Die Wiederbelebung des Vermächtnisses von Père Henri de Lubac SJ bringt einen guten Anteil an geschichtlicher Ironie mit sich. Schon vor seiner Ernennung zum Kardinal durch Papst Johannes Paul II. schrieb Papst Paul VI. in einem Brief, den er 1976 zum Anlass von de Lubacs achtzigstem Geburtstag verfasste, seine erstaunliche literarische Leistung hätte den Jesuitentheologen nicht ohne Wunden belassen. In den Worten des Papstes: “Diese Anstrengungen haben Sie harte Arbeit, Schmerz und manche Mühsal gekostet. Dabei war Ihre heilige und ehrfurchtgebietende Aufgabe stets, mit der äußersten Sorgfalt nach der Wahrheit zu suchen, den ehrwürdigen Schritten der Kirchenväter zu folgen und die etablierten Traditionen der Vorgänger anzunehmen (…) Die Gaben, die Sie in Ihrem Schreiben zur Wirkung gebracht haben und die Prinzipien, denen Sie gefolgt sind, machen die Quelle ihrer anhaltenden Frische aus.“
Sechsundzwanzig Jahre vor dieser schallenden Bestätigung, wurden die Worte Papst Pius´ XII. über „einige falschen Ansichten, die die Grundlagen der katholischen Lehre bedrohen“ von vielen Parteien so verstanden, dass sie die Schriften Père de Lubacs betrafen. Wir haben es hier mit einem kirchlichen Ereignis zu tun, das eine viel größere Bedeutung hat als eine einfache Umkehr des Schicksals. De Lubacs Zeugnis war nie einzigartig. Trotz seiner unübertrefflichen Gelehrtheit ging es ihm nie darum, ein theologischer Einzelgänger zu werden. De Lubac war in gewisser Weise der Wegweiser einer Generation von Theologen, die das ressourcement, das heißt, zurück zu den katholischen Quellen, der katholischen Tradition verfolgte. Jahrzehntelang blieb die Denkweise von de Lubac, Yves Congar, Marie-Dominique Chenu, Henri Bouillard, Jean Daniélou, Louis Bouyer, Hans Urs von Balthasar und Joseph Ratzinger einflussreich trotz verschiedener Kritik.
Heute begegnet jenes Erbe der Theologen, die mit der Zeitschrift Communio in Verbindung stehen, von zwei Seiten einem Widerstand. Einerseits erleben wir eine Wiederbelebung der Neuscholastik, die de Lubac ins Exil in seinem eigenen Jesuiten-Theologat zwang. Andererseits wird in manchen Bereichen der Kirche mit unterschiedlicher Vehemenz dafür argumentiert, dass die Sorge um die Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils „ohne Bruch“ überboten worden sei von den kürzlichen Enwicklungen der vergangenen fünf Jahre. Anstatt eine erneute Neuintegration der nouvelle théologie in die neuen und dringenden Ansprüche einer Weltkirche anzustreben, die bis an ihre Peripherien geht, läuft de Lubacs Zeugnis deshalb Gefahr, in Vergessenheit zu geraten, in einem allzu hastigem Vormarsch Richtung kirchlicher Utopie. Im Folgenden möchte ich eine mögliche Neuintegrierung des Communio-Erbes in die gegenwärtige Situation der Kirche und der Welt, in der wir uns befinden, skizzieren.
“Paradoxer Humanismus” – ein Biografie-Entwurf
Der frühere anglikanische Erzbischof von Canterbury Rowan Williams beschrieb Henri de Lubacs Zeugnis als einen „paradoxen Humanismus“. Das ist eine interessante Bezeichnung, denn sie ist überraschend treffend für de Lubac, aber nicht unbedingt für die gesamte Bewegung, die er vertrat. De Lubac setzt sich mit den Humanisten des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts auseinander, beispielsweise mit Nikolaus von Kues und Pico della Mirandola, aber seine Verpflichtung gegenüber diesem Erbe ist nicht sklavisch oder überhaupt einmal offensichtlich. Er strebt keine Imitierung ihrer Erkenntnisse an. Er schätzt sie hoch, weil sie Grenzen aufgesprengt haben von dem, was vielleicht noch immer gültig sein könnte als natürliche Offenbarung im Lichte von Christus´ einzigartiger Darstellungsform in der heiligen Schrift.
So findet sich sein Humanismus ebenso auch im Anstoß, den er der großzügigen aber prinzipientreuen Religionstheologie des Zweiten Vatikanischen Konzils gab. De Lubacs Humanismus ist paradox, nicht als Geringschätzung seiner Vernünftigkeit, sondern als Klassifikation eines literarischen Genres, welches mit der Definition der Person des Menschen als ein Rätsel der Existenz beginnt, der weder ein sich selbst genügendes pures Wesen ist, noch eine allgemeine religiöse Sehnsucht, die die Absorption im Absoluten erwartet. Das Zeugnis der Kirche in der modernen und zeitgenössischen Kultur stellt für de Lubac auch ein Paradox dar.
Es ist ein falscher Gegensatz, laut Henri de Lubac, wählen zu müssen zwischen der Annahme der buddhistischen Herausforderung in Südwestasien und der Vermittlung des Dynamismus des Evangeliums an die nächste Generation von Katholiken, die es von Geburt an sind. Beide Aufgaben verlangen unsere gesamte Aufmerksamkeit und die überaus herausfordernde Bifokalität der Aufgabe wird nie gelöst werden durch eine zeitgenössische Globalethik mit einem einzigen Blickwinkel, die den Reichtum des christlichen Erbes in der Vergangenheit ignoriert.
Wie können wir Père de Lubacs zahlreiche Errungenschaften zusammenfassen?
Folgen wir der Zusammenfassung von de Lubacs Leben in dem schönen Buch von Bischof Voderholzer, Henri de Lubac begegnen, das in der Reihe Zeugen des Glaubens erschienen ist. Henri de Lubac wurde 1896 in Cambrai in Nordfrankreich geboren. Er trat der Gesellschaft Jesu1913 bei und verbrachte sein Noviziat in St. Leonhards-on-Sea in England. Nach seinem Militärdienst, im Zuge dessen er eine Kopfverletzung erlitt, betrieb er von 1920 bis 1923 humanistische Studien im englischen Canterbury und dann widmete er sich in Jersey der Philosophie (1924-26). In den späten 1920er Jahren schließlich studierte er Theologie in Hastings und dann in Lyons-Fourvière in Frankreich.
1927 wurde er zum Priester geweiht und legte seine feierliche Profess als Jesuit 1931 ab. 1934 wurde er nach Lyons-Fourvière versetzt und nahm 1938 dort eine Stelle als Professor für Fundamentaltheologie an. Die Veröffentlichung von Catholicisme im darauffolgenden Jahr kam einem Paukenschlag gleich. Ich würde meinen, dieser Band und Romano Guardinis Der Herr sind die beiden einflussreichsten Werke der katholischen systematischen Theologie der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.
Von 1940 bis 1944 war de Lubac am intellektuellen Widerstand gegen das nationalsozialistische Besatzungsregime beteiligt. Er gründete 1941 die Reihe Sources chrétiennes und es erschienen zwei wichtige Werke im Jahr 1944: Corpus mysticum und Le Drame de l’humanisme athée. 1946 veröffentlichte de Lubac dann Surnaturel, was zur Verdächtigung führte, er könne Anhänger der nouvelle théologie zu sein. Sein Werk von 1950, L’Histoire et Esprit: L’intelligence de l’Écriture d’après Origène, ist in Wahrheit vielschichtig. Denn da beginnt de Lubac einen Bericht von der spirituellen Exegese entlang einer detaillierten Untersuchung von Origenes´ hermeneutischer Theorie und Praxis. Im Juni desselben Jahres wurde ihm von seinen Ordensoberen das Lehren und Publizieren verboten und sie versetzten ihn von Lyons in das Jesuitenhaus in Paris, in der Rue de Sèvres.
Im August 1950 veröffentlichte Papst Pius XII. dann die Enzyklika Humani generis. Infolge des de facto Publikationsverbot im Bereich der katholischen Theologie entwickelte de Lubac Aktivitäten und erwarb Fachkenntnisse in neuen Bereichen, wie sein zwischen 1951 und 1955 verfasstes Werk über den Buddhismus beweist. Er kehrte 1953 nach Lyons zurück und veröffentlichte in den darauffolgenden paar Jahren sein Werk Méditation sur l´Église, während er auch die ersten Forschungen für sein mehrbändiges Exégèse médiévale anstellte. 1958 wurden ihm die Lehre und die Veröffentlichung theologischer Werke wieder gestattet und er kehrte 1960 nach Lyons-Fourvière zurück.
Für seinen Dienst für die Kirche ist De Lubac homo ecclesiasticus genannt worden. Er wurde eingeladen, in der theologischen Vorbereitungskommission für das Zweite Vatikanische Konzil mitzuarbeiten und wurde beim Konzil von 1962 bis 1965 auch zum Theologieexperten (peritus) ernannt. Von 1969 bis 1974 wirkte er schließlich als Mitglied der Internationalen Theologischen Kommission. Papst Johannes Paul II. ernannte ihn am 2. Februar 1983 zum Kardinal.
Nach der Schließung des Jesuitenseminars in Lyons-Fourvière zog de Lubac nach Paris. Von 1979 bis 1981 machte er Fortschritte an seiner Arbeit über die Theologie der Geschichte und veröffentlichte La postérité spirituelle de Joachim de Fiore. Seine letzten Jahre waren für unsere Erinnerung an sein Zeugnis wichtig, denn er veröffentlichte Résistance chrétienne à l’antisémitisme: Souvenirs 1940-1944 und Mémoire sur l’occasion de mes écrits. 1991 erlitt Henri de Lubac im Alter von 95 Jahren einen Schlaganfall, in Folge dessen er nicht mehr sprechen konnte und starb am 4. September desselben Jahres in der Pflege der Kongregation der kleinen Schwestern der Armen in Paris.
In dieser Flut literarischer Produktivität müssen zwei Fäden betont werden. Erstens, erstreckte sich sein Zeugnis von der Kirche zur Akademie und zurück, beschränkte sich jedoch nie auf die Glaubenserfahrung des Einzelnen. Zweitens, da wir jetzt dabei sind, uns einzelnen Motiven zuzuwenden, müssen wir auch die etwas rätselhafte Einheit zwischen seinem Leben und seinem Werk bedenken. Auf den ersten Blick, könnte das Werk einen zerstreuten Eindruck machen, trotz (oder gerade wegen) der produktiven Tätigkeit des Autors. Was Hans Gadamer als die Logik von Frage und Antwort bezeichnet, wird bereits in einem kirchlichen Ton im Zeugnis des Père de Lubac unter Beweis gestellt.
Dementsprechend ließ Henri de Lubac nur ein paar Werke der systematischen Theologie als solche zurück, keine große Trilogie wie Hans Urs von Balthasar und keine geistlichen Meisterwerke für den öffentlichen Massenkonsum wie Romano Guardini es tat. Trotzdem erntete er vom Weinberg der Tradition eine fruchtbare Vision des mystischen Leibes Christi, die nicht nur eine Artikulation von katholischer Einheit ermöglicht, sondern die den kirchlich gestimmten Leser dazu zwingt, καθόλου (das Gesamte) oder die Vollständigkeit des privaten und öffentlichen Lebens des Gläubigen zu einer brennenden Frage zu machen, die inmitten der Probleme und Herausforderungen von heute glaubhaft wirkt.
Das Mysterium des Übernatürlichen
Die erste übergreifende Thematik ist die Frage von Natur und Gnade. Während ich spezifische und übergreifende Motive in Betracht ziehe, werde ich in jedem einzelnen Fall einen Gesprächspartner aus unserer Zeit ansprechen, der die Voraussetzungen von de Lubacs Vorschlag in Frage stellt oder sich mit ihm auseinandersetzt. Auf diese Weise wäre es möglich, die Neuartigkeit und Zeitlosigkeit jenes Projektes, das vor einem Jahrhundert begann, aus den Archiven vergangener theologischer Bitterkeit zu Tage fördern zu können, sodass es heute mit neuer Kraft zu uns sprechen kann.
In diesem Fall betrachten wir zuerst die Erwiderung auf de Lubacs Position, die in den letzten Jahren von Lawrence Feingold and Stephen A. Long unternommen worden ist. Diese Kritiker stellen Überlegungen zum mittelalterlichen Erbe an, in vollem Bewusstsein darüber, dass der moderne Naturbegriff zutiefst dürftig geworden ist und dringend einer Rehabilitierung bedarf. Sie meinen, de Lubac fertige die Thomistische Lehre von der reinen Natur zu schnell ab, aber wenn die menschliche Natur selbst zum Übernatürlichen tendiere, dann wäre die unentgeltliche Natur der Gnade kompromittiert.
In der Tat gibt es drei Arten, in der diese Frage jüngst in der Literatur diskutiert worden ist: im Sinne der Treue zu den eigentlichen Schriften des Heiligen Thomas, im Sinne der historischen Genese und der bleibenden Gültigkeit einer Tradition, die ihre Wurzeln bei Kajetan, Johannes von St. Thomas und Francisco Suarez hat, dessen Verteidigung jetzt als „Thomismus von der strengeren Observanz“ angegriffen wird, und schließlich, im Sinne der philosophischen Voraussetzungen dieser Debatte, wie sie sich auf die Gegenwart bezieht.
Es ist klar, dass de Lubac alle drei Fronten verteidigte und es gerne gesehen hätte, an allen drei Fronten verteidigt zu werden. Ich möchte nur kurz die ersten beiden Problematiken ansprechen und dann schnell zur dritten übergehen. Im Anhang zu Surnaturel stellte de Lubac eine Verteidiung seiner Position auf, wie sie sich sowohl auf Thomas von Aquin als auch auf das Zweite Vatikanische Konzil bezog. Dort legte er die Hauptkonturen seines augustinischen Thomismus aus, eines Thomismus, der in der Summa theologiae und in anderen Schriften vom Heiligen Thomas wurzelt und aus ihnen reichlich Atem schöpft.
De Lubac wusste, dass für den heiligen Thomas übernatürliche Seligkeit nicht Teil der Natur, sondern das Ziel der Natur ist. Wie David Schindler, Aaron Riches und andere gezeigt haben, beschreiben die Neuthomisten die Auffassung vom Paradox der menschlichen Person basierend auf diesem Augustinischen Thomismus. Schindler schreibt: De Lubac fasst die Bedeutung dieser These markant zusammen indem er darauf besteht, dass wir nicht nur zu unserer eigenen Seligkeit erschaffen sind, sondern auch zur Verherrlichung des Gottes der Gnade und der Liebe. Daher das Paradox von der menschlichen Person, für den „Seligkeit Dienst ist, Vision Anbetung, Freiheit Abhängigkeit und Besitz Ekstase.“ Wenn jemand also unser übernatürliches Ziel als Besitz, Freiheit, Vision und Seligkeit definiert, dann definiert er nur einen Aspekt – der tatsächlich anthropozentrisch bleibt.
De Lubac mag die Bedeutung von natura pura bei Thomas von Aquin herunterspielen, was auch sein Freund Hans Urs von Balthasar in seinem Buch über Barth anführt, aber er stellt die Thomistische Vorstellung von der Gott zugewandten Person nicht falsch dar. Theozentrismus und Anthropozentrismus nähern sich beim Heiligen Thomas einander an und de Lubac besitzt die Weisheit, diese Erkenntnis auszunützen und in einen neuen Betrachtungsbereich zu erweitern.
Meine eigentliche Sorge über die zeitgenössischen Neuthomisten hat mit ihrer Blindheit gegenüber dem echten und nachhaltigen Problem des modernen Säkularismus zu tun.
Dieser Kommentar nähert sich der eigentlichen historischen Debatte von der Seite, ist aber eigentlich von bedeutender Relevanz in einem Zeitalter, da junge Leute entzückt sind vom „moralistischen, therapeutischen Deismus“, um den Soziologen Christian Smith zu zitieren. In seinem Beitrag zu dieser Debatte sagt Louis Dupré, das natürliche Verlangen, Gott nach seiner Essenz zu sehen, käme aus dem Scholastizismus des 13. Jahrhunderts, müsse aber in eine Möglichkeit umgewandelt werden, in einem säkularen Zeitalter einen transzendenten Horizont alles endlichen Wissens und Liebens anzuerkennen.
Der heilige Thomas von Aquin, so Dupré, erbte von Aristoteles die Vorstellung, dass dem Geist nach dem Grund seines Seins verlange, kraft irgendeiner Verwandtschaft, die den suchenden Intellekt mit seinem Ursprung verbinde. Für Dupré bezeichnet die Verurteilung von 1270 die Wende, bei der die Lösung des philosophischen Problems dem Glauben zugeschrieben wird und die Dynamiken des suchenden Intellekts verdrängt werden von den Wechselhaftigkeiten eines nominalistischen Gottes.
Sogar Henri de Lubacs Rekonstruktion der ursprünglichen Meinung des heiligen Thomas, mit minimalem Rekurs auf die These einer historischen, reinen Natur, ist laut Dupré immer noch nicht imstande, adäquat auf jene Ansicht von beispielsweise zeitgenössischen Philosophen zu reagieren, die die Annahme in Frage stellt, der Intellekt besitze eine vorausgesetzte Erkenntnis Gottes, unabhängig von den Gegebenheiten der eigentlichen Erfahrung. Nikolaus von Kues vertrat die entgegengesetzte Meinung in seinem Dialog von 1450 Der Laie über die Weisheit, nämlich, dass Gott die praesuppositio absoluta alles Denkens und Infrage-Stellens sei.
Von Kues und Dupré gehen weiter als de Lubac, aber ihre Fragen haben grundsätzlich mit der Herausbildung des Zwei-Stockwerke-Schemas der natürlichen und übernatürlichen Theologie zu tun. Rahner und de Lubac kritisierten dieses Schema unter anderem weil es keinen Platz lässt für die Dynamiken des spirituellen Lebens im menschlichen Herzen. Weiters, wie Dupré anmerkt, verabsäumt es nachzudenken über die zukünftige Trennung zwischen dem Denken über Gott als ein Urproblem der menschlichen Existenz und dem Glauben an Gott als eine reale Gegebenheit des Glaubens, was eine viel größere Gefahr im Glaubenslebens darstellt als de Lubac oder Rahner es sich jemals vorgestellt hatten.
Die Einheit der heiligen Schrift und die Relevanz der Tradition
Ich würde gerne meine Betrachtung der Einheit der heiligen Schrift und ihrer Beziehung zur Tradition nach de Lubac beginnen, indem ich an ein scheinbar unwichtiges Detail hinsichtlich einer englischen Übersetzung seines Werkes erinnere. Das Werk wurde 1968 von Herder und Herder mit dem Titel The Sources of Revelation veröffentlicht, obwohl es ursprünglich 1966 in Frankreich als L´Écriture dans la Tradition erschienen war. Dieser letztere Band ist eine verkürzte Fassung des mehrbändigen Exégèse médiévale: les quatre sens de l’Écriture. De Lubac war über die Fehlübersetzung des ursprünglichen Titels verärgert, denn er widerlegte quasi den Beitrag, den er im Entwurf von Dei Verbum zum Zweiten Vatikanischen Konzil zu machen versuchte.
Als das Werk im Jahr 2000 wieder auf Englisch veröffentlicht wurde, konnte ich bei den Herausgebern bei Crossroad erreichen, wieder den ursprünglichen Titel einzusetzen. So druckten wir das Buch neu als Scripture in the Tradition, statt dem irreführenden Titel Sources of Revelation, der ja einen Widerspruch zwischen der heiligen Schrift und der Tradition als separate Quellen des Wissens über Gott impliziert hätte.
Der Punkt in diesem Stück Redaktionsgeschichte spricht den Mittelpunkt von de Lubacs Vision von der Beziehung zwischen der heiligen Schrift und der Tradition an. Während manche Interpreten des tridentinischen Erbes den partim … partim Zugang zur heiligen Schrift und zur Tradition befürworteten, sah de Lubac die Wurzel beider im Wort Gottes, womit er eine ganzheitliche Theologie des Wortes wiederaufbereitete, die er von Origenes und dem modernen französischen Philosophen Maurice Blondel geerbt hatte. Aufbauend auf einer Studie über Léonce de Grandmaison SJ, die de Lubac in seiner Jugendzeit gemacht hatte, entwickelte er einen christozentrischen Zugang zur Erfahrung von göttlicher Offenbarung.
De Lubac konzentriert sich meist entweder auf die fait du Christ oder sonst auf die l´acte du Christ. Beide Ausdrücke sind am besten, wie Bischof Voderholzer selbst anmerkt, als „Christus-Ereignis“ zu übersetzen. Christus ist dieses Ereignis in der Geschichte, noch bevor wir seinen Worten im Zeugnis der heiligen Schrift und in den Lehren der Kirche begegnen. Dieses Ereignis umfasst sowohl das geistliche Amt, das er ausführte, als auch sein österliches Geheimnis und die Entsendung des heiligen Geistes in die Kirche und in die Welt. Jesus vermittelt eschatologisch die Nachricht vom Königreich in seiner eigenen Person, was ein konzeptuelles Rahmenwerk der Offenbarung seiner selbst ist, das Origenes schön festgehalten hat mit dem Ausdruck auto-basileia, das Königreich Gottes in [einer] Person.
Das Konzilsdokument Dei Verbum wiederholte in einem neuen Ton diese Lehre des Origenes, da die Konstitution besagt, „Jesus Christus (…) ist selbst sowohl Mediator als auch die Gesamtheit der Offenbarung.“ Was wir in dem Ereignis erfahren, ist persönlich und einzigartig. Kein geschichtlicher Notfall steht über dieser Offenlegung oder bietet eine unabhängige Bestätigung ihrer Wahrhaftigkeit. In Matthäus 13,52 steht: „Jeder Schriftgelehrte also, der ein Jünger des Himmelreichs geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem reichen Vorrat Neues und Altes hervorholt.“ Demgemäß spricht de Lubac in vielen verschiedenen Zusammenhängen von la nouveauté de l’existence chrétienne. Angesichts der persönlichen Offenlegung des Königreichs Gottes in der Person Jesu Christi ist uns eine Einladung gegeben, uns in der Beziehung zu Gott und zu underen Mitmenschen zu erneuern. Dies ist die radikale Neuheit, die Christus in der Welt einläutet.
Die Zweiteilung von Geschichte und Geist ist heute der Bibelexegese in der katholischen Kirche nicht fremd. 1988 hielt Joseph Ratzinger einen Vortrag in New York City mit dem Titel Biblische Interpretation in der Krise, in der er sagte: „Die wissenschaftliche Suche nach einer besseren Synthese zwischen historischen und theologischen Methoden, zwischen höherer Kritik und Kirchenlehre, ist wohl kaum ein neues Phänomen. Das ist ersichtlich in der Tatsache, dass kaum jemand heute meinen würde, ein wahrlich durchdringendes Verständnis dieses ganzen Problems sei gefunden worden, das die unbestreitbaren Erkenntnisse, die die historische Methode enthüllt hat, in Betracht zieht, während es gleichzeitig seine Einschränkungen überwindet und sie in einer umfassend relevanten Hermeneutik offenlegt. Es bedarf mindestens der Arbeit einer ganzen Generation um so etwas zu leisten.“
Henri de Lubacs Arbeit hat es der neuen Generation von Theologen ermöglicht, die Aufgabe der richtigen und bedachten Integration der historisch-kritischen Methode in eine systematische Theologie der Offenbarung aufzunehmen. Neben Bischof Voderholzer haben sowohl Robert Wilken als auch Kevin Hughes in den Vereinigten Staaten die Relevanz von de Lubacs Interpretation für die Lesart der Schrift in der heutigen Kirche angesprochen. Wilken bestätigt, dass de Lubacs historische Widerbelebung nicht darauf abzielt, die moderne Methode abzuweisen, sondern auf das Vakuum hinzuweisen, das sich in der Theologie und in der Kirche ergeben würde, wenn die biblischen Theologie von historisch-kritischen Studien der Bibel ersetzt werden würde.
Hughes merkt an, dass das Buch über Origenes eine Interpretationsabsicht vertritt, obwohl es klar anerkennt, dass es in Origenes eine Überbetonung eines Platon´schen Erbes gibt, empfangen über Philo, und das Überbetonung einer etwas verdächtigen und ebenso Platonischen Dichotomie zwischen Wahrnehmung und Wissen. Anstatt den vierfachen Schriftsinn (geistlich, wörtlich, tropologisch und anagogisch) wiederherzustellen, der vom lateinischen Westen Origenes zugeschrieben worden war, lobt de Lubac ein Muster in Origines´ Einheit von Geist und Geschichte, „die den Leser dazu einlädt, durch immer tiefere Interpretation verwandelt zu werden.“
Der Einfluss von Paul Claudels literarischer Interpretation des spirituellen Sinns der heiligen Schrift und von Blondels existentieller Terminologie, die de Lubac wiederum wieder in die Kirchenväter hineinlas, ist unverkennbar. Auf Maximus Confessors Interpretation der Doktrin verweisend, nachdem „das Wort, das für uns und mittels dessen, was wir sind, Fleisch geworden ist um bei uns zu sein und verdickt wurde“, sieht de Lubac die Inkarnation nicht nur als einen isolierten Punkt in der Geschichte, sondern als Zentrum, das einen neuen Modus die Realität selbst zu verstehen, in sich versammelt. De Lubacs allgemeine Strategie ist demgemäß eine sakramentale Einheit in der antiken und mittelalterlichen Praxis der Bibel zu erkennen und hervorzuheben; eine Einheit, die in der Neuzeit mit dem Aufkommen einer ausschließlich historisch-kritischen Methode verloren gegangen ist und daher unser Vermögen, die Realität zu sehen, an sich ausdünnt.
Dieser Zugang zum Schriftverständnis im Lichte des Zeugnisses und der Weisheit der Kirche öffnet auch eine Tür zur ökumenischen Betrachtung, wie der zeitgenössische protestantische Denker Hans Boersma es gezeigt hat. Boersma besteht darauf, dass De Lubac dem modernen Intellektualismus des neuthomistischen Etablissements entgegentrete und zeigt, wie die Vertreter der nouvelle théologie davon überzeugt waren, das sein ressourcement von den Kirchenvätern und der mittelalterlichen Theologie eine sakramentale Reintegration von Natur und Übernatürlichem kennzeichnen würde. Im Zusammenhang mit dem Verlust, den sowohl Katholiken und Protestanten durch die Desakramentalisierung der Moderne erlitten haben, zeigt Boersma, auf welche Weise die von ihm so genannte „sakramentale Ontologie“ der nouvelle théologie einen soliden Zugang bietet in das ökumenische Denken über die Beziehung zwischen der Schrift und der Tradition.
Der Mystische Leib und die Einheit der menschlichen Geschlechts
Die Theologie des mystischen Leibes Christi spielt eine besondere Rolle in Henri de Lubacs kirchlicher Vision und beginnt sich schon 1947, im ersten Kapitel von Katholizismus zu entfalten. Von diesem Ausgangspunkt aus können wir am besten sein Engagement im sozialen und politischen Leben verstehen, sowie seine neuen Ideen zu einem zentrifugalen Verständnis der Bewegung des ekklesiastischen Menschen von der verwundeten Seite Christi zum Herzen der Welt.
Um es zusammenzufassen: Die Einheit des menschlichen Geschlechts wird zum ersten Mal offengelegt in Adam und das gemeinsame Schicksal der Menschheit wird sichergestellt und zur Erfüllung gebracht durch Christus als der neue Adam. Galater 6,15 und II Korinther 5,17 zitierend, stellt de Lubac Paulus‘ „neues Geschöpf“, das man geworden ist, indem man den neuen Menschen Christus anzieht, ganz in das Zentrum seiner Vision von der kirchlichen und sozialen Erneuerung. Die Verwandlung, die in Christus stattfindet, geschieht nie einfach für die spirituelle Erhöhung des Individuums als solches.
Der Zweite Weltkrieg hatte nur zwei Jahre bevor de Lubac Catholicisme veröffentlichte, geendet, und der Untertitel des Werks ist Les aspects sociaux du dogme. Das Vorhaben war ambitioniert in dem Sinne, dass es eine neue Ordnung bot, sowohl für die katholische Erfahrung des Glaubens als auch für die radikale Abhängigkeit von einer Offenheit gegenüber Gottes Werk in der Geschichte. Das neue Geschöpf ist „ein Meisterwerk des Geistes Gottes.“ In de Lubacs eigenen vielsagenden Worten: „Sein Wirkungsbereich bleibt Gottes Geheimnis.“
Als Schüler der spirituellen Nachkommenschaft von Joachim von Fiore war de Lubac zutiefst gewöhnt an die Transposition einer übertriebenen radikalen Eschatologie vom späten Mittelalter auf moderne säkulare Ideologien. Dieser Transpositionsprozess der polaren Antinomien der Vergangenheit auf die neuen Bemühungen um eine Identität, denen die Kirche in der zeitgenössischen Welt begegnete, wurden zum Kennzeichen von de Lubacs Interpretation von Geschichte und Politik. Zum Beispiel spricht er von der elitären Qualität des modernen Gnostizismus, der die spirituelle Interpretation der Realität von der körperlichen und sakramentalen trennt.
Was des Weiteren genauso bezeichnend für diesen Zugang war, war de Lubacs Überzeugung, dass Marcions Predigten im zweiten Jahrhundert darüber, dass der Gott, der Jesus in die Welt gesandt hatte, ein anderer, höherer Gott sei als der Schöpfgott des Judentums, in den modernen Marcionismen ihren Nachklang fanden. Die Verfolgung der Juden durch die Nationalsozialisten und deren Sympathisanten im Vichy Regime in Frankreich nahm seinen Ursprung in diesem Fehler, die unverzichtbare Verbindung zwischen dem Alten und dem Neuen Bund zu verstehen. Aus diesem Grund galt de Lubacs Aufmerksamkeit in den 1940ern ebenso der Publikation der Werke der Kirchenväter in der neuen Sources chrétiennes Reihe, wie dem Entkommen von der Gestapo.
„Ohne Rücksicht auf seine sozialen und zeitlichen Konsequenzen ist das spirituelle Leben verzerrt“, schreibt de Lubac. Vieles ist bereits geschrieben worden von de Lubacs Engagement in der Politik und in jenem Milieu, das in seinen frühen Jahren eine neue Form des sozialen Katholizismus nährte. Für de Lubac ist die Kirche eine wesentliche polare Realität, die, in den Worten von Susan K. Wood, „die soziale Verkörperlichung der Gnade“ begründet. De Lubac war überzeugt, dass die Kirche keine besondere normative Macht besitzt, im gegenwärtigen Zeitalter unmittelbare Gerichtsbarkeit in zeitlichen Angelegenheiten zu beanspruchen, aber er war ebenso überzeugt von der paradoxen Notwendigkeit, zu versuchen, die sozialen Aspekte des Dogmas in konkreten Bedürfnissen der Geschichte konkret umzusetzen. Seine neu-augustinischen Bedenken zur Ausübung von unmittelbarer politischen Autorität können manchmal verwirrend wirken, aber er hofft dabei auch, die Anforderungen zur Realisierung des Reiches Gottes durch das Hier und Jetzt des christlichen Lebens umzusetzen, wie auch durch die kritische Auseinandersetzung mit den politischen Notwendigkeiten der Gegenwart.
Seine Zusammenarbeit mit Gaston Fessard an der Edition der Cahiers du témoignage chrétien verdient besondere Erwähnung in dieser Hinsicht. Diese Zeitschrift wurde 1941 am Jesuitischen Scholastikat in Lyons gegründet, während der deutschen Besetzung Frankreichs. De Lubac schrieb bereits 1942 gegen den Antisemitismus und die Einstellung sowohl de Lubacs als auch der Zeitschrift gegen den Nationalsozialismus war ebenso entschieden. Interessanterweise war de Lubac Neu-Augustinianer, während Fessard Hegel studierte. Beide Theologien besaßen ein umfassendes Wissen über die Philosophie des Karl Marx und darüber, wie man zwischen Marx´ säkularen Humanismus und dem Christentum unterschied.
Ihre Standpunkte zum Kommunismus wiesen jedoch einen interessanten Unterschied auf. Wie Joseph Flipper anmerkt, glaubte de Lubac, die sozialen Bestreben der Kommunisten wären bereits im Christentum bestätigt. Fessard hingegen setzte den impliziten Hegelianismus des kommunistischen Traums von einer Weltordnung mit jenem der nationalsozialistischen Hegemonie durch die Erhöhung einer bestimmten Rasse gleich. De Lubacs etwas traditionelleres Rahmenwerk für die Bewertung von sozialen Anliegen führte ironischerweise zu einer großzügigeren Antwort auf säkulare humanistische Artikulationen des Gemeinwohls. Das soll nicht bedeuten, dass de Lubac die Verurteilung des kommunistischen Atheismus oder des nationalsozialistischen Rassismus auf die leichte Schulter nahm. Seine Einstellung war ebenso gekennzeichnet von einer festen Überzeugung von der Existenz der sozialen Sünde in seinem Umfeld, als auch von der Notwendigkeit einer umsetzbaren Hermeneutik der Liebe.
Die Kirche, Israel und die Weltreligionen
De Lubac war in mancher Hinsicht ein Pionier dessen, was wir heute katholische Religionstheologie nennen, aber ich werde mich hier nur auf seine Schriften über Judentum und Buddhismus konzentrieren. Er lebte im Jesuiten-Scholastikat in Lyons und hatte den Lehrstuhl für Fundementaltheologie an der katholisch-theologischen Fakultät inne. Als diese Fakultät von Marschall Pétain 1940 im Zuge der Politik des Vichy-Regimes geschlossen wurde, verstärkte er seine Studien der religiösen Ursprünge und der Beziehung zwischen dem Christentum und anderen Religionen. Generell vertrat de Lubac nicht die Ansicht, alle religiösen Erscheinungen wären gleich gesegnet, aber er betrachtete das Heil von Nicht-Christen von einem positiven und nuancenreichen Blickpunkt aus.
Er bezeichnete die Beziehung zwischen Christentum und Judentum als einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Das Judentum, so Lubac, habe an das Christentum das Konzept des Seelenheils als wesentlichen sozialen Faktor weitergegeben. De Lubac war der Ansicht, die Erweiterung der Anzahl der Gläubigen in der Welt über die Grenzen der jüdischen Kultur hinaus sei das Verdienst eben dieser Völker, das Konzept einer Kirche aber käme jedoch eindeutig von den Juden. Die Liebe, die Gott im Bund mit Israel ausdrückt, ist daher die Grundlage des Kirchenkonzeptes. Der Plan, den das Zweite Vatikanische Konzil bestätigte, nach dem die Kirche als Volk Gottes existiert, ist daher den Wurzeln des katholischen Verständnisses des kirchlichen Daseins zu verdanken, als „Israel-verwandte Ansicht von der Kirche“, um den amerikanischen protestantischen Theologen George Lindbeck zu zitieren. Die Auseinandersetzung mit anderen Religionen muss daher mit einem Bewusstsein von Gottes Rettungsangebot an die Juden beginnen.
Wie steht es mit anderen Religionen, außer dem Judentum? De Lubac schreibt in Catholicisme: Alle Gnade ist gratia gratis data (frei gegebene Gnade), das heißt, im älteren Sinne des Ausdrucks, um anderer Willen. Die Gnade des Katholizismus wurde uns nicht allein unseretwillen gegeben, sondern um den Willen derjeniger, die sie nicht besitzen, genauso wie die Gnade des kontemplativen Lebens — wie das der heiligen Teresa — auserwählten Seelen zum Nutzen derjeniger geschenkt wird, die die Bemühungen des aktiven Lebens unternehmen werden.
In diesem Sinne verteidigte de Lubac die Möglichkeit eines anonymen Christen, aber nicht die Hypothese eines anonymen Christentums, wie es Karl Rahner in seiner transzendentalen Christologie formulierte. In diesem Punkt stimmte ihm Hans Urs von Balthasar zu. Sein Interesse am Mystizismus in der christlichen Tradition führte ihn beispielsweise dazu, den Zen-Buddhismus wertzuschätzen, den er nicht für religiös hielt, was seine Praktiken und Ziele anbelangt. De Lubacs Auseinandersetzung mit dem ostasiatischen Buddhismus fand im Gefolge von Paul Claudel und Jacques Cuttat statt. Er konzentrierte sich auf den Amitabha-Buddhismus, auch als Schule des Reinen Landes bekannt, und stellte Affinitäten mit christlichen Vorstellungen von der göttlichen Persönlichkeit und der Liebe, das heißt der caritas, fest. Diese intensive Auseinandersetzung wurde durch seinen humanistischen Zugang zur Bestimmtheit der christlichen Offenbarung ermöglicht, und führte zu keiner Widerrufung seiner These hinsichtlich der universellen Wirkung des Seelenheils Christi.
Die pastorale Mutterschaft der Kirche
Bis jetzt haben wir einen Überblick gewonnen über das Geheimnis des Übernatürlichen, über die Einheit der heiligen Schrift, über das Zeugnis des Gläubigen für soziale Anliegen und des politischen Systems sowie über die Beziehung der Kirche zu nicht-christlichen Glaubensrichtungen. Als Ausklang betrachten wir manche der offensichtlicheren Parallelen zwischen Henri de Lubacs Vorstellung von der Kirche und jener des Papst Franziskus, seines Mit-Jesuiten und ignatianischen Theologen, was die seelsorgerische Sendung der Kirche in der zeitgenössischen Welt anbelangt. Beide Denker fühlen sich zum Begriff des Paradoxes hingezogen und glauben daran, dass die Kirche Gegensätzlichkeiten umfasst, die zwangsläufig in ihr zu finden sind. Im 19. Jahrhundert machte Johann Adam Möhler die bekannte Unterscheidung zwischen Gegensatz (contrariety) und Widerspruch (contradiction).
Für beide Denker, de Lubac und Franziskus, ist die Kirche lebendes Zeugnis dessen, was Nikolaus von Kues den Ineinsfall der Gegensätze (coincidentia oppositorum) nannte. Für de Lubac ist die Form der Opposition in Möhler ein Gegengewicht zu einer übertriebenen Vorstellung einer bloßen Dialektik, die zur Zeit der protestantischen Reformation aufkam. Für Papst Franziskus ist das Paradox der Kirche, wie es Möhler formulierte, das Gegenmittel zur hegelschen Dialektik, die versucht Polaritäten im Sinne einer konzeptuellen Entfaltung des linearen Fortschritts umzuschreiben.
Da die Kirche sowohl von Gott kommt, als auch eine menschliche Institution ist, schreibt de Lubac in Paradoxe et mystère de l´Église, führt ihre Einheit ein Ganzes mit seinen Teilen zusammen, auf eine aktive aber paradoxe Weise. Der seelsorgerische Schlüssel dazu, die Kirche als Paradox und Mysterium zu begreifen ist, ist es, die Gläubigen nicht zu verwirren, sondern so klar wie möglich die Spiritualität der Einheit zu erklären, die dem Anschein so vieles Paradoxen zugrunde liegt. Das Paradox wird zu einer Einladung, tiefer in das Geheimnis des kirchlichen Daseins einzudringen. Wie Susan Wood treffend zusammenfasst: „Christus, vollständig Mensch und vollständig Gott, ist das Ur-Paradox.“ Durch die unermüdete Verkündung der Einheit, die in der Person Christi wurzelt, wie Augustinus es berühmterweise tat in seinem Kampf gegen die Donatisten, wird die Einheit des Leibes Christi zu einer lebendigen Realität in den Herzen der Gläubigen und in der Wirklichkeit des ekklesiastischen Daseins.
In einem Brief an die argentinischen Bischöfe vom 18. April 2013 betont Papst Franziskus das Problem des Narzissmus, „der zur geistlichen Weltlichkeit und zum ausgefeilten Klerikalismus führt“ und es nicht gestattet, „die süße und tröstende Freude bei der Evangelisierung zu empfinden“. Das Problem der geistlichen Weltlichkeit kommt, nach Franziskus´ eigener Aussage in einem Interview, direkt von de Lubac. Es geht einher mit der Kritik der Selbstverwiesenheit und anderen narzisstischen und klerikalen Tendenzen. An dieser Stelle stellt jedoch der Papst ein Hindernis für die wahre Freude am Evangelium fest, das sowohl progressive als auch konservative Bereiche der Kirche durchdringt.
Sobald die Mechanismen und Mentalitäten der Institutionen, die der Kirche angehören, darunter auch die Bildungseinrichtungen, mit der geistlichen Weltlichkeit infiziert sind, wird der Eifer des Evangeliums diesen weltlichen Ansprüchen untergeordnet, sogar im Namen der Förderung der Theologie und des kirchlichen Lebens. Die Sendung, die Armen zu begleiten, wird auf diese Weise nicht nur zum Mandat eines beliebigen Pfarrers, der über etwas Freizeit während der Woche verfügt, sondern zur Pflicht für jeden Menschen, der seinen Glauben im Evangelium Jesu Christi bekundet.
Papst Franziskus bestätigt seine Verbundenheit zu de Lubac hinsichtlich der Mutterschaft der Kirche. Teilhard de Chardin schrieb einen „Hymnus an das ewig Weibliche“ zur heutigen Relevanz dieses romantischen Leitmotivs. Im Unterschied dazu ist die Mutterschaft der Kirche für Henri de Lubac viel konkreter. Sie bezieht sich in erster Linie auf die Geburt neuer Kinder in der Taufe. Im Katholizismus, argumentiert de Lubac mit einer breiten Auswahl an patristischen Quellen, ist Marias Mutterschoß auf symbolische Weise umfänglich genug, um eine Kirche aus allen Völkern der Welt zusammen zu bringen und ihr Wachstum zu ermöglichen. Demgemäß, sagt de Lubac, jemand der in Rom lebt, kann native americans als seine eigenen Glieder im Leib Christi betrachten, die in Marias Mutterschoß gebildet worden sind.
Diese Botschaft von der Inkulturation durch Marias Glaubenszeugnis stößt bei Papst Franziskus auf Anklang. Seine Interpretation der Mutterschaft bezieht sich in direkter Weise auf Maria als die Mutter der Evangelisierung, geschrieben in der Enzyklika Evangelii Gaudium. Von Papst Franziskus stammt die folgende Betrachtung, in der er sich auf die Antwort Marias in ihrem berühmten Loblied, dem Magnificat, konzentriert: „Du, Jungfrau des hörenden Herzens und des Betrachtens,/Mutter der Liebe, Braut der ewigen Hochzeit,/tritt für die Kirche ein, deren reinstes Urbild du bist,/damit sie sich niemals verschließt oder still steht/in ihrer Leidenschaft, das Reich Gottes aufzubauen.“
Ihr Urbildcharakter besteht also darin, dass Maria uns immer den Weg an die Peripherien zeigt. Deshalb kann sich die marianische Kirche nie verschließen und muß immer die Bereitschaft für die Verbreitung des Evangeliums zeigen. Wie Sie alle wissen, begann Jorge Mario Bergoglio als junger Jesuit eine Doktorarbeit an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Während dieser Zeit in Deutschland entwickelte er eine Hingabe an Maria Knotenlöserin, einem Gnadenbild in einer Kirche in Augsburg, die er aber nie selbst besuchte. Nicht nur nahm er diese Andacht mit zurück nach Argentinien, sondern er half später als Erzbischof bei der Verteilung von Gebetszetteln von Maria Knotenlöserin in Buenos Aires. Infolge dessen gelang 1996 sogar ein gemaltes Bild in die Pfarrkirche von San José del Talar in Buenos Aires.
Eine Betrachtung dieser Andacht erscheint mir passend zur Beendung unserer Reflexionen über Henri de Lubac und über die Theologie der Gegenwart. Meines Wissens kannte de Lubac selbst diese Andacht nicht, aber er würde gewiss ihre Bedeutung für den argentinischen Papst von einem entfernten Teil der Welt zu schätzen wissen. Die Reform- und Erneuerungsprobleme, denen wir heute begegnen, werden nicht schnell oder durch Maßnahmen gelöst werden, die nur jene Fragen ansprechen, von denen man in den heutigen Zeitungen liest. Längerfristige Lösungen und ein bedachterer Pfad sind erforderlich. Franziskus selbst betet, dass das mütterliche Herz der Maria Knotenlöserin ihn leite.
Die biblische Grundlage für dieses Gebet ist die Stelle in Hebräer 11:1, in der Abraham den zuvor gefesselten Isaak zurückerhält. Manche haben gescheiterte Ehen und schwere Abhängigkeiten der Maria Knotenlöserin anvertraut, mit dem Gebet, wie der heilige Irenäus schrieb, dass der Knoten von Evas Ungehorsamkeit sich lösen möge durch die Gehorsamkeit des Glaubens von Maria, der Mutter Gottes. De Lubac führt uns zu solchen allegorischen Symbolen der Vergangenheit nicht um ihre Altertümlichkeit zu verherrlichen, sondern um die Kirche der Gegenwart mit all ihren Komplexitäten und ihrer Trauer voranzubringen, während sie sich langsam auf das Königreich zubewegt. Dafür können wir, denke ich, alle dankbar sein.