Es gibt kein passenderes Bild für die Bedeutung der Vernunft im Zeitalter der Aufklärung als das des Gerichtshofs. Immanuel Kant hat dieses Bild mehrfach benutzt. Er nennt seine Kritik der reinen Vernunft „den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten“. Von der Vernunft werde Aufklärung erwartet. Es sei aber „sehr was Ungereimtes“, ihr vorzuschreiben, was dabei herauskommen soll. Gestritten und aufgeklärt werden kann über die größten und wichtigsten Fragen, ob es Freiheit, Gott und ein künftiges Leben gibt. Dieser Streit hat kein Ende, weil sich die Vernunft unaufhörlich selbst der Kritik unterziehen und dabei ihre Grenzen erkennen muss. Es sind die Grenzen zwischen konkretem Wissen und Spekulation, die vor dem Gerichtshof nicht überschritten werden dürfen.
Statt richtige Antworten auf jene ultimativen Fragen zu wissen, müssen wir uns mit dem Glauben begnügen, dass es Freiheit, Gott und Unsterblichkeit gibt. Der Gerichtshof tagt immer und die Ergebnisse der Aufklärung bleiben offen und strittig. Die Alternative wäre ein „Krieg“, eine naturhafte, gewaltsame, blutige und tödliche Auseinandersetzung um Ansprüche, die von den Einen gegen die Anderen durchgesetzt werden sollen, wie es in vielen Religionskriegen der Fall war und immer noch ist. Stattdessen soll alles in Ruhe in einem offenen Prozess vor dem Gerichtshof der Vernunft verhandelt werden.
Die Vernunft ist zwar in dem Bild, das Immanuel Kant vorgeschlagen hat, die letzte Instanz bei allen Verhandlungen. Sie darf aber nicht dogmatisch entscheiden, sondern soll kritisch prüfen, in welche Entscheidung „freie Bürger“ einstimmen könnten. Was immer den Anspruch auf Geltung erhebt, muss dem selbstkritischen Anspruch der Vernunft vor dem Forum der Öffentlichkeit standhalten. Die Einstimmung der freien Bürger, die Kant im Sinn hat, darf nicht mit dem Konsens verwechselt werden, den die modernen Konsenstheoretiker vorgeschlagen haben, denn der Konsens soll zwar rational und ethisch anspruchsvoll, aber auch gültig und verpflichtend für alle sein. Der Gerichtshof wäre zwar nicht endgültig geschlossen, die Vernunft würde aber eher selbstsicher als selbstkritisch, eher selbstherrlich und belehrend als bescheiden und zurückhaltend auftreten.
Die aufklärende, selbstkritische Vernunft Kants ist weder eine Konsensrationalität noch das von Descartes vorgeschlagene Denkvermögen, das alles klar und bestimmt erkennen will. Kaum jemand hat diese Unterschiede genauer gesehen als die britische Philosophin Onora O’Neill, die Kants Auffassung des Gerichtshofs und dessen Gedanken der öffentlichen Auseinandersetzung zu einem Ganzen verbindet. Das verbindende Element ist nach ihrer Einschätzung der Kategorische Imperativ, mit dem alle Maximen und Regeln, die persönlichen wie die politischen und rechtlichen daraufhin geprüft werden, ob sie widersprüchlich sind und wirklich von allen gewollt werden können.
Die Selbstverpflichtung so zu handeln, dass die Maxime zu einem allgemein geltenden Gesetz werden kann, schließt Zwang, Betrug, Versklavung, Ausbeutung und jede Art der Instrumentalisierung aus. Jeder und jede, die den Maximen des vorurteilsfreien Selbstdenkens, des Denkens an der Stelle, an der jeder andere steht und der Widerspruchsfreiheit folgt, kann jede denkbare Maxime verlässlich prüfen und dann in ein Gesetz, das für alle gilt, einstimmen. Dazu muss aber auch jeder verstanden haben, worum es geht. Dies sind die Maximen des persönlichen und öffentlichen Vernunftgebrauchs, die der allgemeinen Aufklärung dienen sollen. Es sind primär Maximen der Autonomie und dann erst Maximen der Vernunft. Auch dies ist ein Gedanke Kants, den sich Onora O’Neill zu eigen macht.
Das Gewissen als Gerichtshof
Die Metapher des Gerichtshofs gebraucht Kant nicht nur für die Vernunft, sondern auch für das Gewissen, das er einen „inneren Gerichtshof im Menschen“ nennt. Dies ist ein individueller, nicht öffentlich tagender und nicht durchschaubarer Gerichtshof, der mit dem Gerichtshof der Vernunft nichts gemein hat und auch nichts gemein haben darf. Der Vergleich ist erhellend. Durch sein Gewissen sei jeder Angeklagter und Richter in einer Person und dies sei nicht mit einem Gerichtshof vereinbar. Deswegen müsse sich das Gewissen einen „Anderen (als den Menschen…)“ als Richter denken, eine „idealische Person…, welche die Vernunft sich selbst schafft“. Und dieses „über Alles machthabende Wesen“ heiße „Gott“. Da Gott für Kant aber eine Idee ist, und die Vernunft nicht mit sich selbst, wie wir eben hörten, in Widerspruch geraten darf, bleibt nur der Glaube an ein höchstes Wesen, und die Pflichten, die durch den Kategorischen Imperativ geprüft werden, können „als göttliche Gebote“ befolgt werden. Letztlich übt Gott seine machvolle Rolle im Rahmen einer Metapher aus. Das wird die, welche an ihn glauben, eher enttäuschen und die, welche nicht an ihn glauben, wird die Metapher des Gerichtshofs insgesamt suspekt.
Die Vernunftreligion, die Kant vorschlägt, ist ein Gesetzesglaube, ein Glaube an das moralische Gesetz, das sich die vernünftigen Wesen in ihrer Autonomie selbst auferlegen. Die Einsicht des Hl. Paulus, dass durch das Gesetz niemand gerecht wird (Gal 2,16), war Kant sicher nicht unbekannt, wird von ihm aber als Aussage einer historischen Religion nicht ernst genommen. Er schlägt in der Kritik der Urteilskraft sogar einen moralischen Gottesbeweis vor. Der besteht darin, dass sich die Vernunft vor sich selbst verbeugt und ihren eigenen Geboten Treue gelobt, quasi in Anerkennung des göttlichen Charakters der Vernunft selbst. Die Vernunft als Gott in uns wird von uns selbst verehrt. Wir schauen zur Vernunft als einer letzten Instanz auf, die höher und größer ist als jeder einzelne von uns Menschen. Die Sache der Aufklärung wird mit dieser Überhöhung der Vernunft in uns nicht gefördert. Wäre es ein Spiel, müsste es nun heißen „alles wieder auf Anfang“.
Prinzipien der Vernunft
Der Vergleich der beiden Gerichtshof-Bilder weist auf eine Gefahr hin, die dem Gerichtshof der Vernunft droht, wenn die Vernunft unkritisch wird. Der Vernunftglaube mit seinem moralischen und vernunft-religiösen Anstrich überhöht die Vernunft. Kants Vernunftglaube soll hier nicht weiter vertieft werden. Stattdessen geht es nun darum zu prüfen, wie weit das, was Geltung beansprucht, vor dem Gerichtshof der Vernunft bestehen kann. Wie weit trägt dieses Bild der Vernunft? Was ist das eigentlich, die Vernunft?
‚Vernunft‘ nennen wir eine Tätigkeit des Denkens, aber nicht irgendeines Denkens, sondern des Denkens nach Regeln, nach Maßstäben, die ihrerseits vernünftig sein sollten. Wenn wir sagen, dass logisch gedacht werden soll, dann meinen wir, dass die Regeln des Denkens eine logische Verbindlichkeit haben. In einem Prozess der Rechtfertigung kann am Ende nur etwas Vernünftiges, Zuverlässiges, Wahres herauskommen, wenn die Rechtfertigung die bestmöglichen, zuverlässigsten Maßstäbe benutzt und logisch transparent aus Prinzipien nach Regeln folgert. Die Vernunft benutzt als geistige Tätigkeit Maßstäbe aller Art, Prinzipien, Regeln, Normen, ist aber selbst kein Prinzip, keine Regel, keine Norm.
Das ist wichtig zu wissen, weil die Tätigkeit des Denkens und die Instrumente dieser Tätigkeit auseinandergehalten werden müssen, sonst kann das Ergebnis der Rechtfertigung nicht gelten. Es kann nicht sein, dass die Vernunft die Tätigkeit des Denkens und gleichzeitig dessen Instrument und Regel ist. Die Tätigkeit wäre immer in Übereinstimmung mit sich selbst, weil sie – wie Kant es für das Gewissen formuliert – Angeklagter und Richter in einer Person wäre. Eine kontrollierte, überprüfbare Tätigkeit ist nur möglich, wenn es einen Unterschied gibt zwischen der Tätigkeit der Vernunft und ihrer Prüfung durch Regeln.
Der erste bedeutende Logiker, Aristoteles, hat mit seiner Syllogistik gezeigt, wie die Vernunft agieren sollte, um gültige Ergebnisse zu erzielen. Die Form der Argumente und ihre Anwendung müssen getrennt werden. Was dies bedeutet, zeigt das Beispiel der ersten syllogistischen Argumentform: Wenn der Obersatz „alle Menschen sind sterblich“ gilt, und im Untersatz steht „Sokrates ist ein Mensch“, dann ist der Schluss „Sokrates ist sterblich“ ebenfalls gültig. Die Geltung des Schlusses ist von der richtigen Anwendung der Schlussregel abhängig, aber nicht mit dieser Regel identisch.
Wir sprechen davon, dass wir aus Obersätzen, die wir auch ‚Prinzipien‘ nennen können, etwas folgern, deduzieren, ableiten. Natürlich müssen die Obersätze und Prinzipien ihrerseits gelten. Das wichtigste Prinzip war für Aristoteles das Widerspruchsprinzip. Eine der Formulierungen sagt: „Daß … dasselbe demselben in derselben Beziehung (…) unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann“ (Metaphysik, 1005b 19). Die Blüte einer Pflanze kann nicht gleichzeitig zu der Pflanze gehören und nicht zu ihr gehören (mein Beispiel). Aristoteles nennt dieses Prinzip das sicherste von allen. Es gilt uneingeschränkt, lässt sich aber nicht rechtfertigen. Wir kennen heute eine Reihe anderer Formulierungen dieses Prinzips, dass z. B. ein Satz nicht gleichzeitig wahr und falsch sein kann. Das leuchtet ein, obwohl es dafür keinen Beweis, keine Rechtfertigung gibt. Das Widerspruchsprinzip gilt unabgeleitet. Aristoteles und viele andere Philosophen haben es gefunden, besser gesagt für richtig und wichtig befunden. Sie haben es nicht erfunden. Im Grunde sind alle Prinzipien unabgeleitet gültig. Sie werden irgendwann gefunden und für unabweisbar richtig und unverzichtbar befunden. Prinzipien können nicht konstruiert werden, weil die Konstruktion wiederum Prinzipien voraussetzen würde, die ihrerseits gelten müssten. Das würde in einen endlosen Regress von Begründungen führen.
Nehmen wir als Beispiel eines Prinzips eines, dass uns vielleicht geläufiger ist als das des Widerspruchs, das Prinzip der Menschenwürde. Es steht im ersten Satz des Grundgesetzes. Dort heißt es: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Weil die Würde als Prinzip gilt, heißt es dann im zweiten Satz: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Auch das Prinzip der Menschenwürde gilt ohne Begründung, unabgeleitet. Viele Theoretiker wollen das nicht wahrhaben und versuchen es zu begründen. Das kann nicht gelingen, weil jede Rechtfertigung eines Prinzips ihrerseits mindestens ein anderes Prinzip voraussetzen würde, das für den Nachweis der Geltung herangezogen werden müsste. Ein solches Prinzip müsste auch gelten und hätte das gleiche Problem, dass es nur mit einem anderen Prinzip zu rechtfertigen wäre.
Aristoteles hat gesehen, dass die Vernunft nicht nur aus Prinzipien Erkenntnisse ableitet, sondern auch induktiv vorgeht und sich dabei auf Standards verlässt, die eigentlich erst gefunden und bestätigt werden müssten. Die Sterblichkeit des Menschen ist kein Prinzip, sondern eine erfahrbare Gewissheit, genau genommen die einzige Gewissheit, die wir kennen, die unabhängig von unserem Denken ist (im Unterschied zur cartesianischen Gewissheit des ‚ich denke‘, die ein Produkt des Denkens ist).
Auch die Politik und die Rechtsprechung benötigen Standards, die aus der erfahrbaren Lebenswelt stammen sollten, weil sie sich dort auch als tauglich erweisen sollten. Was gerecht ist, muss sich in der Lebenswelt und nicht in einer Theorie zeigen. Es gibt auch nicht nur einen Standard der Gerechtigkeit, sondern mindestens zwei, einer basiert auf Gleichheit und einer auf dem Verdienst, das sich jeder selbst erwirbt. Diese beiden Standards haben nicht einmal einen gemeinsamen Nenner. Sie gelten je nach politischem System bis auf Weiteres, der eine in einem egalitären, der andere in einem elitären System. Auch für die beste Staatsform kennen wir kein Prinzip. Die Demokratie will zwar die beste Staatsform sein, hat aber sehr verschiedene Erscheinungsweisen mit unterschiedlichen Wahlsystemen, Gewaltenteilungen und Kontrollorganen. Die Menschenwürde ist ein Prinzip unserer Demokratie. Sie ist aber keine hinreichende Bedingung einer demokratischen Ordnung. Dazu bedarf es noch vieles mehr.
Für unsere Frage nach der Vernunft als Gerichtshof der Geltung ist die Einsicht von Aristoteles wichtig, dass wir immer dann, wenn wir nachweisen wollen, dass etwas so und nicht anders ist, bei „ursprünglichen und nicht demonstrierbaren Dingen“ beginnen, also bei Sätzen, für die es keinen Beweis geben kann, weil sie unabgeleitet gelten. Diese Auskunft scheint unentschlossen und unsicher zu sein. Kann uns Aristoteles nicht mehr Sicherheit bei der Suche nach gültigem Wissen anbieten?
Er stellt sich diese Suche so vor, dass der erste Schritt darin besteht, die Prinzipien zu finden, aus denen wir schließen können. Sie sind die ersten – nicht begründbaren – Ursachen ‚wissenschaftlichen Wissens’. Natürlich haben wir, bevor wir den ersten Schritt tun, früher erlerntes und erworbenes Vorwissen und sinnliche Wahrnehmung. Aristoteles ist ein guter Beobachter. Er ist sich aber auch im Klaren darüber, dass es zwei Arten des Früheren gibt, nämlich das, was wie die Wahrnehmung und das Erlernte mehr oder weniger zeitlich früher ist und uns individuell näher oder ferner liegt. Und dann gibt es noch das, was „schlechthin früher“ und am weitesten von der Erfahrung entfernt liegt, die Prinzipien, aus denen wir schließen. In der Ordnung des Wissens ist das Erstere das konkrete Einzelne, das Letztere das Allgemeinste, das Früheste. Das Allgemeinste, Früheste sind Prinzipien unseres Denkens. Sie gelten „unvermittelt“, ohne weitere Voraussetzungen, unabgeleitet.
Wahrheit und Geltung
Aristoteles kennt das Bild der Vernunft als Gerichtshof nicht. Er würde dieses Bild auch ablehnen, weil er ein guter Beobachter war und wusste, dass das Wissen kein Produkt der sich selbst betrachtenden, allmächtigen Vernunft sein kann, sondern auf Erfahrung, auf Wahrnehmung und Beobachtung dessen, was in der Natur geschieht, beruht. Er ist überzeugt, dass das, was als gültig gerechtfertigt werden kann, einen Zusammenhang herstellt zwischen dem, was tatsächlich existiert und dem, was wir mit den Mitteln unseres vernünftigen Denkens und Urteilens beurteilen können. Das kann etwas Allgemeines sein wie Gesetzmäßigkeiten in der Natur, für deren Erkenntnis das Bild des Gerichtshofs der Vernunft im Ansatz passend ist. Es kann auch etwas Besonderes sein, das sich so und nicht anders zeigt, aber nicht verallgemeinert werden kann. Ich nenne das ‚exemplarische Geltung‘.
Bevor ich mehr über diese Art von Geltung sage, will ich auf die sehr naheliegende Frage eingehen, ob denn nicht die Wahrheit der beste Maßstab für das ist, was gilt oder gelten sollte. Was ist plausibler als die Vermutung, dass das, was wahr ist, auch gelten sollte. Wahrheit und Geltung hängen tatsächlich zusammen, nur wie. Es wäre falsch zu glauben, dass die Wahrheit ein Maßstab für das sein könnte, was gilt. Es ist im Gegenteil so, dass die Wahrheit selbst das Ergebnis eines Geltungsnachweises ist.
Der beste Zeuge für das Ziel, die Geltung der Wahrheit von Sätzen nachzuweisen, ist Gottlob Frege. Sein Ziel ist, wissenschaftliche Wahrheit auf der Grundlage von logischen Gesetzmäßigkeiten zu erkennen. Er entwickelt orientiert an der Arithmetik Denkgesetze. Er will herausfinden, „worauf im tiefsten Grunde die Berechtigung des Fürwahrhaltens beruht“. Strenge, lückenlose Beweise auf der Grundlage von „Urwahrheiten“ und „Urgesetzen“ sollten die Geltung der Wahrheit von Sätzen sichern. Diese Voraussetzungen sind kein Produkt der Logik. Sie müssen angenommen, vorausgesetzt, aufgefunden werden. Die Wahrheit ist dann das Ziel und nicht der Ausgangspunkt des Geltungsnachweises.
Frege entwirft die moderne, an der Mathematik orientierte, formale Logik, die wenig Ähnlichkeit mit der syllogistischen Logik von Aristoteles hat. Dennoch haben beide eine Gemeinsamkeit. Beide bauen auf Grundlagen auf, die nicht Teil der Logik selbst, sondern ihnen vorgeordnet sind. Sie gelten unabgeleitet, prinzipiell. Damit hat auch Freges Nachweis der Geltung wissenschaftlicher Wahrheiten unabgeleitete Grundlagen, die denen von Aristoteles der Form nach ähnlich sind. Die Geltung der Wahrheit wird zwar logisch nachgewiesen. Die Geltungsgrundlagen sind dabei aber vorausgesetzt. Sie liegen außerhalb des Gerichtshofs der Vernunft, ähnlich wie bei allen Gerichtshöfen, die wir kennen.
Die exemplarische Geltung
Wenn wir an das denken, was gilt, denken wir zuerst an das Recht, dann vielleicht an Wetten, sicher auch an Versprechen, aber kaum an die Vernunft. Wir haben uns auch Schritt für Schritt vom Bild des Gerichtshofs der Vernunft verabschiedet und kommen jetzt zu dem Gerichtshof, in dem das Recht regiert. Freges Logik kann uns dabei nur im Ansatz helfen, weil es vor Gericht zwar auch um die Wahrheit geht, aber die Geltung des Rechts ist von ganz anderer Art als die Geltung der Wahrheit. Es ist zwar wahr, dass Gesetze gelten, aber die Gesetze selbst sind nicht wahr. Was macht sie dann gültig? Diese Frage beantworten Rechtstheoretiker unterschiedlich. Carl Schmitt, der heute als belastet durch seine Rolle im Nationalsozialismus gilt, unterschied drei Arten der Geltung des Rechts, je nachdem, woraus die Geltung abgeleitet wird: aus einer Norm, einer Dezision oder einer politischen Ordnung. Er neigte zur Dezision. Das Element der Entscheidung ist ohne Zweifel für die Geltung des Rechts bedeutsam. Da eine Dezision aber auch willkürlich, gewaltsam und unvernünftig sein kann, wird der Dezisionismus heute von vielen abgelehnt. Jürgen Habermas hat eine Alternative vorgeschlagen, die zwar nicht den Gerichtshof der Vernunft bemüht, aber die Vernunft des gewaltfreien, mit Argumenten geführten Diskurses. Erst am Ende des vernünftigen Diskurses soll dann entschieden werden. Man könnte dieses Modell ‚rationalen Dezisionismus‘ nennen.
Diese Modelle und andere mehr hinterlassen die offene Frage, welcher Gedanke dem, was gilt, sei es als Recht, als Versprechen, als Wette oder als Wechselkurs zugrunde liegt. Mein Vorschlag ist, dass das, was gilt, einen Zusammenhang herstellt zwischen dem, was ist und dem, was sein soll. Nehmen wir als Beispiel die Gesetze des Umweltschutzes. Die Zerstörung der Umwelt ist das, was ist – und was sein soll, ist eine Ende dieser Zerstörung, um die Umwelt zu erhalten. Den Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, stellen die Gesetze des Umweltschutzes her. Ein anderes Beispiel sind Versprechen. Wenn wir jemandem etwas versprechen, existiert dieses Versprechen. Was sein soll, ist dessen Erfüllung. Dazu sind wir verpflichtet. Die Verpflichtung gilt, weil sie einen Zusammenhang zwischen der Äußerung des Versprechens und seiner Erfüllung herstellt. Sie gilt so lange, bis das Versprechen erfüllt ist.
Der Zusammenhang zwischen dem, was ist, und dem, was sein soll, ist immer ein anderer. Es gibt keine universale Grundstruktur, keine Geltung im Allgemeinen, nur den Gedanken eines Zusammenhangs, der aber immer ein anderer ist. Der Zusammenhang kann angepasst an das, was ist, immer wieder anders aussehen. Wenn wir mehr über die Ursachen der Zerstörung der Umwelt wissen, können wir auch besser das Ziel, mit Hilfe geltender Gesetze die Umwelt zu schonen, erreichen. Das, was als Gesetzgebung zum Schutz der Umwelt gilt, kann immer wieder verbessert werden.
Bekannt ist dieser Gedanke aus Kants Kritik der Urteilskraft. Dort entwickelt Kant das, was er „Schönheitsurteil“ nennt. Die Urteilskraft spielt bei diesem Urteil. Sie verbindet spielerisch den Verstand und die Einbildungskraft, Begriffe und Vorstellungen. Es gibt keine Vorherrschaft der Begriffe und nicht einfach den überwältigenden Eindruck von Vorstellungen, sondern ein Spiel zwischen diesen beiden Kräften. Das Ergebnis ist dann gültig, wenn wir alle zum gleichen Ergebnis kommen. Die exemplarische Geltung unseres Urteils ist eine „subjektiv-allgemeine“. Sie setzt einiges voraus. Das wichtigste ist das, was Kant „Gemeinsinn“ nennt. Der Gemeinsinn enthält ein Sollen, wie Kant sagt.20
Wenn wir urteilen, sollen wir dem zustimmen können, wie auch die anderen urteilen. Angewandt auf die Geltung der Menschenwürde verstehen wir, was der Gemeinsinn für eine Bedeutung hat. Nehmen wir an, es geht um die Beurteilung einer möglichen Verletzung dieses Prinzips, kommen wir nur zu einem gemeinsamen Urteil, wenn wir den Gemeinsinn bemühen können, in dem alle Voraussetzungen unserer Urteilsfähigkeit enthalten sind, die kulturellen, religiösen, wissenschaftlichen, sozialen und politischen. Wir können dann auf dieser Grundlage auf beispielhafte, exemplarische Weise zu einem Urteil kommen, das allgemein gilt oder zumindest allgemein gelten kann. Es ist aber nur dieses Urteil und nicht alle möglichen anderen, um dessen Geltung es geht.
Es ist interessant, dass Kant am Ende seines kritischen Geschäfts den Gerichtshof der Vernunft nicht mehr bemüht. Nun könnte man einwenden, dass die exemplarische Geltung eine Grundfigur der ästhetischen Urteilskraft ist. Das ist zwar richtig, aber diese Urteilskraft ist das Grundmodell der Urteilskraft überhaupt. Wie immer man über die Historie der Urteilskraft denkt, die exemplarische Geltung lässt sich auf alle möglichen, sehr unterschiedlichen Geltungs-Zusammenhänge anwenden. Den Gerichtshof der Vernunft benötigen wir für die Einsicht in das, was gilt, nicht.