Die Johannesapokalypse ist ein gutes Beispiel dafür, dass die Exegese des Neuen Testaments in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten spannende Paradigmenwechsel hinter sich gebracht hat. Historische Ansätze zur Deutung von Texten spielen mit Recht weiterhin eine gewichtige Rolle, ihre Interessen aber haben sich verändert und die methodische Vorsicht ist größer geworden. Daneben treten Ansätze, die den Text als ein Stück theologischer Literatur, als ein gewichtiges, hoch spannendes Statement in frühchristlichen Diskursen auffassen. Erkennbar ist ein gesteigertes Interesse an Aspekten der Intertextualität und Intermedialität, wichtiger wird die Frage nach dem Einfluss der Apokalypse auf Kultur und Gesellschaften bis hin zu dem Problem, inwiefern die Apokalypse versucht, die Weltwahrnehmung ihrer Adressat:innen zu beeinflussen. Dies ist nur ein Teil des möglichen Spektrums. Mein Beitrag versteht sich deswegen nur als eine Skizze.
Text und kanonische Stellung der Apokalypse
Es mag verwundern, aber selbst einige ganz grundlegende Probleme der Interpretation der Johannesapokalypse sind nicht endgültig gelöst: Wie bei nahezu allen Texten der Antike und des Mittelalters vor der Zeit des Buchdrucks und wie bei allen Schriften der Bibel liegt uns kein Original der Johannesapokalypse vor. Stattdessen wurde eine Vielzahl von zum Teil sehr alten Handschriften überliefert, deren Texte der Apokalypse sich in zum Teil wichtigen Details voneinander unterscheiden. Die neutestamentliche Disziplin der Textkritik ist in den vergangenen Jahren mehr und mehr davon abgekommen, daraus „den“ Originaltext der Apokalypse (oder auch anderer neutestamentlicher Schriften) zu rekonstruieren. Dieses Ziel scheint außer Reichweite geraten zu sein: Stattdessen versucht man, so nahe wie möglich an einen „Ausgangstext“ der neutestamentlichen Schriften zu kommen, also an einen Text, aus dem sich die überlieferten Textformen am besten erklären lassen. Dieser dürfte einem Originaltext recht nahekommen, aber ist nicht unbedingt identisch damit. Mit dem Abschluss des Projekts einer Editio Critica Maior der Johannesapokalypse unter Leitung von Martin Karrer ist nun ein ganz entscheidender Schritt gelungen: Anders als die üblichen kritischen Ausgaben des griechischen Texts (z. B. Nestle–Aland 28) versucht eine solche Ausgabe wirklich alle erreichbaren Zeugen der Textüberlieferung zugänglich zu machen und zu berücksichtigen. Bereits dies ist ein unglaublicher Fortschritt gegenüber der bisherigen Textbasis, der auch für unser Verständnis der Rezeptionsgeschichte der Apokalypse wichtig werden wird. Gleichzeitig hat die erneute, vertiefte Analyse der Textüberlieferung dazu geführt, den Text der bisherigen Ausgaben an beinahe hundert Stellen in Frage zu stellen. Spricht Apk 2,13 wirklich von einem „Zeugen“ namens Antipas, der in Pergamon den Märtyrertod erlitten hat? Oder steht das griechische ΑΝΤΙΠΑΣ (= „ANTIPAS“) für eine Verbform ἀντῖπας? Dann wäre Apk 2,13 so zu lesen, dass die angesprochenen Christusverehrer in Pergamon den Christusglauben nicht verleugnet und ihm widersprochen hätten. Endet die Apokalypse mit einem allumfassenden Gnadenzuspruch „Die Gnade des Herrn Jesus mit allen!“ (Apk 22,21) oder wird diese Gnade nur einer Gruppe von Auserwählten zugesprochen? Dass solche Entscheidungen schwerwiegende theologische Konsequenzen nach sich ziehen, liegt auf der Hand. Die Auswirkungen der neu vorgeschlagenen Lesarten, die gleichzeitig natürlich nicht zwingend zu übernehmen sind, auf die Interpretation des Texts sind noch nicht abzusehen.
Die Tatsache, dass die Textüberlieferung der Johannesapokalypse in Teilen wohl weniger stabil ist als bei vielen anderen Schriften des Neuen Testaments, hat auch damit zu tun, dass sie wenigstens im christlichen Osten lange Zeit nicht oder nur sehr zurückhaltend als kanonisch verstanden wurde. Ihr schwieriger Weg in den neutestamentlichen Kanon ist seit langer Zeit bekannt und wurde auch immer wieder nachgezeichnet. Doch auch darüber hinaus gibt es spannende Beobachtungen und Überlegungen: An der Untersuchung der Überlieferung der Apokalypse in konkreten Handschriften auch des byzantinischen Mittelalters hat Garrick Allen zeigen können, dass die Johannesapokalypse selbst in Zeiten, in denen sie üblicherweise als anerkannt kanonisch verstanden wird, auch als ein Text gesehen werden konnte, dem zwar eine gewisse Bedeutung und Autorität zugestanden wurde, den man aber eher auf eine Ebene stellte wie etwa das in den Kirchen des Ostens hoch verehrte philosophisch–theologische Corpus des Pseudo–Dionysios Areopagita, nicht aber wie die Evangelien oder die Briefe des Paulus. Vielleicht noch wichtiger aber ist die Frage, inwiefern die theologische Stimme der Apokalypse von Bedeutung für den biblischen Kanon ist und – umgekehrt – warum es wichtig sein kann, dass die Apokalypse als Teil des Kanons auch durch andere Stimmen, die wir in den Schriften der Bibel finden, ergänzt wird. Bevor es aber möglich ist, auf diese wichtige Frage einzugehen, ist es nötig, einige grundlegende Vorentscheidungen zur Interpretation der Johannesapokalypse zu treffen:
Poetik und Intertextualität der Johannesapokalypse
Zu den wichtigsten Paradigmenwechseln, die die Exegese im Grunde aller biblischen Schriften in den vergangenen Jahrzehnten erfahren hat, gehört die Tatsache, dass das Interesse wissenschaftlicher Exegese sich weniger als noch vor einigen Jahrzehnten auf die Frage der Entstehung eines Texts und der Rekonstruktion seiner Quellen und früherer Redaktionsstufen konzentriert. Dies bedeutet nicht, dass solche Fragen an sich uninteressant und irrelevant wären, dies hängt aber damit zusammen, dass die Rekonstruktion möglicher Quellen und Redaktionsstufen eines Texts kaum mit der für weiteres historisches Fragen angemessenen Sicherheit erfolgen kann. Selbst wenn also nicht ausgeschlossen ist, dass der Autor der Johannesapokalypse auf Quellen zurückgegriffen haben mag, die ihm geholfen haben, den vorliegenden Text zu komponieren, ist eine andere Beobachtung deutlich wichtiger: Die Johannesapokalypse kann in ihrer vorliegenden Form sinnvoll als ein „zusammenhängendes und vollständiges Ganzes“ interpretiert werden. Dies klingt auf den ersten Blick banal, ist es aber keineswegs. Nur wo dies vorausgesetzt werden kann, ist es angemessen, den Text in seiner vorliegenden Form sinnvoll zu interpretieren. Besonders hilfreich mag in diesem Zusammenhang eine Beobachtung von Stefan Alkier sein, der einen sehr klaren Plot, also eine Handlungslinie der Johannesapokalypse beschreibt. So unübersichtlich der Ablauf mancher Abschnitte der Apokalypse zu sein scheint, so sehr bleibt doch folgendes Grundmuster erkennbar: Ausgangspunkt ist die Erfahrung der Bedrängnis in einer Welt, in der die Mächte des Bösen mehr und mehr an Gewicht erlangen und in der die Adressat:innen des Texts sich hilflos diesen Mächten ausgeliefert fühlen (vgl. schon Apk 1,9). Diese Krise wird in den ersten Kapiteln, besonders den Sendschreiben an die Ekklesiai (Apk 2–3), also die „Versammlungen“ der Christusanhänger:innen Kleinasiens, beschrieben. Ein Blick in die überzeitliche Liturgie des himmlischen Thronsaals und die Inthronisierung des Lammes (oder besser: Böckleins), das gleichzeitig als Löwe von Juda (Apk 5,5) beschrieben wird und für den erhöhten Christus steht, zeigt, dass die Krise zwar noch nicht überwunden ist, dass jedoch der Sieger in der Auseinandersetzung mit den Mächten des Bösen bereits feststeht: der thronende und gleichzeitig kommende Gott und sein Repräsentant, das neben ihm inthronisierte, gleichzeitig geschlachtete Böcklein, d. h. der erhöhte Christus. Die Öffnung eines in Kapitel 5 unvermittelt auftauchenden himmlischen Buches durch das Böcklein bestimmt einen großen Teil der weiteren Handlung: Ineinander verschachtelt finden sich Visionen von der Öffnung der sieben Siegel, der sieben Posaunen und der sieben Zornesschalen. In diese wiederum sind Visionen eingestreut, welche bereits das endzeitliche Schicksal der Geretteten andeuten bzw. auf dieses vorausblicken. Obwohl die Repräsentanten des Bösen, der satanische Drache und die ihm zugeordneten Wesen, bereits grundsätzlich besiegt sind, wird ihre endgültige Überwindung als eine überaus ernst zu nehmende Angelegenheit beschrieben: Das Böse feiert immer wieder sein Comeback. Am Ende aber geht es aus wie in einem klassischen Western: Auch wenn die Gegner der Gerechten phasenweise in der erdrückenden Überzahl zu sein scheinen, erfahren die Repräsentanten des Bösen ihr endgültiges Ende im Gericht Gottes, während den Geretteten das himmlische Jerusalem als endzeitlicher Hoffnungsort präsentiert wird. Ob der Text in Apk 22,21 mit einer umfassenden Proklamation „der Gnade des Herrn Jesus“ an alle endet oder nicht, ist, wie oben angedeutet, heute fraglicher als noch vor einigen Jahren.
Bevor wir den Text der Apokalypse aber im Detail interpretieren, sind noch ein paar Probleme zu berücksichtigen: Über lange Zeit wurde die Sprache der Apokalypse als höchst defizitäres Griechisch eines Autors verstanden, der sein Denken in einer semitischen Sprache, also wohl einem aramäischen Dialekt, nicht angemessen im Griechischen ausdrücken konnte. Tatsächlich folgt das Griechische der Apokalypse nicht immer und überall den Regeln der üblichen Grammatik. Die Frage, wie dies zu deuten ist, bleibt aber umstritten. Sehr attraktiv aber sind Gedanken des Philologen Thomas Paulsen, der einerseits zeigt, dass der Verfasser der Apokalypse offenbar durchaus sauberes Koine–Griechisch zu schreiben versteht, wo er dies will, dass er aber vor allem in seinen Beschreibungen Gottes offenbar bewusst die Grenzen griechischer Grammatik in einer Weise überschreitet, wie dies vielleicht kein anderes Werk seiner Zeit wagt. Die Effekte sind zum Teil erstaunlich. Die Selbstbeschreibung Gottes in Apk 1,9 etwa lässt sich vielleicht im Deutschen am besten als „ICH BIN das Alpha und das Omega, sagt Herr, der Gott, der Seiende, der „Er/sie/es ‚Immer–war‘“ und der Kommende, der Allherrscher“ übersetzen und damit wenigstens ansatzweise auch im Deutschen einfangen, was der Text mit dem Griechischen macht. So ungewöhnlich die Grammatik ist, jeder Versuch, das Ausgesagte im Griechischen mit Hilfe korrekter Grammatik wiederzugeben, würde Entscheidendes von seinem Effekt nehmen. Umgekehrt ergibt sich: „Majestätischer wurde Gott wahrscheinlich nie bezeichnet“.
Eine weitere Frage klingt ebenfalls nur auf den ersten Blick banal: Inwiefern muss der Text der Apokalypse in ein größeres Netzwerk von Texten eingebunden sein, um ihn angemessen deuten zu können? Oder besser: Welche intertextuellen Verknüpfungen führen zu welchen sinnvollen Deutungen des Texts Johannesapokalypse? Diese Frage ist alles andere als künstlich, sobald man versteht, dass kein Text einfach eine „Insel“ ist, also isoliert und an sich verstehbar ist, sondern dass wir – bewusst oder unbewusst – immer Bezüge zu anderen Texten, aber auch anderen Medien herstellen (müssen), wenn wir einen gesprochenen oder auch geschriebenen Text deuten. Eine Aufgabe der Interpretation besteht also darin, solche Intertexte zu entdecken, in unserem Falle also Texte, auf die die Johannesapokalypse Bezug nimmt oder Bezug zu nehmen scheint. Dabei aber darf es nicht bleiben: Eine angemessene Interpretation stellt sich die Frage, was denn passiert, wenn der Text der Apokalypse mit solchen Intertexten konfrontiert wird und inwiefern sich dabei das Verständnis des in der Apokalypse Gesagten verändert, ja vertieft. Die Apokalypse macht es ihren Interpret:innen nicht unbedingt leicht: Anders als z. B. das Matthäusevangelium, das z. B. in seiner Kindheitsgeschichte voller markierter sogenannter „Erfüllungszitate“ ist, bietet die Johannesapokalypse kein einziges, etwa durch eine Einleitungsformel markiertes Zitat. Stattdessen ist sie wie ein Teppich durchwoben von Anspielungen auf und Echos wie Motiven biblischer, vor allem alttestamentlicher Schriften: Besonders intensiv ist die Auseinandersetzung der Apokalypse mit den Büchern Ezechiel, Daniel und Sacharja, aber im Grunde auch jede andere prophetische Schrift des Alten Testaments; doch auch anderes wie entscheidende Aspekte der Tora findet sich wieder. Die Frage, in welcher Form dem Autor der Apokalypse diese Texte vorgelegen haben, ist heute besonders schwierig zu beantworten: Die Textfunde aus Qumran haben uns gezeigt, dass die Schriften, die wir heute als Altes Testament kennen, noch im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung in sehr verschiedenen Formen kursierten. Der Autor der Johannesapokalypse dürfte also, soweit wir so etwas heute noch beurteilen können, ein Mensch gewesen sein, der die Schriften Israels in verschiedenen Formen intensiv studierte, ja in ihren Bildern und ihrem Denken lebte. Gleichzeitig dürfen wir ihn, auch wenn er sich, auf Patmos befindlich, vom Rest des Weltgeschehens abzugrenzen scheint (vgl. Apk 1,9), nicht als eine vom Rest der Welt abgeschiedene Person vorstellen. Sich auf die Texte der Schriften Israels alleine zu beschränken greift zu kurz: Der genauere Blick macht klar, dass die Apokalypse auch mit einer Vielzahl von Texten und Ideen der griechisch–römischen Welt spielt, ja dass es auch in hohem Maße sinnvoll ist, „Dinge“ in den Blick zu nehmen, um die Bilder der Apokalypse zu verstehen: von philosophischem Gedankengut bis hin zu griechisch–römischer Mythologie, von in den Städten der Asia allseits präsenten Darstellungen griechisch–römischer Gottheiten über Münzen bis hin zur Materialität von Büchern und Kulturen des Lesens.
Damit bleibt eine letzte Vorentscheidung zu treffen: Ist die Johannesapokalypse als Text zu lesen, der auf konkrete historische Ereignisse der Zeit anspielt (und dessen Deutung letztlich darin aufgeht, diese Anspielungen zu dechiffrieren) oder handelt es sich um einen Mythos, also einen Text, der wenigstens in entscheidenden Aspekten seiner Grunderzählung allgemein menschliche Erfahrungen zu spiegeln sucht, ohne konkrete Bezüge zu den Umständen seiner Entstehungszeit herzustellen? Ich halte beide Zugänge in ihrem Extrem für unangemessen. Bereits die Sendschreiben an die Christusgruppen in Kleinasien (Apk 2–3) zeigen, dass der Text grundsätzlich nicht frei von Bezügen zu konkreten Ereignissen an konkreten Orten verstanden werden kann. Doch bereits die Sendschreiben sind so chiffriert und gleichzeitig offen für Adressat:innen, die nicht in Ephesus, Smyrna, Philadelphia oder anderen angesprochenen Orten in Kleinasien des ersten oder frühen zweiten Jahrhunderts leben, dass wir die zweite Deutung nicht aus dem Blick nehmen dürfen: Auch wenn die Apokalypse nicht komplett als „Mythos“ zu deuten ist, spiegeln die Dinge, von denen sie erzählt, existenzielle Erfahrungen von Menschen aller Zeiten und deuten sie im Rahmen einer vom Christusereignis geprägten Perspektive auf Welt und Geschichte. Gerade darin liegt die bleibende Bedeutung und Faszination der Apokalypse, gerade deswegen aber kann sie auch gefährlich werden, wo sie distanzlos als Schablone zur Deutung konkreter geschichtlicher Konstellationen herangezogen und, damit verbunden, als Machtinstrument gegen angebliche Handlanger des Bösen eingesetzt wird.
Wo wir die Apokalypse aber in einer solchen Weise verstehen, ist es möglich, sie als einen auch heute noch theologisch höchst bedeutsamen Text zu lesen:
Aspekte des theologischen Profils der Apokalypse
Wollen wir die bisherigen Voraussetzungen akzeptieren, dann ist es möglich, den Verfasser der Apokalypse – wir dürfen ihn gerne als „Seher Johannes“ bezeichnen – trotz der für uns fremdartigen Form seines Texts und trotz der von ihm gewählten ungewöhnlichen Sprache als einen Intellektuellen zu betrachten, der mit Hilfe der ihm zugänglichen Denktraditionen die Rolle des Propheten einnimmt, welcher in kühner Weise eine Analyse der ihm vorfindlichen Welt bietet. Er scheint getrieben zu sein von einer Form der Theodizee-Frage, die er in den Mund derer legt, die als Gerechte und ihrem Gott Treue den Tod erfahren haben. Unter dem himmlischen Opferaltar schreien die „Seelen der Geschlachteten“ zu Gott: „Wie lange, Machthaber, heiliger und wahrer, richtest du nicht und schaffst nicht Recht unserem Blut an denen, die auf der Erde wohnen!“ (Apk 6,10). Die unmittelbare Antwort, sie sollen nur noch eine „kleine Zeit“ warten, ist letztendlich unbefriedigend: Selbst eine, aus der Perspektive des überzeitlichen Gottes kurze chronologische Zeit kann für das, was Menschen in ihrem Leben ertragen können, zu viel oder zu lang sein. Die Antwort des Texts ist nur dann akzeptabel, wenn die gesamte Apokalypse als Antwort auf diese Frage verstanden wird – eine Antwort aber, die ihren Leser:innen eine Vielzahl von Paradoxien zumutet, die zu akzeptieren sind: Die Mächte des Bösen wüten, weil sie bereits besiegt sind und ihnen nur noch begrenzte Gelegenheit bleibt (Apk 12,12); Christus ist als geschlachtetes Böcklein siegreicher Löwe von Juda (Apk 5,5). Gott wird als unzugänglich Sitzender beschrieben (z. B. Apk 4,2–3), der kommt (z. B. Apk 1,8), als ein Schweigender, der – durch das Medium der Apokalypse – doch in die Zeit hineinspricht (z. B. Apk 1,1–3). Und der Sieg über die Mächte des Bösen ist blutig, doch bleibt unklar, wessen Blut dabei vergossen wird (z. B. Apk 19,13). Das Herabsteigen der himmlischen Stadt schließlich scheint in einer unkalkulierbaren Zukunft zu liegen, wird aber jetzt schon vergegenwärtigt. Die Einladung der Apokalypse besteht darin, auch in einer Zeit, die sich dehnt, aus der Gegenwart dieser Stadt und der in ihr möglichen unmittelbaren Beziehung zu Gott und dem Böcklein (Apk 22,3–4) zu leben. Um zu verstehen, wie dies möglich ist, ist es nötig, zwei Begriffe von „Zeit“, die die Apokalypse verwendet, in den Blick zu nehmen. Apk 6,11, die Antwort auf den Schrei der Geschlachteten, spricht von einer „kleinen Zeit“, die noch zu warten sei, bis sich Gottes Gerechtigkeit durchsetzt. Die Apokalypse verwendet hier das griechische Wort chronos, das für eine gleichmäßig verlaufende Zeit steht, wie wir sie mit einer Uhr messen können. Dass diese „kleine“ chronologische Zeit aber bis zum Gericht Gottes noch mit einer kaum überschaubaren Zahl von Ereignissen gefüllt wird, spricht dagegen, dass es sich nur um wenige Jahre handeln kann: Nur aus himmlischer Perspektive kann sie als „klein“ verstanden werden. Wenn aber Apk 1,3 davon spricht, dass „die Zeit nahe ist“, verwendet sie im Griechischen einen anderen Begriff: das Wort kairós. Dieses aber steht nicht für eine chronologische, gleichmäßig verlaufende Zeit, sondern für den besonderen, günstigen Moment, der im wahrsten Sinne beim Schopf zu packen ist. Im Rahmen der Apokalypse ist an den „Augen–Blick“ zu denken, in dem Gottes Wirklichkeit auf unverhoffte und unbegreifliche Weise durchbricht und den Blick der Person, die davon getroffen wird, auf die Welt vollkommen verändern kann: diese Form unverfügbarer Präsenz deuten zu können, sich für sie zu sensibilisieren, sie wahrzunehmen und in ein größeres Bild von Welt und Zeit einzuordnen ist ein wohl entscheidendes Ziel der Apokalypse: Diese steht also nicht einfach für chronologische, sondern kairologische Naherwartung: Was jetzt, im besonderen „Augen-Blick“, hereinbricht, ist nichts anderes als das, was wir als „Ewigkeit“ zu beschrieben suchen.
Schon wegen dieser besonderen Deutung von Welt und Zeit ist die Apokalypse ein wertvoller Teil des christlichen Kanons. Sie bietet einen Blick auf die Welt, der dazu herausfordert, Konstellationen des Bösen in aller Entschiedenheit entgegenzutreten und sich nicht auf faule Kompromisse einzulassen, sie ist sensibel für die Verletzlichkeit, Verführbarkeit und Gebrochenheit menschlichen Daseins; gleichzeitig traut sie Menschen alles zu. Sie bietet eine faszinierende, mutige hohe Christologie und entwickelt auch gegen philosophische Strömungen ihrer Zeit das Bild eines Gottes, der nicht allein „Sein“, sondern „Seiender“ und „Kommender“ ist und in dessen Antlitz zu blicken einst unmittelbar möglich wird. Gleichzeitig ist sie ein gefährlicher, zutiefst misogyner Text (vgl. z. B. sein Umgang mit der Prophetin „Isebel“ in Apk 2,20–23), der Passagen mit höchstem antisemitischen Potenzial beinhaltet (vgl. z. B. Apk 2,9 und 3,9). Seine Gewalt– und Rachephantasien wirkten und wirken attraktiv auf Menschen, die sie verwendeten und verwenden, um ihre eigenen Gewaltphantasien durchzusetzen. Die Aufgabe, solche Aspekte der Rezeptionsgeschichte des Texts nachzuzeichnen, ist bisher nur ansatzweise bearbeitet. Gleichzeitig ist es gut, dass die faszinierende, großartige, aber auch gefährliche Apokalypse nur eine Stimme im biblischen Kanon darstellt und dass ihr andere Stimmen entgegenstehen, ja zum Teil widersprechen. Wichtig ist etwa, die in der Apokalypse fast vollständig fehlende Ethik der Liebe und des Blicks auch auf den Feind als Menschen, dem als Mensch zu begegnen ist, stärker zu betonen als dies in der Apokalypse der Fall ist. Doch nicht nur auf die Stimmen innerhalb des Kanons kommt es an, sondern auf die Stimmen verantwortungsvoller Leserinnen und Leser – unter ihnen Exeget:innen –, die sich bis heute der Aufgabe stellen, diesen Text in einer Weise sprechen zu lassen, dass er Leben ermöglicht und nicht zerstört.