Noch eine Chance für Macron

Im Rahmen der Veranstaltung "Europa nach der Wahl", 18.06.2019

Bon soir! Das verstehen Sie, ja? Ich bin der Meinung, wir feiern immer wieder die deutsch-französische Freundschaft, und so viele Jahre sind schon vorbeigegangen, dass wir alle zwei- oder dreisprachig sein sollten; aber ganz so weit sind wir noch nicht. Also, zunächst einmal einen herzlichen Dank für die Einladung. Ich schätze die Katholische Akademie in Bayern sehr – ganz besonders wegen der Qualität ihrer Veranstaltungen und ihrer Publikationen.

 

I.

 

Ich habe in diesem europäischen Wahlkampf mitgemacht, bei etwa 30 Veranstaltungen, und ich war wegen der Populisten immer sehr besorgt, weil ich befürchtete, dass sie eventuell eine Blockade-Rolle im Europa-Parlament erreichen könnten. Das Wahlergebnis hat mich etwas beruhigt, aber die Probleme sind immer noch da. Bevor ich über Frankreich nach der Wahl spreche, wie es im Programm steht, möchte ich kurz auf Frankreich vor der Wahl hinweisen, das heißt also, nur ein paar Worte über den Wahlkampf sagen. Der Wahlkampf war eigentlich ein bisschen wie in der Bundesrepublik, relativ langweilig und von schlechter Qualität. Die Hauptthemen, die diskutiert wurden, waren die Kaufkraft, die soziale und wirtschaftliche Lage, und natürlich die Immigration. Aber wegen der klimatischen und ökologischen Probleme hat das Thema Umwelt eine besondere Rolle gespielt und ziemlich viel Aufmerksamkeit erhalten. Die Schülerdemonstrationen am Freitag, „FridaysForFuture“, haben dazu beigetragen, dass das Interesse für die Umweltthemen zugenommen hat. Der Wahlkampf als solcher war ziemlich konfus, weil es nicht weniger als 34 Listen gab. Wie kann man eine Debatte zwischen 34 Listen organisieren? Es wurden also Debatten organisiert mit 10, 12, 15 Vertretern, und das war natürlich ein enormes Durcheinander. Die Leute haben sich persönlich angegriffen; es war eine unerträgliche Kakophonie.

Was ich immer sehr schade finde bei diesen Europawahlkämpfen ist, dass die nationalen Themen eigentlich eine sehr große Rolle spielen. Man redet mehr über die inneren Probleme des Landes als über die europäischen Probleme. In Frankreich ganz besonders wurde der Wahlkampf zu einem Referendum für oder gegen Macron umfunktioniert. Ich muss aber auch zugeben, dass die Presse schon ihre Arbeit gemacht hat – es wurden ziemlich viele Berichte über die einzelnen europäischen Länder veröffentlicht, über die Probleme der EU, aber es ist schwer zu wissen, was die Bürger davon mitgenommen haben.

 

II.

 

Nun die Analyse der Wahl: Die erste große Überraschung war, entgegen auch der Meinungsumfragen, die hohe Wahlbeteiligung. Noch ein paar Wochen vor der Wahl wurde vorhergesagt, dass die Wahlbeteiligung abnehmen würde; das war nicht der Fall. 1979, bei der ersten Wahl des Europaparlaments, lag die Wahlbeteiligung bei 62 Prozent. Dann ist sie regelmäßig, bei jeder Wahl, heruntergegangen, so dass sie vor fünf Jahren, 2014, 42 Prozent erreichte. In dieser Zeit, von 1979 bis 2014, haben wir praktisch 20 Prozent Wahlbeteiligung verloren. Und nun, am 26. Mai 2019, erreicht die Wahlbeteiligung über 50 Prozent, also eine Zunahme von fast 8 Prozent. Diese Zahl ist sehr bemerkenswert, weil es eigentlich Tradition war, dass die Wahlbeteiligung in Frankreich am höchsten bei der Wahl des Präsidenten der Republik ist; ich glaube 70 Prozent. Dann kommt die Wahl der Nationalversammlung, des Parlaments; beispielsweise im letzten Jahr bzw. vor zwei Jahren, im Juni 2017, lag die Wahlbeteiligung für das Parlament nur bei 49 Prozent. Warum war sie so niedrig? Ganz einfach, weil die Bürger dachten, sie haben jetzt den Präsidenten gewählt. Sie haben sich sehr, sehr angestrengt – warum sollen sie noch für das Parlament wählen? Also, deswegen nur 48 Prozent. Ich unterstreiche hiermit, dass zum ersten Mal die Wahlbeteiligung beim Europaparlament höher ist als bei der letzten Wahl der Nationalversammlung.

Natürlich muss man sich fragen, warum es dazu gekommen ist, was die Gründe für diese stärkere Mobilisierung sind. Ich glaube, dass die Bürger langsam verstanden haben, dass Europa ihr tägliches Leben beeinflusst, dass es eine große Rolle spielt, und dass es eine ganze Reihe von inneren und äußeren Herausforderungen gibt, die nur europäisch gelöst werden können, nicht mehr nur national. Diese Herausforderungen sind natürlich sehr zahlreich, und das war einer der Gründe, warum ich mich engagiert habe und warum ich auch besorgt war, denn es sind ja Realitäten. Man kann also beispielsweise feststellen, dass in einer ganzen Reihe von europäischen Staaten, auch Mitgliedern der EU, die Demokratie durch den Rechtspopulismus, durch den Nationalismus und durch den Protektionismus, stark gefährdet ist. Dazu kommen Probleme wie die Migration, der Terrorismus, die Umweltproblematik. Dazu kommen auch die geostrategischen Unsicherheiten. Auch der Brexit hat vieles durcheinander gebracht und ist eine enorme Herausforderung für die Europäische Union. Dann die Politik von Präsident Trump in den USA, der Handelskonflikt zwischen den USA und China, die Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und Russland, die hegemoniale Rolle Chinas sowie all die Probleme im Nahen Osten, die Krise mit Israel und die Schwierigkeiten mit Afrika – es hat noch nie eine solche Konzentration von Schwierigkeiten gegeben, innerhalb der Europäischen Union oder außerhalb.

Wir sagen immer, die Europäische Union hat Frieden gebracht. Das ist wahr; es gibt Frieden innerhalb der Europäischen Union. Aber wir dürfen nicht vergessen, dass es um uns herum viel Krieg gibt, und dass es jederzeit ganz schlimm werden kann. Ich will keine Angst verbreiten, aber ich kann Ihnen sagen, dass alle Experten, die ich kenne, die sich wirklich mit internationalen Fragen beschäftigen, sagen, die internationale Lage ist wirklich sehr ernst. Es ist ja klar, dass diese Perspektive natürlich viele Menschen beunruhigt, und es erklärt, dass gesagt wurde, dass wir dieses Europa dort unterstützen müssen.

Es zeigt sich auch durch eine ganze Reihe von Meinungsumfragen, in Frankreich wie in Deutschland und anderen Ländern, dass die europäische Einigung eigentlich positiv bewertet wird. Aber die Arbeit der europäischen Institutionen wird sehr oft stark kritisiert. Deswegen, so glaube ich, haben die Menschen an der Wahl teilgenommen, weil sie nicht wollten, dass das Werk, das wir seit 70 Jahren aufgebaut haben, plötzlich von den Extremisten zerstört wird. Nun, ich habe von der Wahlbeteiligung gesprochen. Sie sehen, dass diese höhere Wahlbeteiligung nicht vom Himmel gekommen ist. In Deutschland war sie noch höher, aber das liegt dort zum Teil daran, dass es andere Wahlen gab, also eine ganze Reihe von Kommunalwahlen in zehn Bundesländern, und dazu noch die Wahl in Bremen.

 

III.

 

Nun, wie haben die Parteien abgestimmt? Für mich gibt es zwei Sorten von Parteien bei jeder Wahl: die Gewinner und die Verlierer. Zu den Gewinnern der Wahlen gehört ohne Zweifel die Partei von Marine Le Pen, das Rassemblement National, die extreme Rechte. Am 26. Mai 2019 hat sie 5,3 Millionen Stimmen bekommen, mit einem Prozentsatz von 24,9 Prozent – die erste Partei also, und damit fast ein Prozentpunkt mehr als die Partei von Präsident Macron. Spitzenkandidat war ein junger Mensch, eigentlich total unbekannt: Jordan Bardella, 23 Jahre alt, Geographie-Student. Da muss man sich wirklich fragen, was er von Europa eigentlich weiß, was er von Europa erfahren hat – vor allem, weil er sich bis jetzt nur mit der Kommunalpolitik in Paris beschäftigt hat. Aber er konnte sich gut schlagen. Seine Argumentation war sehr oberflächlich. Man sah, dass er die Themen bei seiner Präsidentin, Marine Le Pen, gut gelernt hatte, und das hat er gut verkauft.

Warum wurde er ausgewählt? Zum größten Teil, weil die Justiz sich mit ihm nicht beschäftigt. Bei einer ganzen Reihe von Abgeordneten und Spitzenpolitikern gibt es gerade Prozesse, und das ist eigentlich wirklich ein Skandal, weil der Front National, also Rassemblement National, EU-Gelder benutzt hat, um Mitarbeiter zu bezahlen, die mit Europa überhaupt nichts zu tun hatten. Das ist nicht nur bei Rassemblement National der Fall, sondern auch bei der Partei der Mitte von François Bayrou und bei der Partei von Jean-Luc Mélenchon, der extrem linken Partei. Die Prozesse werden irgendwie im Laufe dieses oder nächsten Jahres stattfinden. Das erklärt, dass Frau Le Pen jemanden ausgesucht hat, der eigentlich mit diesen Machenschaften nichts zu tun hat.

Die Wähler von Le Pen bzw. ihrer Partei sind vor allem in kleinen Gemeinden und Städten zu finden, also dort, wo auch die „Gilets jaunes“, die Gelbwesten, ziemlich stark sind. Es gibt Départements im Norden Frankreichs, die früher, industriell gesehen, eine große Rolle gespielt haben; aber die Deindustrialisierung hat da sehr viel Arbeitslosigkeit gebracht. Dort bekommt Marine Le Pen über ihre Partei zwischen 34 und 38 Prozent der Stimmen. Das ist natürlich enorm. Man kann also von einem neuen politischen Leben von Frau Le Pen sprechen. Nach der Wahl des Präsidenten der Republik 2017 galt sie als total erledigt. Ihre These war damals, Frankreich müsse raus aus der EU und raus aus dem Euro. In der entscheidenden politischen Diskussion mit Macron ein paar Tage vor der Wahl gab es eine Diskussion: Frau Le Pen, Sie wollen also, dass Frankreich rausgeht. Wie machen Sie das? Wie machen Sie das besonders mit der Währung? Und sie hat alles so durcheinandergebracht; sie hatte so ein dickes Dossier mitgebracht, vorbereitet von ihren Mitarbeitern, aber sie hat die Blätter – natürlich war sie nervös – durcheinandergebracht. Sie wusste nicht mehr, was sie sagen oder lesen sollte. Das war eine reine Katastrophe, und da hat sie die Wahl verloren.

Wir haben alle gedacht, dass sie jetzt politisch erledigt ist. Aber sie hat davon profitiert, dass Präsident Macron seit einem Jahr, also seit Mitte 2018, eine ganze Reihe von Problemen gehabt hat. Er ist sehr unpopulär geworden, und dann ist diese Protestbewegung der Gelbwesten aufgestanden und hat ihm Schwierigkeiten bereitet. Frau Le Pen, die natürlich in der Position ist, dass sie keine Verantwortung zu übernehmen braucht, kann kritisieren. Sie braucht keine Lösungen vorzuschlagen. Das ist gewiss eine bessere Position, und so ist sie wieder nach oben gekommen. Und heute kann man sagen, dass sie die wichtigste Opposition zu Macron bildet.

Nicht nur Le Pen; die wirklichen Gewinner dieser Wahl sind die Grünen, die nicht so hoch sind wie in Deutschland, aber mit 13,4 Prozent im Vergleich zu 2014 fast fünf Prozentpunkte gewonnen haben. Allerdings ist dieses Ergebnis nicht das beste Ergebnis. Das beste Ergebnis wurde von den Grünen 2009 erreicht, als die Partei 16,3 Prozent bekommen hat. Der Spitzenkandidat dieser Partei war damals ein Deutsch-Franzose, Daniel Cohn-Bendit. Aber man sieht, wie die politischen Schicksale sich ändern. Damals war er ganz für die Linke; jetzt in diesem Wahlkampf war er Berater von Macron. Macron soll ihn auch gebeten haben, eventuell Spitzenkandidat zu sein, aber das hat er sich nicht getraut; er meinte, er sei schon zu alt. Aber es ist ein gutes Ergebnis. Der Spitzenkandidat der Grünen, Yannick Jadot, ist ein überzeugter Europäer. Er ist schon Mitglied des Europaparlaments, und er hat gesagt: Ich bin für bzw. ich vertrete die Grünen, ich will keine Allianz mit den anderen linken Parteien; ich möchte mein Thema wirklich bekannt machen! Sein Thema ist natürlich sein Kampf für die Umwelt, der auch davon profitiert, dass dieses Thema an Aktualität gewonnen hat, auch durch das Engagement der Jugend. Man kann also von einer grünen Welle sprechen, in Frankreich, in Deutschland sowie in anderen Ländern in Europa.

Die Frage aber, ob die Grünen in der Zukunft eine wichtige Rolle spielen werden, ist natürlich noch unsicher. Das haben wir schon einmal beobachtet, dass sie bei Europawahlen gute Ergebnisse bekamen und nachher bei den Nationalwahlen nicht mehr so gute. Im nächsten Jahr haben wir Kommunalwahlen, und dann werden wir sehen, wie sie sich weiter benehmen. Aber auf jeden Fall werden sie jetzt in der kommenden Legislaturperiode eine wichtige Rolle spielen.

Nun, ich habe gesagt, dass es zwei Gewinner gibt, Front National (oder Rassemblement National) und die Grünen. Verlierer gibt es hingegen mehr als Gewinner. Die wichtigsten Verlierer sind zunächst Macron, weil Macron gesagt hatte, ich will diese Wahl gewinnen, ich will die erste Partei sein, vor Frau Le Pen usw. Er sagte, er sei Progressist und er kämpfe gegen die Nationalisten. Nun, man kann natürlich keinen Vergleich mit dem Ergebnis seiner Partei aus dem Jahr 2014 anstellen, weil seine Partei eigentlich erst seit einem Jahr besteht. 2016 hat er eine Bewegung gegründet und 2017 wurde daraus eine Partei – ganz einfach deshalb, weil der französische Staat politische Parteien finanziert, aber keine politischen Bewegungen. Macron, seine Partei, La République en Marche, hat 22,4 Prozent bekommen, also etwa 0,9 Prozent weniger als Rassemblement National. Macron hatte sich im Wahlkampf sehr stark engagiert und sogar den Ausgang dramatisiert; deshalb dachte er, er könnte den ersten Platz gewinnen. Aber das Ergebnis ist eine politische Niederlage für ihn, das ist ganz klar, und das ist auch so interpretiert worden. Aber auf der anderen Seite muss man zugeben, dass der Abstand zur extremen Rechten relativ klein ist, nämlich 0,9 Prozent, und das ist kein so schlechtes Ergebnis für einen Politiker, der doch sehr viel an Popularität verloren hat.

Da die anderen politischen Parteien deutlich an Stimmen verloren haben, sieht man, dass die politische Landschaft in Frankreich jetzt eigentlich von zwei Parteien beherrscht wird: die extrem rechte Partei von Marine Le Pen, Rassemblement National, auf der einen Seite und auf der anderen Seite die Partei von Macron, La République en Marche. So sieht man, dass die totale Veränderung der politischen Landschaft, die vor zwei Jahren bei der Wahl des Präsidenten der Republik festgestellt wurde, sich fortsetzt. Die alten Parteien, die früher eine große Rolle gespielt haben, sind eigentlich total marginalisiert. Es ist klar, dass Macron jetzt in der Europapolitik sehr aktiv werden wird.

Ja, ich sagte, die anderen Parteien haben sehr an Einfluss verloren. Die größte Katastrophe erlebt sehr wahrscheinlich Les Républicains. Les Républicains, das ist eigentlich der neue Name der gaullistischen Partei, die Partei von Chirac, von Sarkozy usw. In Frankreich ist es eine Krankheit: Wenn diese Leute mit ihrer Partei Probleme haben, dann ändern sie einfach den Namen und hoffen, dass die Wähler so dumm sind und nicht wissen, woher sie kommen – und dann glauben, das sei eine neue Partei, die ganz toll sein muss und die sie wählen werden. Nun, diese Partei bekam noch 2014, also bei der vorherigen Europawahl, 20,8 Prozent der Stimmen. Das war nicht sehr viel, aber es war immerhin nicht schlecht. Und jetzt ist sie auf 8,4 Prozent gesunken; sie hat also über die Hälfte verloren, 12,4 Prozent. Sie ist somit die vierte Partei. Die erste Partei sind die extrem Rechten, die zweite Partei bildet Macron, die dritte Partei die Grünen und an vierter Position kommen die Gaullisten. Nun ist passiert, was der SPD in Deutschland passiert ist: Der Vorsitzende musste nach einer solchen Niederlage zurücktreten. Zur Zeit ist diese Partei total kopflos, und keiner weiß, was daraus wird, obwohl diese Partei mehrfach die absolute Mehrheit erlangt und das Land seit Charles de Gaulle mehrfach jahrelang regiert hat.

Dann gibt es noch die Parteien der Linken. Man kann sagen: Die Linke ist noch schwächer und noch zerstrittener als die Konservativen. Beispielsweise La France insoumise von Jean-Luc Mélenchon: Sein Modell ist Die Linke in Deutschland; das ist ja so ein bisschen die extreme Linke. Man sagt, sie wird die führende Partei der Linken sein, aber Mélenchon hat es ein bisschen zu sehr übertrieben mit seinen revolutionären Reden. Man hat gesehen, dass er schöne Reden halten, aber nichts Konkretes vorschlagen kann. Er sei auch sehr aggressiv, weswegen seine Partei sehr an Bedeutung verloren hat. Bei der Wahl bekam sie nur 6,3 Prozent der Stimmen. Mélenchon selber bekam bei der Wahl des Präsidenten der Republik im Jahr 2017 noch fast 20 Prozent. Sie sehen also, dass auch seine Partei gestürzt ist von 20 Prozent auf 6,3 Prozent.

Ganz schlimm ist – wie in Deutschland – die Entwicklung der sozialistischen Partei. Das entspricht, wenn Sie so wollen, der SPD in Deutschland. Um sie steht es so schlimm, dass die Partei es nicht gewagt hat, ihren Vorsitzenden als Spitzenkandidaten zu ernennen. Die Partei hat stattdessen einen anderen Politiker von einer kleinen neuen politischen linken Gruppe aufgenommen, Raphaël Glucksmann. Das ist der Sohn eines bekannten Philosophen, der vor ein paar Jahren gestorben ist. Herr Raphaël Glucksmann ist Journalist, der sehr viele Gedanken diskutiert – und er wurde gewählt, um die Partei zu führen, obwohl er selber kein Sozialist ist. Nun bekam die Partei, die 2014 noch 14 Prozent der Stimmen gewann, nur noch 6 Prozent, und die Partei war sogar froh, dass sie noch mehr als fünf Prozent bekommen hatte. In den Meinungsumfragen hatte es einmal so ausgesehen, dass sie weniger als fünf Prozent bekommen würden. Bei uns sind fünf Prozent die Grenze, um im Parlament vertreten zu sein, wie früher hier in Deutschland. Also, die Sozialisten haben da eigentlich wie die SPD das schlechteste Ergebnis ihrer ganzen Wahlgeschichte geholt.

Dann gibt es noch einen dritten Kompagnon auf der linken Seite, Benoît Hamon. Er war Generalsekretär der sozialistischen Partei, war sogar 2017 Kandidat der Sozialisten, wurde also als Kandidat der Sozialisten für das Amt des Präsidenten der Republik gewählt. Aber er bekam nur etwa 6 Prozent der Stimmen. Er hatte aber Krach mit den anderen führenden Leuten der Partei und wollte die Partei verlassen. Er hat daraufhin eine eigene Organisation gegründet und ist zur Europawahl gegangen. Und was bekommt er? 3,2 Prozent.

Dann bleibt nur noch eine letzte Partei zu erwähnen, ein „revenant“: die KPF, die Kommunistische Partei Frankreichs, Parti communiste française. Sie war früher eine große Partei in Frankreich, die erste Partei nach dem Zweiten Weltkrieg, etwa um 26 Prozent, und damit eine Partei mit einer großen Geschichte in Frankreich. Jetzt hat es auch hier der Vorsitzende nicht gewagt, die Partei zu führen. Dann wurde ein anderes Mitglied ausgesucht, Ian Brossat, der im Stadtrat von Paris arbeitet. Er ist sehr sympathisch und hat einen äußerst guten Wahlkampf gemacht. Aber auch er hat nur 2,6 Prozent bekommen. Stellen Sie sich vor, 2,6 Prozent für die erste Partei Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg!

Wenn man das nun zusammenrechnet, was ich Ihnen erzählt habe, die Partei La France insoumise, die Sozialisten, Benoît Hamon, KPF, dann kommen sie auf etwa 80 Prozent der Stimmen. Man sieht, wie die Linke in Frankreich zerstritten, zersplittert und sehr geschwächt ist. Wenn man an dieser Stelle noch einen Vergleich mit Deutschland anstellen möchte: Das haben Sie auch einmal gehabt. Es hat bei uns eine Tierschutzpartei gegeben – und stellen Sie sich vor, die Tierschutzpartei hat so viele Stimmen bekommen wie die Kommunisten, also 2,3 Prozent.

Die letzte Erwähnung, was die Parteien angeht: die Gilets jaunes. Sie hatten mehrfach angekündigt, sie würden kandidieren, und hatten gesagt: Ihr werdet sehen, wenn wir kandidieren, dann wird Frankreich ganz anders aussehen! Das hat sofort Streit unter den Gilets jaunes verursacht, und letzten Endes hat es zwei Listen gegeben. Eine Liste hat 0,01 Prozent der Stimmen bekommen, und die andere 0,5 Prozent. Eine totale Niederlage also. Zwar gab es Kandidaten der Gilets jaunes bei kleinen Listen, diese sind aber weit unter 3 Prozent geblieben. Nach den Untersuchungen, die nach der Wahl gemacht wurden, haben etwa 38 Prozent der Gilets jaunes für Rassemblement National, für die extrem Rechte, gewählt.

 

IV.

 

Nun, das war ein bisschen die Wahl in Frankreich. Durch sie ist die politische Landschaft, die durch die Wahl des Präsidenten der Republik vor zwei Jahren total verändert wurde, bestätigt worden. Man sieht, dass – ähnlich wie in Deutschland – die zwei großen Volksparteien, die Konservativen und die Sozialdemokraten, die das Land jahrelang regiert haben, entweder gegeneinander oder miteinander – die Große Koalition hieß bei uns Cohabitation – total marginalisiert sind. Jetzt haben wir es mit neuen Parteien zu tun: mit der extremen Rechten, Front National, mit der Partei von Macron, La République en marche, und mit den Grünen, wobei wir, wie gesagt, nicht wissen, ob die Grünen sich durchsetzen werden.

Zieht man Vergleiche mit den anderen Parteien in der EU, dann fällt mit Blick auf die Europawahlen auf, dass es sehr schwer ist, sich einen Überblick zu verschaffen. Wir haben immerhin ein sehr detailliertes, ein sehr differenziertes Bild der Politik in den einzelnen Ländern in Europa. Das heißt: Es sind entweder die extreme Rechte oder die Konservativen oder die Sozialisten oder die extrem Linken stark. Das ergibt ein sehr buntes politisches Bild, und man muss sich praktisch mit jedem Land auseinandersetzen, um wirklich zu verstehen, was da passiert ist. Man sieht auch, dass bei den anderen Ländern die rein europäischen Themen keine so große Rolle spielen, sondern mehr die nationalen Probleme.

Das bedeutet letztlich, dass sich durch diese Wahlen in Frankreich, in Deutschland und in anderen Ländern, oder besser: durch diese Verschiebung der politischen Kräfte die Machtverhältnisse im Europaparlament sehr stark verändert haben. Wie Sie wissen, wurde seit dem Anfang der direkten Wahl des Europaparlaments, also seit 1979, dieses Parlament von zwei Parteien beherrscht: die Konservativen, die Europäische Volkspartei, zu der die CDU/CSU gehört, und die Sozialisten und Sozialdemokraten. Sie haben sich also geeinigt, beispielsweise für eine Wahlperiode. Die Wahlperiode wurde geteilt: die erste Hälfte macht die eine Partei, die zweite Hälfte macht die andere Partei. Jetzt wird das nicht mehr funktionieren, weil beide Fraktionen nicht mehr die absolute Mehrheit erreicht haben. Nun kommen noch zwei weitere Königsmacher dazu: die Liberalen – zu dieser Gruppe gehören die Abgeordneten von Macron, der natürlich vor hat, eine aktive Rolle zu spielen –, und die Grünen. Eigentlich gäbe es eine absolute Mehrheit, wenn EVP, Sozialdemokraten und Liberale zusammengehen würden; aber man könnte auch eine solche Mehrheit mit den Grünen erreichen.

Das hat also alles seine Bedeutung, gerade was die Wahl des Präsidenten der Europäischen Kommission angeht. Nun weiß ich, dass Sie hier in Bayern einen besonderen Kandidaten haben, den Sie wahrscheinlich gerne unterstützen. Manfred Weber ist zum Spitzenkandidaten der CDU/CSU und der Europäischen Volkspartei ernannt worden, und es war eigentlich abgemacht – es ist kein Gesetz, es steht nicht im Vertrag – dass der Spitzenkandidat, der die meisten Stimmen bekommt, eigentlich der nächste Präsident der Europäischen Kommission werden sollte. Bloß steht das nicht im Vertrag, und jemand wie Macron lässt sich seine Kompetenzen im Europäischen Rat als Präsident der Republik, als Staatschef, nicht durch solche Abmachungen des Europaparlaments begrenzen, er will also entscheiden, wer wirklich für diese Position kompetent ist.

Ich will Sie nicht traurig machen, meine Damen und Herren, aber ich muss Ihnen sagen, dass die Kandidatur von Manfred Weber ein bisschen schwierig geworden ist. Was wird ihm vorgeworfen? Er sei nicht charismatisch genug. Aber vor allem wird ihm vorgeworfen, dass er nur eine Parlamentskarriere gemacht hat; er hat keine Erfahrung im Bereich der Exekutive, er war nicht Minister und er hat keine Regierung geleitet. Nun, wenn Sie Chef der Europäischen Kommission werden, sind Sie natürlich in einer sehr starken Position. Sie haben mit der Regierung für den Europäischen Rat zu tun, auch mit den europäischen Regierungs- und Staatschefs, und diese Leute wollen mit dem Präsidenten der Kommission ungefähr auf Augenhöhe sprechen können.

Deswegen wird es jetzt eine sehr schwere Verhandlung. Sie läuft schon, denn es gibt ja nicht nur diesen Posten zu besetzen, sondern es gibt auch den Posten des Präsidenten des Europaparlaments. Ebenso muss auch der Präsident der Europäischen Zentralbank gegen Ende des Jahres gewechselt werden; der Vertrag von Mario Draghi läuft aus. Der Präsident des Europäischen Rates muss ebenso neu bestimmt werden; das Gleiche gilt für den Außenminister der Europäischen Union. Sie sehen also: es sind mehrere wichtige Posten neu zu besetzen, und es wird diesbezüglich natürlich viel verhandelt. Beispielsweise kommt Jens Weidmann, der aktuelle Präsident der Deutschen Bundesbank, von dem man sagt, er sei schon heraus aus der ganzen Diskussion, vielleicht wieder hinein; wenn Manfred Weber nämlich nicht genommen wird, dann wird sehr wahrscheinlich die Bundesregierung darauf drängen, dass ein Deutscher eine der wichtigen Positionen bekommt, was ganz normal ist. Sie sehen also, das ist dieses Geschäft, das zur Zeit läuft.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch einmal betonen, wie sehr diese Wahl die politische Landschaft in Frankreich verändert hat, und wie sehr sich diese Veränderung auch auf europäischer Ebene verbreitet hat. Das ist also nicht schlecht, dass neue Kräfte, neue Köpfe kommen, denn ich persönlich bin natürlich für diese Europäische Union – aber ich weiß, dass diese Europäische Union unbedingt reformiert werden muss, damit wir die inneren Probleme besser regeln können. Vor allem, weil der Druck von außen jetzt so groß geworden ist, etwa durch Russland, China, USA usw., so dass wir wirklich eine starke Europäische Union brauchen. Sonst werden wir eines Tages bloß noch eine Kolonie sein, vielleicht von China.

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