Bezogen auf Universität und Wissenschaft, ist unter ‚Zensur‘ hierzulande im Kern jegliche Einschränkung der professionellen Selbstbestimmung des Professors/Wissenschaftlers zu verstehen. Diese professionelle Selbstbestimmung umfasst gemäß Art. 5 III GG nicht nur die Freiheit von Forschung und Lehre einschließlich der Redefreiheit, sondern auch die freiheitliche Selbstbestimmung der nichtmündlichen, also textlichen und bildlichen Publikation. Gebunden ist auch diese Selbstbestimmung allein an die Treue zur Verfassung. Darüberhinausgehende Denk- oder Äußerungsverbote sind ausdrücklich ausgeschlossen. Was juristisch noch einigermaßen einfach bestimmbar erscheinen mag, stellt sich universitäts- und wissenschaftsgeschichtlich jedoch ziemlich kompliziert dar.
Historischer Rückblick
Beginnen wir deshalb mit einer kurzen Rückschau. Um 1700 erkämpften sich meist jüngere Professoren an (protestantischen, in Sonderheit lutherischen) Universitäten vor allem des Philosophischen Fächerspektrums ein für die moderne Universität und Wissenschaft wegweisendes Recht. Das Recht nämlich, ungehindert und ungefragt Gegenstände (Ideen, Methoden, Autoren) in ihre Lehre, Forschung und Publikationstätigkeit einbeziehen zu dürfen, die dem kirchlich-staatlichen Establishment zwar suspekt oder gar gefährlich erschienen, aber die Herrschaftsordnung und deren tragende Säulen Ständegesellschaft, Religion und Moral nicht aufhoben. Gemeint waren damit Themen, die von nichtchristlichen (z. B. muslimischen), anderskonfessionellen – in diesem Fall also: katholischen sowie calvinistisch-reformierten – oder gar des Atheismus verdächtigen Urhebern stammten oder derartige Welten repräsentierten, konkret etwa Descartes, Spinoza bzw. der radikale Rationalismus überhaupt, aber auch etwa Machiavelli und der als atheistisch geltende Machiavellismus.
Begründet wurde der Anspruch der Neuerer erfolgreich mit dem Argument, dass nur derartige Wissenschaftsfreiheit objektive Erkenntnis, echten Erkenntnisfortschritt und Bestehen in der nationalen und internationalen akademischen Konkurrenz ermögliche. Woran man glaubte, war mithin die Existenz und Erkennbarkeit objektiver Wahrheit bzw. Realität, der man als Wissenschaftler gleich welcher Herkunft und Prägung per objektiver Wissenschaft bzw. Forschung sich anzunähern berufen sei. Zum Beispiel konnte die eigene Medizin nur attraktiv bleiben, wenn wie anderorts Leichensezierungen unbehindert möglich waren. Bibel und Glauben konnten nur überzeugend ausgelegt werden, wenn man die Auslegungen der Anderen kannte und diesen erforderlichenfalls argumentativ entgegentreten konnte.
An der philosophischen Debatte der Aufklärung konnte nur teilhaben, wer alle diesbezüglich relevanten Autoren und Texte mitbekommen, gelesen und verarbeitet hatte. Dass manche aufbegehrende Professoren dieser Phase, darunter der arrogante Christian Wolf, fest davon überzeugt waren, dass am Ende aus der freien kritischen Debatte auf ewig ihre eigene Lehre als Sieger hervorgehen würde, ist eine andere, hier nicht weiter auszuführende Geschichte.
Was Schritt für Schritt primär den Professoren und sekundär den akademisch Gebildeten im Allgemeinen zugestanden wurde, sollte jedoch mit Ausnahme einer kurzen Phase ungebremster Aufklärungseuphorie keineswegs für das breite Volk gelten. Denn dieses wurde bald wieder als trotz aller Aufklärungsbemühungen nur partiell einsichtsfähig, falschen Einflüssen unterliegend und daher erneut oder immer noch höchst betreuungs- und führungsbedürftig eingeschätzt.
Denk-, Meinungs- und Redefreiheit sollten deshalb wenn überhaupt immer nur in kleinen Dosen und volkspädagogisch geschickt verabreicht werden. Informationsunterdrückung und Kommunikationssteuerung, wie übrigens auch im Hinblick auf die Jesuiten und andere angeblich unbelehrbare Volksverderber, erschienen unverzichtbar. Deshalb beteiligten sich viele Professoren gutachterlich und in öffentlichen Stellungnahmen an der offenen oder stillen Vor- und Nachzensur des allgemeinen Bücher-, Zeitungs-, Zeitschriften- und damit Meinungsmarktes, und befürworteten sie keineswegs unbeschränkte Meinungs- oder Kommunikationsfreiheit.
Zudem fühlte sich das jeweilige Professorenestablishment zu Radikalkritik und damit zur Zensur auch im eigenen Bereich berufen – ein Aktivitätsbereich, dessen Erforschung bis heute hoch tabuisiert ist. Nämlich in Situationen, in denen subjektiv oder objektiv extreme Nutzungen des Privilegs der Wissenschaftsfreiheit durch einzelne Dozenten/Professoren entweder gravierend die jeweilige Fachkonfiguration (Hierarchie, Gruppenidentität (Konfession,‘Chemie‘), Comment, Paradigma) oder gar den durch den Staat garantierten Status von Fächern, Fakultäten und Universitäten bzw. Wissenschaft als Rationalitätsunternehmen insgesamt gefährdeten. Radikalkritiker oder Denunzianten des eigenen Professorenstandes mussten daran gehindert werden, ihre reputationsschädigenden Botschaften zu verbreiten. Unzüchtige Professoren hatten zu verschwinden. In jedem Fall war die eigene Universität vor Ansehensverlust zu schützen. Staats- und Fürstenkritiker mussten zum Schweigen gebracht werden.
Die Formen dieser oft genug zur Zensur gesteigerten Kritik waren zwar vielfältig. Sie liefen aber mehr oder weniger deutlich meist zumindest auf Disziplinierung, wenn nicht Marginalisierung oder sogar Exklusion dieser Dozenten/Professoren aus dem universitär-wissenschaftlichen Diskurs hinaus. Die wichtigsten Beispiele liefern bereits die politisch-kulturellen Auseinandersetzungen um 1848. Danach soll Preußens großer Kultuspolitiker Friedrich Althoff in einem berühmten Fall einen wohl letztlich geistig minderbemittelten, aber verwandtschaftlich-freundschaftlich gut vernetzten Dozenten nur unter der Maßgabe zum Professor berufen haben, dass er nie wieder etwas publiziere. Dass keine Katholiken wegen deren angeblicher Unterwerfung unter die Papstkirche berufen werden konnten und Juden nur mit Einschränkung, war für die protestantischen Herrschenden selbstverständlich.
Nach 1918 verhinderten nationalistische und konservativ-reaktionäre Professoren zumindest zeitweise das Aufkommen neuer Forschungsschwerpunkte und Spezialfächer, so etwa der Parteien- und Arbeitergeschichte oder der Soziologie, durch Gutachten, Denunziationen und Mobilisierung studentischer Helfer. Sozialdemokratisch und pazifistisch gesinnten Dozenten wie dem Mathematiker Emil Julius Gumbel und dem Theologen Günther Dehn wurden um 1930 durch eine Gemeinschaftsfront von Studenten und reaktionären Professoren Vorlesungen, breitenwirksame Publikationen und angemessene Karrieren unmöglich gemacht. Nur in ganz wenigen Fällen setzten sich republikanische Professoren sowie Kultus- bzw. Wissenschaftspolitiker umgekehrt gegen ihre radikalen Feinde auch mittels Zensurmaßnahmen, so der Verweigerung von Auftritten bei Universitätsfeierlichkeiten, zur Wehr.
Auf die Epoche 1933–45 brauchen wir vorliegend gar nicht einzugehen, obwohl bestimmte NS-Größen, darunter sogar Heinrich Himmler, spezifische, nämlich instrumentell verengte Ideen von Wissenschaftsfreiheit vertraten. Konkret, z. B. in der Wehrforschung war alles und jedes nur Nützliche zulässig. Nach 1945 versuchten Professoren viele ins Exil Gedrängte an der Rückkehr zu hindern und war man z. B. in der Debatte um den Reichstagsbrand Anfang 1933 eilfertig bereit, Beiträge, die die These von der Alleinschuld des Van der Lubbe vertraten, aus ‚volkspädagogischen Gründen‘ zu unterdrücken.
Ähnliches ergab sich zeitweilig in Hinsicht auf die Frage der Entfesselung des 1. Weltkrieges. Sie der Kaiserreichselite und damit ‚dem deutschen Volk‘ zuzuschreiben erschien manchen zumal im Zeichen des Kalten Krieges, in dem es unzweifelhaft erneut auf Geschlossenheit und den Wehrwillen ankam, nicht zumutbar. Um 1968 verschärften sich diese vor allem politisch bedingten Tendenzen bekanntermaßen. Und erstmals brach, wiewohl noch kaum analysiert, das Spannungsverhältnis bzw. der Gegensatz zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungsfreiheit dramatisch auf, nämlich im Zuge der mittlerweile sprichwörtlich gewordenen „Sprengung des Elfenbeinturms“: Der wissenschaftsfunktionale und akademisch-pädagogische, d. h. zwecks Heranbildung der Studenten zu wissenschaftlichen Persönlichkeiten gebildete Schutzraum der Universität, spätestens in der Humboldtschen Universitätsreform Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Punkt gebracht, wurde endgültig als problematisch, undemokratisch, als illegitimes Refugium einer arroganten Elite empfunden und denunziert. Auf Einzelheiten dieses historischen Vorgangs können wir vorliegend nicht eingehen. Festgehalten werden muss aber, dass ungeachtet dessen das seit dem 19. Jahrhundert etablierte Grundmuster, Wissenschaftsfreiheit unter Einschluss des Rechts auf fallweise auch zensorische Intervention als im Kern reserviert für die Professoren und etablierten Wissenschaftler, gleichwohl zunächst erhalten blieb.
Zur aktuellen Lage
Im 21. Jahrhundert – wir machen einen historischen Sprung – ist jedoch ein neues Phänomen hinzugetreten: die massive Infragestellung der professionellen Wissenschafts- und Zensurfreiheit nicht seitens des Staates, sondern aus der Universität selbst heraus, essentiell intensiviert, wie der Tendenz nach bereits 1968 und wie damals wesentlich befeuert durch US-amerikanische Entwicklungen, in Verknüpfung mit entsprechenden gesellschaftlichen Kräften. Als ursächlich dafür sind einerseits die fortschreitende Expansion, Enthierarchisierung und innere Differenzierung von Universität und Wissenschaft zu nennen.
Für jede aufkommende Frage oder Debatte scheint nicht mehr nur ein Fach, sondern scheinen viele Fächer und Spezialisten unterschiedlicher Fachzugehörigkeit und akademischer Position zuständig. Ein jüngstes Beispiel ist die wissenschaftliche und öffentliche Debatte um die Corona-Pandemie, an der nicht nur Virologen, sondern auch Mediziner, Medizinstatistiker, Soziologen, Ökonomen usw. beteiligt waren und sind. Der Chor der Professoren ist also auch dank der Fächer- und Stellenvermehrung höchst vielstimmig bis dissonant geworden und hat auch deshalb an Nachvollziehbarkeit und Überzeugungskraft verloren. Andererseits werden die meisten Fächer direkter und stärker denn je zuvor für gesellschaftlich-kulturell-politische Zwecke in den Dienst genommen: Sie sollen diese Zwecke legitimieren bzw. den rivalisierenden Gruppen im Kampf der Zwecke und Ziele jeweils Sukkurs verschaffen. Das Recht auf Wissenschaftsfreiheit bzw. wissenschaftliche Kritik- und im Extremfall Zensurlegitimität wird dabei nicht mehr ausschließlich oder hauptsächlich nur den fachlich-professionell voll ausgewiesenen und deshalb etablierten Professoren zugeschrieben.
Vielmehr kommt es – dieser Aspekt wird noch einmal aufzunehmen sein – nunmehr auch juristisch unterstützt jedem ‚ernsthaft Forschenden‘, in der juristischen Logik letztlich bis hinunter zum Schüler, zu. Und neben den geistig und praktisch ausschließlich an seiner Wissenschaft interessierten Fachvertreter ist endgültig der Agendawissenschaftler (Sandra Kostner) getreten, für den die gesellschaftlich-politisch-kulturelle Mission seines Faches am wichtigsten ist. Die mit Einführung der Politologie und anderer Sozialwissenschaften als Demokratisierungswissenschaften begonnene Tendenz hat also einen Höhepunkt erreicht.
Die Agendabestrebung hat allerdings auch mit dem Tatbestand zu tun, dass der Wahrheits- bzw. Realitätsbegriff selbst fragwürdig oder gar fragil geworden ist. Vereinfacht ausgedrückt haben uns erstens bestimmte Naturwissenschaften, voran Quantenphysik und Chaostheorie, gezeigt, dass Erkenntnis unmittelbar von den technischen Mittel der Erkenntnisgewinnung (Beobachtung) abhängt. Zweitens vertritt der Konstruktivismus seit längerem die Auffassung, dass als Erkenntnis letztlich immer nur gilt, worüber sich die jeweilige Wissenschaftler- bzw. Erkenntnisgewinnungscommunity einig ist. Drittens – und das ist in der gegebenen Radikalität neu – wird postuliert, dass Realitäts- bzw. Wahrheitserkenntnis von der soziokulturellen Lage und Identität bzw. Befindlichkeit des um Erkenntnis Bemühten abhänge. Im Protestantismus wurde lange behauptet, dass nur ein Lutheraner Luther und die Reformation wirklich erfassen und verstehen könne. Dann kam der Feminismus, der dasselbe Pseudoargument für die Erkenntnis des Frauseins und dann von Geschlecht überhaupt reklamierte. Nunmehr beanspruchen alle Minderheiten oder besser: die Sonderidentität beanspruchenden Agendagruppen, ausschließlich selbst ihre Realität erkennen und ggf. je spezifisch ‚selbst erforschend‘ zum Besseren ändern zu können.
Entsprechend wichtig ist die angesprochene Ausweitung des Kreises der zur Wissenschaftsfreiheit angeblich oder tatsächlich Qualifizierten bzw. der Wandel in dieser Qualifizierung. Wissenschaftsfreiheit und letztlich Zensurkompetenz werden jetzt quasi selbstverständlich auch von den mit den Professoren schärfer denn je um Entscheidungsmacht, Ressourcen und Reputation konkurrierenden subprofessoralen Gruppen beansprucht: Dozenten (hauptsächlich der sog. ‚Mittelbau‘), v.a. in den Medien arbeitende Voll- oder Teilabsolventen sowie selbst Studenten, obwohl deren akademische Qualifizierung, ihre Ertüchtigung zur wissenschaftlichen Erkenntnis statt Reproduktion bloßer Meinung, ja noch keineswegs abgeschlossen ist.
Der Anspruch dieser Gruppen stützt sich einerseits wie oben angedeutet auf angeblich bessere, d. h. auch sensiblere Wirklichkeitserfahrung und deshalb bessere Erkenntnis relevanter gesellschaftlich-kulturell-politischer Bedürfnisse und Notwendigkeiten, die den abgehobenen, fremden Talarträgern und deren Gefolge verloren gegangen seien, also auch auf Antiakademismus und überhaupt Elitenfeindschaft selbst im Bereich der allgemeinen Kultur bzw. von dieser allgemeinen Kultur her. Andererseits gründet er in der Selbstgewissheit, einer (durch NS, Atomforschung, Beteiligung an Rüstung, Menschen- und Tierversuche, Partizipation an der Umweltzerstörung, mangelnde Thematisierung von Sklaverei und Kolonialismus, Plagiate, sexuelle Übergriffe, Nepotismus usw.) moralisch-politisch diskreditierten, also defizitären oder zumindest verdächtigen (westlich-modernen) Universität und Wissenschaft universale Werte, also wahre Humanität, Menschenrechte, ökosoziale Verantwortung usw. beibringen zu müssen.
Dieses Sendungsbewusstsein wird von Fortschrittsüberzeugungen und/oder Endzeiterwartungen getragen: Erstens universalgeschichtliche zivilisatorische Erfüllung ist unvermeidlich, wer ihr entgegenzustehen scheint, ist unheilbar hinterher, hat schon verloren, trägt aber wesentliche Verhinderungsschuld. Zweitens: Wir sind die letzte Generation, die den Klimakollaps noch verhindern kann, entsprechend zählt alles andere nichts.
Im Horizont dieser Überzeugungen muss jede Gegenposition oder Kritik auf Unverständnis und Empörung stoßen. Wissenschaftsfreiheit und Zensurlegitimität sind damit aus ihrem herkömmlichen kognitiv-rationalen Kontext herausgelöst. Daher kann man sich den Argumentationsverpflichtungen des wissenschaftlichen Diskurses entziehen, und die gesamte Debatte wird moralisch-politisch umcodiert. Erstens sachlich bzw. sachthematisch: Zum Beispiel die naturwissenschaftlich-technischen Dimensionen der Erderhitzung und die Komplexität von deren Erforschung rücken an den Rand. In der derzeit stark beachteten Geschichte der Sklaverei wird fast ausschließlich die ‚europäische‘ oder ‚deutsche Schuld‘ herausgearbeitet und debattiert, während z. B. die afrikanische und arabische Sklaverei oder die noch immer unabgeschlossene Aufhebung der Sklaverei ausgehend von Europa bzw. dem Westen kaum zur Sprache kommen. Festzustellen, dass der Kolonialismus z. B. auch medizinisch Fortschritte brachte, grenzt bereits an Ketzerei.
Zweitens betrifft diese moralisch-politische Umcodierung die Art und Weise des Diskurses. Die nüchtern-abstrahierend-analytisch-objektivierende Wissenschaftssprache gilt als per se hart, typisch männlich-weiß-unsensibel brutal. Sie kränkt, verletzt, verachtet, unterdrückt, verunmöglicht Diversität. Nicht zufällig ist daher selbst die Mathematik in den USA in den Fokus dieser Kritik geraten. Auf Wissenschaftssprache zu bestehen bedeutet mithin die Menschenwürde, den Ausgleichsanspruch und das Förderrecht vulnerabler Gruppen zu beeinträchtigen.
Gleichzeitig müssen sich die Repräsentanten der Wissenschaft aber öffentlich (public shaming) zumindest ebenso verletzenden, in lebensweltlich-politisch-moralischen Kontexten entstandenen, deshalb in wissenschaftlich unscharfen und untauglichen Kategorien gefassten, in Universität und Wissenschaft hineintransportierten Vorwürfen stellen: Transphobie, Islamophobie, Rassismus, Faschismus, Sexismus, Antisemitismus usw. Zusammenfassend: Wissenschaftsfreiheit wird mit Meinungsfreiheit amalgamiert und diese in Bezug auf die Wissenschaftsfreiheit entgrenzte und übergeordnete Meinungsfreiheit wird politisch-moralisch-aktivistisch aufgeladen.
An dieser politisch-moralisch-aktivistischen Auseinandersetzung, die wie gesagt unweigerlich hoch emotional und damit weitgehend respektlos, unter Missachtung bürgerlichen Anstands und professionell-sachlicher Fairness geführt wird, kann wie bereits angesprochen ungeachtet seiner bzw. ihrer Qualifikation nicht nur jeder und jede scheinbar gleichberechtigt teilnehmen. Das macht nicht nur ein keineswegs unwichtiges zusätzliches Element ihrer Attraktivität aus, sondern vermittelt auch Selbstbewusstsein und Freude dadurch, die arroganten Wissenschaftler heftigst kritisieren zu können und zur moralischen Elite zu gehören. Schließlich legitimiert die eigene historische Mission auch trotz aller Sensibilitätsbeanspruchung scheinbar den Einsatz aller Mittel, einschließlich sämtlicher Varianten härtester persönlicher Kritik und eben von Zensur, die der eigenen Überzeugung zum Sieg verhelfen zu können scheinen.
Um welche Mittel es sich konkret handelt, ist nur teilweise neu, nämlich aus der tabuisierten universitätsexternen wie -internen Zensur sowie der Radikalkritik geschöpft, und wird aktuell vielfach öffentlich diskutiert, so dass wir es vorliegend bei einer abstrakteren Zusammenfassung und einigen wenigen Beispielen belassen können:
Erstens universitätsintern: Forderung nach Kennzeichnung bestimmter Behandlungsgegenstände und Lektüren durch Warnhinweise (Triggerwarnungen) als Vorstufe zu deren direktem oder indirektem Verbot; Verhinderung/Verweigerung der Behandlung oder Nichtbehandlung bestimmter Themen in Vorlesungen und Seminaren per Demonstrationen, Blockaden und (halb-)amtlichen Untersagungen (z. B. der Fall des Hirnforschers Peter Singer 1989 in Frankfurt a.M. und danach der Biologin Marie-Luise Vollbrecht an der HU Berlin); Verhinderung des Lehrbetriebs (Fall Bernd Lucke in Hamburg); Unterbindungen des Gastauftritts bestimmter Dozenten (das sog. No-platforming, z. B. der Fall Martin van Creveld 2011 in Trier); Ablehnung/Erzwingung bestimmter Lehr-, Debattenbeteiligungs- und Sprachkonventionen per Verweigerung oder direkter/indirekter Erpressung (der Gender-Komplex, darin die Fälle der Notenabwertung wegen Nichtgendern (d.i. Festhalten am generischen Maskulinum, Verweigern rechtschreibnormwidrigen Einsatzes von Sonderzeichen u.ä.) in Kassel und der Erzwingung von Gendern in politikwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen in Halle und Zürich; Auffassung, Anprangerung und Verdammung bestimmter Begriffe, Gesten und sonstiger Äußerungen als sog. Mikroaggression; Erzwingung/Verweigerung bestimmter Lehrliteratur (vgl. das bekannte Vorspiel 1968f. hinsichtlich der Lektüre von Karl Marx); Abhängigmachung von Qualifikationen/Einstellungen/Berufungen von außerwissenschaftlichen, aber agendapolitisch korrekten Kriterien (der höchst problematische Komplex der Minderheitenförderung; der Fall der Habilitation von Michael Grünstäudl (Bioinformatik; angeblicher Rechtsextremismus) in Berlin, der Fall Paul Cullen (Medizin; Abtreibungsgegnerschaft) in Münster); entsprechende Ergänzung eigentlich rein wissenschaftlicher Gutachten; entsprechende Eingriffe in die Drittmitteleinwerbetätigkeit von der Aufzwingung bestimmter Beteiligungen (Frauen, politisch korrekte Fächer) bis zur Erzwingung von Gendern im Antragstext; Steuerung der Publikationstätigkeit (Themen, Frequenz, Publikationsart und -ort) durch direkte Aufforderung oder indirekt über Finanzierungspolitik (Ausschluss bestimmter Publikationsorte durch Förderverweigerung); entsprechende Disziplinierung von Professoren/Dozenten/Studenten durch Aufnahme auf eine „Feindesliste“ (das REVERSE-Projekt in Marburg), Abmahnung (Fall Günther Roth (Sozialpolitik) Hochschule München), Unterstützungsverweigerung bzw. öffentliche Distanzierung bis Kündigung/Relegation usw. (der Fall Martin Wagener in Trier, Haar und Berlin); Forderung nach Einrichtung von Stellen für sog. Diversity Officers nach US-Vorbild, die an der Universität Diversität, Gleichstellung, Inklusion und Minderheitenförderung u. a. dadurch durchsetzen sollen, dass sie amtierende und sich bewerbende Wissenschaftler zu entsprechenden schriftlichen Verpflichtungserklärungen (diversity statements) zwingen wollen.
Zweitens universitätsextern: Einflussnahme auf Publikationstätigkeit durch öffentliche und nichtöffentliche Appelle an/Unterdrucksetzungen von Verlagen und Verlegern sowie entsprechende Rezensionspolitik wichtiger Zeitschriften und Zeitungen; daran anknüpfend Selbstzensur von Verlagen und Verlegern auch im Hinblick auf die Marktchancen; wie in den USA Forderung nach Verpflichtung der Autoren von Fachzeitschriften auf entsprechende Selbsterklärungen; negative Labelungen bestimmter Publikationsorte, Bevorzugung bestimmter anderer; sich abzeichnend Zensur auch wissenschaftlicher, nicht nur wie bisher literarisch-belletristischer Manuskripte per „sensitivity reading“ durch die Lektoren oder eigens bestellte Reader; entsprechende Auswahl bzw. Beteiligung an der Auswahl von „Experten“ in Print und Nichtprintmedien (Empfehlung eines aktivistischen Doktoranden an den öffentlichen Rundfunk); Steuerung der Berater- und Gutachterauswahl für staatliche und nichtstaatliche Belange und Instanzen unter Berücksichtigung des finanziellen Aspekts (keine öffentlichen Mittel für Herrn X oder Frau Y); entsprechende Beteiligung an der Auswahl politischen Personals, aktuell insbesondere von ‚Beauftragten‘ für bestimmte Sonderbereiche (z. B. Antirassismus- und Antidiskriminierungsbeauftragte seit 2022); entsprechende Einwirkung auf staatliche Förderpolitik (Stipendien, Projekte/Programme) bei Gleichstellung staatlich-parteipolitischer Forschungsförderung mit unabhängiger wissenschaftsautonomer Förderung (z. B. Hans-Böckler-Graduiertenkollegs mit DFG-Graduiertenkollegs); einseitig politisch korrekte und damit letztlich unwissenschaftliche Ergebniserarbeitung und -präsentation z. B. in der Migrationsforschung.
Bilanz
Im anglo-amerikanischen Universitäts- und Wissenschaftsbereich ist die skizzierte Entwicklung bereits weiter vorangeschritten. Denn dort gefährden zwei spezifische Elemente die Wissenschafts- und Zensurfreiheit noch stärker als hierzulande: einerseits die finanzielle Abhängigkeit von der öffentlichen Reputation bzw. gesellschaftlichen Nachfrage (student enrollment) v.a. der Privatuniversitäten. Andererseits, dass sich erneut der Staat (d. h. bestimmte politische Eliten) am Geschäft der Wissenschaftszensur zu beteiligen beginnt, wie erste Fälle (gesetzliche Verbote der Einrichtung bestimmter Studiengänge (Florida), der Beschaffung und Bereithaltung bestimmter Literatur in öffentlichen, auch Universitätsbibliotheken, Florida, Wyoming u. a., Untersagung der Einrichtung von Stellen für Diversity Officers und Installierung entsprechender Programme) belegen. Im Kontrast dazu lassen sich für den deutschen Bereich bisher eher nur einschlägige Appelle, Absichtserklärungen, Interventionsversuche und eine begrenzte Zahl konkreter, überwiegend aber gerichtlich gestoppter Fälle namhaft machen. Es steht indessen zu vermuten, dass die hier nicht behandelten Faktoren Bürokratismus und Managerialismus ebenfalls wichtige Bedrohungen darstellen. Entsprechend muss für hierzulande zumindest von einer relevanten Herausforderung der trotz gewisser Einschränkungen bewährten Wissenschafts- und Zensurfreiheit gesprochen werden.
In Summa: Verbotene Bücher wird es im universitär-wissenschaftlichen Raum hierzulande deshalb in Zukunft trotz aller oben angesprochenen Zensurversuche zwar kaum mehr geben. Dafür sorgen schon der plurale Markt, der alles und jedes anbieten wird, wenn nur eine entsprechend (noch) profitträchtige Nachfrage besteht, sowie nicht zuletzt das texttransportierende, nie vollständig kontrollierbare Internet. Doch die wissenschaftlichen Botschaften, die wir mündlich, im Druck oder im Bild mitbekommen müssen, um unsere Lebenswelt auch im Interesse unserer Nachkommen ökologisch verantwortungsvoll, zivilisatorisch angemessen und nachhaltig zu gestalten, stehen heute in der Gefahr, uns nur noch politisch-moralisch optimiert und damit realitätsselektiv, d. h. aber: zensiert zu erreichen. Was notwendig erscheint, ist damit die konsequente Wiederherstellung des freien wissenschaftlichen Diskurses der wissenschaftlich Qualifizierten und dessen deutliche Trennung vom öffentlichen Meinungsdiskurs. Dieses Bestreben als Wiederaufbau des Elfenbeinturmes oder gar Wiederherstellung der Ordinarienherrschaft anzuprangern wäre bereits wieder eine Denunziation.