in der das kirchliche Amt tatsächlich auf den Glauben der Gläubigen hört und die eigene Macht dafür einsetzt, dass dieser Glaube der Gläubigen und seine Repräsentanzformen ermächtigt und wichtig werden – auch sich selbst gegenüber. Ansonsten würde das Weiheamt die Vorgegebenheit der Gnade im Volk Gottes missachten.

Zugleich macht die Zweipoligkeit der Mächte klar, dass kein Pol heilig zu sprechen ist, dass sowohl das Weiheamt wie auch der Sensus fidelium auch ambivalente Größen sind und nicht aus der Sündhaftigkeit menschlicher Existenz herausfallen. Am Beispiel Jesu wird deutlich: Er beansprucht eine ganz bestimmte inhaltliche „Macht“ (im Sinne des Reiches Gottes), und: im Kontext der Erfolgs-Macht scheitert er. Damit nun in der Kirche die reale Macht nicht die geistliche Macht ins Vergessen zurückstößt, stellt sich die strukturelle Frage, wie das Geistliche real existierende Macht erhält, um sich durchzusetzen. Die katholische Kirche „löst“ dieses Problem – mit aller Ambivalenz – dadurch, dass die geistliche Macht im priesterlichen Amt mit der rechtlichen Macht verbunden wird. Derart bekommt die Gnade ihr Recht.

Aber eben die Gnade: “Nennt mich nicht Meister, nur einer ist euer Meister!” (vgl. Mt 9,11; 19,16; 23,8). Genau diese Inhaltlichkeit, nämlich Gnade zu repräsentieren, wird dadurch konterkariert, dass die Macht nicht als Dienst an der Ermächtigung der Gläubigen selbst realisiert wird, in der Stärkung ihres Glaubens, in ihrer eigenen Erinnerung und in ihrer eigenen Kompetenz, die Wirklichkeit im Horizont „Zeichen der Zeit“ zu lesen. Dabei hat das priesterliche Amt das Recht und die Pflicht, innerhalb des Volkes dann Kritik zu üben, wenn dort die Gläubigen sich gegenseitig unterwerfend und ausgrenzend miteinander bzw. mit anderen umgehen. Umgekehrt haben die Repräsentanzen des Sensus fidelium auch das strukturelle Recht, das Weiheamt zu kritisieren, wenn es die eigene zugesprochene rechtliche Macht von der geistlichen Inhaltlichkeit ablöst, nämlich sich auf die Macht Gottes in der Geschichte zu beziehen und damit auf die Ohnmacht der Liebe und der Gerechtigkeit. So realisiert sich das priesterliche Amt in seiner geistlichen Leitung immer dann, wenn es die eigene Wichtigkeit dafür einsetzt, dass die anderen wichtig werden. Zugleich wird es einschreiten, wenn die Christen sich und andere nicht wichtig genug nehmen oder wenn sie wesentliche Erinnerungen der verstorbenen Gläubigen nicht mehr wichtig nehmen.

 

Geistliche Leitung: Auf den ersten Blick scheinen Gnade und Leitung nicht leicht miteinander vereinbar, weil der moderne Leitungsbegriff eindeutig ein Kompetenz- und Leistungsbegriff ist. Das Adjektiv „geistlich“ verunsichert den harten Kern des Leitungsprofessionellen und tauscht ihn mit einem anderen Kern aus, einem „geistlichen“, der dann auch den Leitungsbegriff entsprechend modifiziert. Die Geistlichkeit dieser Leitung kann am besten auf dem Hintergrund der Verbindung von Eucharistievorsitz und Gemeindeleitung erörtert werden. Hier feiert die Gemeinde dadurch, dass sie sich aus der Hand Gottes als geschenkt erfährt, zugleich den Geschenkcharakter ihrer eigenen Einheit. Dass die Eucharistiefeier den zentralen Sammlungs-Ort der Kirche bildet, hat eben damit zu tun, dass auch die kirchliche Einheit nicht zuerst etwas ist, was die Menschen herzustellen haben, sondern was von Gott her geschenkt ist.

Wenn Paulus der Gemeinde zuspricht, dass sie Leib Christi ist, noch bevor sie etwas dafür getan hat, dann scheint darin auch die Vorgegebenheit der Einheit der Kirche in Christus auf. Geistliche Gemeindeleitung bedeutet dann, der Gemeinde erfahrbar werden zu lassen, dass sie in Christus eins ist, und zwar in allen Meinungsverschiedenheiten und Unterschieden – und diese auch insofern überbrückend, als Christus zu jedem und zu jeder von uns sowie zu jeder Ortskirche eine ureigene Beziehung innehat. Dabei zeigt sich sowohl die Kreativität des Geistes Gottes in ihrer Unterschiedlichkeit als auch die Einheit des Geistes Gottes in ihrer gemeinsamen Feier der Eucharistie. Von diesem Ort aus können dann die Gläubigen miteinander so umgehen, dass sie sich gegenseitig das Charisma des Geistes Christi zugestehen – auch dann, wenn sie die Meinung eines anderen Gläubigen nicht nachvollziehen können, ja auch dann, wenn sie dagegen durchaus aus inhaltlichen Gründen opponieren zu müssen glauben. Denn die kirchliche Einheit beruht nicht in der macherischen oder konsensuellen Gleichschaltung der Gläubigen, sondern im Geschenk ihrer Verwurzelung im gemeinsamen Herrn, die nicht hergestellt, sondern gefeiert wird.

Empfängt die Kirche ihre eigene Einheit so aus dem Sakrament der Eucharistie, dann kann geistliche Gemeindeleitung keine Vereinheitlichung bedeuten, auch keine Verordnungseinheit, sondern jene Leitung, die mit dem Geist Gottes in den Gläubigen rechnet, und zwar bei all der Gebrochenheit dieses Geistes in der Ambivalenz menschlicher Existenz. Sicher gibt es dann auch die Verantwortung, Grenzen ziehen zu müssen gegenüber solchen Meinungen und Handlungen, die zum Schaden von Menschen und zum Schaden einer Gottesbeziehung ausarten, die auf dem Geschenk der Gnade aufruht. Wo die Gottesbeziehung zur Ängstigung und Unterdrückung von Menschen benutzt wird, hat das Weiheamt zu widerstehen – wie umgekehrt alle Gläubigen das Recht und die Verantwortung haben, dem priesterlichen Amt zu widerstehen, wo es selber in diese Versuchung fällt.

Die geistliche Gemeindeleitung braucht viel Kompetenz im Umgang mit Menschen und auch im Verstehen von Leitungsvorgängen und Strukturen, geht aber darin nicht auf, sondern ist bereit, all dieser Kompetenz nochmals ein eigenes Vorzeichen zu geben, das diese Kompetenz regiert, im gegebenen Fall sogar überholt oder aussetzt. Wenn die professionelle Kompetenz nicht immer wieder bereit ist, sich vom Kern der Gnade unterbrechen und durchbrechen zu lassen, kann sie den Anspruch der „Geistlichkeit“ nicht für sich beanspruchen. Damit soll nicht abgesprochen werden, dass sehr viel Gnade auch durch Kompetenz geschieht, wenn zugleich im Blick bleibt, dass professionelle Leistung immer wieder durch den Gnadenaspekt überholt werden darf, wenn sie ihr im Wege steht.

Für die priesterliche Person ergibt sich unter dem Aspekt der geistlichen Leitung auch eine weitere Konsequenz, damit die Weihe nicht missverstanden wird. Nämlich wenn Personen, die ordiniert werden, meinen, damit sei automatisch auch ihre eigene Glaubensgeschichte und theologische Meinung mitordiniert in dem Sinn, dass beide mehr wert wären als die Glaubenserfahrungen der Gläubigen und als könne man die eigene Glaubensrichtung dann allen Gläubigen in der Gemeinde verordnen. Ich rede hier nicht von den Inhalten des Glaubensbekenntnisses, sondern davon, wie sie erlebt und erfahren (oder auch nicht) werden. Die Ordination rechtfertigt nicht die Subordination der Gläubigen unter das, was man selber denkt; vielmehr besteht die Amtsgnade darin, die eigene Glaubenserfahrung und theologische Meinung als Ermöglichung des je besonderen Glaubens und der je besonderen Meinung der anderen einzubringen. Das Amtscharisma verdoppelt nicht das eigene Charisma, sondern relativiert es.

Die geistliche Leitung besteht darin, durch das eigene Wort die Geistlichkeit der Gläubigen zu bewegen, ihr Raum zu verschaffen und die Gläubigen darin in Kontakt und Austausch zu bringen – freilich in gegenseitigem Respekt, was dann schon bedeutet, dass das priesterliche Amt massiv Kritik da anmeldet, wo verschiedene kirchliche Gruppen sich gegenseitig den katholischen Glauben absprechen oder sich gar verteufeln. Die geistliche Leitung kann auch eine harte Aufgabe sein, aber nicht im Durchsetzen der eigenen Meinung, sondern einerseits in der Abgrenzung von – für die christliche Gottesbeziehung und für die zwischenmenschliche Gerechtigkeit widrigen – Handlungen und Personen, andererseits im Durchsetzen von gegenseitig wahrnehmender und respektvoller Verbindung in den kirchlichen Gruppen und Sozialformen.

 

Was du verkündigst, erfülle im Leben: Die Vorgegebenheit der Gnade, wie sie durch das sakramentale Amt vermittelt wird, hat ganz spezifische Auswirkungen auf die Existenz der priesterlichen Amtsperson selbst. Was sie für sich und für die Kirche empfangen hat, ist im eigenen Selbstvollzug zugleich darzustellen. Damit fällt insbesondere dem priesterlichen Amt zu, die Gegebenheit der Gnade durch die eigene Selbstbeanspruchung beispielhaft durch sich selbst vorzugeben, so dass die Menschen an der ihr vorgesetzten Person zugleich die Vorgabe eines Beispiels dafür erfahren, anderen Menschen die Gnade Gottes erfahrbar werden zu lassen und so Christi Gegenwart zu repräsentieren.

So wird das priesterliche Amt ein Wahrnehmungs-, Ermöglichungs- und Energieraum christlicher Existenz für die Gläubigen. Die Gabe der Weihe wird zur Aufgabe in der Existenz und genau damit zur Gabe des Vor-Bildes für die Kirche. Um jedes Missverständnis zu vermeiden: Hier geht es gerade nicht um ein Sich-Verheizen-Lassen in quantitativer Hektik und im Leistungsstress, sondern um den qualitativen Blick für die entscheidende Zeugenschaft im Ernstfall.

Ich kann mich noch gut an Gespräche mit Mitbrüdern aus Lateinamerika an einer Tagung erinnern, die ein paar Monate nach der Ermordung des Bischofs Oscar Romero stattfand. Wir haben damals über das priesterliche Amt gesprochen. Und die Priester aus Lateinamerika haben gesagt: An diesem Bischof wird uns klar, dass das Martyrium das Siegel der Echtheit des priesterlichen Amtes ist; dass die Menschen, die das priesterliche Amt auf sich nehmen werden, ganzheitlich Zeugnis geben, dass sie sich dieses Zeugnis der Wahrheit in ihrer eigenen Lebensform etwas – wenn es sein muss: die “Passion” – kosten lassen.

Die Gläubigen im sakramentalen Amt sind die von Amts wegen berufenen Blutzeugen. In der Ordination wird die Gnade verliehen, amtlich und öffentlich Christus bis zum Modus der Selbsthingabe darzustellen und so die Kirche zu leiten. Erst in solcher Kenosis wird das Hierarchische zugunsten der tatsächlichen Herrschaft des „Heiligen“, der sich um der Menschen willen erniedrigt hat, gebrochen und gewinnt damit ein eindeutiges „umgekehrtes“ Vorzeichen. Eben darin zeigt sich eine geistliche Macht, die nicht nur auf den zwanglosen Zwang der besseren Argumente angewiesen ist, sondern sich auch auf den zwanglosen Zwang der besseren Existenz zu berufen vermag.

Das Jüngste Gericht wird darauf schauen: Das oben zitierte Wort aus dem Buch Maleachi, dass die Lippen des Priesters die Erkenntnis bewahren sollten, wird folgendermaßen weitergeführt: “Ihr aber seid vom Wege abgewichen […] und habt den Bund Levis zunichte gemacht, spricht Jahwe Zebaot. So werde ich euch allem Volk verächtlich und niedrig machen, weil ihr ja doch meine Wege nicht beachtet […]“ (Mal 2,8-9). Es ist verblüffend, wie der Prophet auch in unsere Zeit hineinspricht. Es gilt umso mehr die Bekehrung des priesterlichen Amtes zur Selbstverwurzelung im sakramental geschenkten Amtscharisma und zum Dienst aus dieser Gnade heraus.

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