Das Ausrufezeichen hinter den Menschenrechten

Dankesrede für den Romano-Guardini-Preis

Im Rahmen der Veranstaltung "Romano-Guardini-Preis 2024", 10.12.2024

Robert Kiderle

Sehr geehrter Herr Dr. Budde, sehr geehrter Herr Kardinal Marx, sehr geehrter Herr Staatsminister Herrmann, lieber Andreas, meine liebe Familie, meine lieben Freundinnen und Freunde, sehr geehrte Damen und Herren,

 

I.

kennen Sie das Gefühl, wenn Sie an einen Ort zurückkehren, der Ihnen lieb und vertraut war, den Sie nicht vergessen, aber an den Sie auch nicht mehr gedacht haben, vielleicht ein Ort, an dem Sie in der Kindheit die Ferien verbracht, an dem Sie Schönes erlebt haben, oder ein Ort eines nahen und tiefen Gesprächs?

Namen gleichen solchen Orten, auch zu ihnen kann man zurückkehren. Der Name, zu dem ich bei der heutigen Feier zurückkehren, mehr noch, heimkommen darf, ist Romano Guardini. In meiner Jugend hatte mein Weg auf erstaunliche Weise immer wieder zu ihm hingeführt. Zunächst – sein Name war bei uns zuhause präsent wie der eines lieben Verwandten, von dem man mit großer Achtung spricht. Es war meine Mutter, die ihn oft erwähnte. Sie war eine jener vielen, die Sonntag für Sonntag in den 50er Jahren seine Predigten in der Ludwigskirche hörte, eine aus jener orientierungslos gewordenen Generation, geboren 1925, eingeschult 1931, und wenig später schon hineingezwängt in die Erziehungsmaschinerie der Nationalsozialisten. Für sie war, so scheint es mir jetzt im Nachhinein, Romano Guardini einer derjenigen, der ihrem Tritt wieder Sicherheit gab, der für sie die Welt mit eindringlichen Worten erklären und ihr geistig Halt geben konnte. Dem Denken Romano Guardinis bin ich selbst nach dem Tod meines Vaters begegnet, als ich 14 Jahre alt war. Der Vater meiner Freundinnen, der Psychiater Dr. Schöne, drückte mir bei einem meiner Besuche ein kleines Bändchen in die Hand – die Duineser Elegien von Rainer Maria Rilke in der hellgrünen schmalen Ausgabe des Insel-Verlags. „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen.“

Dieser Satz hat mich seither begleitet. Aber annähern konnte ich mich ihm erst in dem Augenblick, in dem ich Romano Guardinis Interpretation oder besser – philosophische Auseinandersetzung damit – las. Diese beiden Texte – Rilke und Guardini – waren mir in meiner Jugend wichtig. Aber dann habe ich sie in ein inneres Schatzkästchen verschlossen, das ich erst jetzt wieder geöffnet habe, als mir die Katholische Akademie in Bayern den Romano-Guardini-Preis zusprach. Sie können sich vorstellen, welches Glück, welche Freude es für mich bedeutet und wie dankbar ich der Katholischen Akademie Bayern dafür bin, Ihnen, lieber Herr Dr. Budde, Dir, lieber Andreas für Deine Worte, die mich tief berührt haben, Ihnen, Herr Kardinal Marx.

Aber was bedeutet nun ein Denken wie dasjenige von Romano Guardini in unserer Gegenwart? Er hat „Christliche Weltanschauung“ gelehrt, ein Fach, das von den Nationalsozialisten verboten wurde, nach dem Krieg aber als Kompass dienen konnte. Es war ein auf dem Christentum, aber auch auf der literarischen und philosophischen Tradition des Abendlandes beruhendes Denken, das nach Wahrheit in einer alles relativierenden Moderne fragt. Gibt es dieses Denken noch in unserer Zeit? Hat es Gewicht?

Bei der Vorbereitung meiner Ansprache habe ich die Bücher Guardinis zuhause wieder zur Hand genommen und in dem Buch Freiheit, Gnade, Schicksal meine Exzerpte zur Frage, was ein freier Mensch und was eine freie Handlung sei, gefunden: „Wer primär den Charakter der Freiheit trägt, ist der personelle, das heißt, der sich selbst in die Hand gegebene Mensch. Die freie Handlung ist die Weise, wie die Person ihr auf die Freiheit hin bestimmtes ­Sein zum Akt werden lässt.“

Wenn ich dies jetzt, mit dem Abstand von mehreren Jahrzehnten, lese, scheint mir Guardinis Stil klangvoll, aber auch pathetisch zu sein; ich spüre, wie die Sprache sich inzwischen versachlicht hat und vorsichtiger geworden ist. Aber die Botschaft ist noch wirksam – noch immer geht es um das Verhältnis des Individuums zu sich selbst – der „sich selbst in die Hand gegebene Mensch“ – und das Verhältnis des Individuums zu Staat und Gesellschaft – als Bestimmtsein „auf die Freiheit hin“.

 

II.

Und damit sind wir bei meinem Lebensthema angekommen – der Frage nach der Freiheit und nach der Sicherung der Freiheit durch das Recht, der Frage nach der Gleichheit und nach der Gerechtigkeit. Mein „Werkzeug“, um mich diesen Fragen zu nähern, sind die Kodifikationen der Grund- und Menschenrechte, in denen die Menschen seit der Zeit der Magna Charta festgehalten haben, wie das Verhältnis zwischen dem Einzelnen auf der einen Seite und Gesellschaft und Staat auf der anderen Seite idealiter auszugestalten ist.

Nach der Verwirklichung dieses Ideals habe ich gefragt, als ich das erste Mal in meinem Leben aufgebrochen bin in eine wahrhaft andere Welt, bei meinem für mich prägenden Aufenthalt in der Sowjetunion der 80er Jahre. Die Menschenrechte waren als in der Verfassung normiertes Recht auch dort präsent, mit der Wirklichkeit hatten sie dennoch nichts zu tun. Dann aber kam der hoffnungsvolle Aufbruch in den 90er Jahren mit dem Versuch, Grund- und Menschenrechte nicht nur überall als rechtliche Ordnungsidee zu normieren, sondern auch Gerichte zu schaffen, die für ihre Durchsetzung verantwortlich wären, auch in Russland. Ich war dann selbst an einem europäischen Gericht neun Jahre lang mit der Aufgabe betraut, den vielen Mühseligen und Beladenen, die nach Straßburg kamen, zu ihrem Recht zu verhelfen und die Menschenrechte als Maßstab zu nehmen bei Entscheidungen über Fragen im Verhältnis Individuum – Gesellschaft, Staat.

Jetzt liegt diese Zeit nicht nur für mich in der Vergangenheit, sondern die Post-Cold-War-Epoche mit ihrer universellen Aufbruchstimmung ist zu Ende, seit dem 24.2.2022 für alle sichtbar. Wie schon im 20. Jahrhundert sind wir auch im 21. Jahrhundert wieder mit Krieg und militärischer Zerstörung, mit Hass und Unversöhnlichkeit, mit dem Streit um die „rechten Werte“, mit einem „Wir“ und „Sie“ konfrontiert.

Die Frage nach den Grund- und Menschenrechten gilt es in der Gegenwart in vielerlei Hinsicht neu zu stellen. Können wir aus ihnen Antworten zu dem Neuen, mit dem wir konfrontiert sind – etwa zur Klimakrise, zur Digitalisierung – entnehmen? Gleichzeitig gilt es die Frage nach der Bedeutung der Menschenrechte aber auch für die neuen kriegerischen Auseinandersetzungen zu stellen – „inter armes silent leges“, so hieß es lange Zeit. Aber dürfen die Menschenrechte im Krieg schweigen? Und, wenn nein, wie können wir erreichen, dass ihre Botschaft gehört wird? In dem Nachdenken darüber will ich – weil es mir ein so wichtiges Anliegen ist – in dieser Feierstunde ein paar Augenblicke verharren.

Kriege sind das Urbild der Ungerechtigkeit und Verletzung von Rechten. Ein Haus in Saporischja wird von einer Bombe getroffen, ein Nachbarhaus bleibt unversehrt. Die Menschen, die in Mariupol wohnen, haben Schrecklichstes erlebt und ihre Heimat verloren, die Menschen, die in Lviv zuhause sind, können sich – zumindest im Augenblick – noch vergleichsweise geborgen und sicher fühlen. Mein ukrainischer Postdoc, der das Glück hatte, zu Beginn des Krieges mit einem Stipendium an meinem Lehrstuhl zu sein, musste nicht zurückkehren; seine Kommilitonen sind an der Front, viele schon nicht mehr am Leben.

Anfang der 90er Jahre, als der Kalte Krieg zu Ende ging und wir alle das „Ende der Geschichte“ und Kants „Ewigen Frieden“ in erreichbarer Nähe glaubten, hatten wir die Hoffnung, Kriege, wenn nicht auf alle Zeit vermeiden, so doch rechtlich einhegen zu können. Wir glaubten daran, dass wir die Ungerechtigkeiten der Kriege vor Gericht stellen und aburteilen und damit letztlich Gerechtigkeit wiederherstellen, dass wir die Menschenrechte durchsetzen könnten. Wir brachen Geschichte und Politik herunter auf die Perspektive des Einzelnen, einerseits die Perspektive des Täters und andererseits die Perspektive des Opfers. So gründeten wir Gerichte, das Jugoslawientribunal, das Ruandatribunal, den Internationalen Strafgerichtshof. Zudem vertrauten wir darauf, dass auch die bestehenden Gerichte, der Internationale Gerichtshof in Den Haag und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, für Gerechtigkeit würden sorgen können.

 

III.

Diese Frage nun beschäftigt mich nach vielen Jahren der Auseinandersetzung mit den Menschenrechten und mit dem Wirken internationaler und europäischer Gerichte. Machen sie einen Unterschied? Konnten die Gerichte Gerechtigkeit wiederherstellen? Werden sie in den gegenwärtig noch tobenden Kriegen dazu in der Lage sein? Vielleicht ist es Hybris, das anzunehmen. Denken wir an die Religionen, insbesondere an die christliche Lehre – dort kommt das Weltgericht erst am Ende der Zeiten, wie es uns Hieronymus Bosch und Michelangelo so schön vorgestellt haben, und der Richter ist Gott. Den Menschen kommt es dagegen nicht zu, zu richten.

Wir aber versuchen, die Gerechtigkeit schon in unsere Zeit zu holen. Kann uns das gelingen?

Ja und nein. Wenn wir zurückschauen auf die letzten dreißig Jahre einer universellen Hoffnung auf das internationale Recht, so sehen wir ein wenig Licht, vor allem aber viel Schatten. Schatten sehen wir etwa bei dem Versuch, den Opfern der Jugoslawienkriege Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Mütter von Srebrenica haben vor vielen Gerichten geklagt. In dem am längsten, von 1995 bis 2019 und damit 24 Jahre lang dauernden Verfahren, haben sie ein bisschen Recht bekommen. Der niederländische Hoge Rat erkannte an, dass die niederländischen Soldaten, die für die Vereinten Nationen die Enklave Srebrenica schützen sollten, eine kleine Mitschuld am Tod eines kleinen Teils der Opfer des schlimmsten Genozids nach dem Holocaust hatten –
10 % Mitschuld, so das Urteil. Aber bei allen anderen Gerichten waren die Frauen, Mütter, Töchter gescheitert, auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der ihre Beschwerden für unzulässig erklärt hat. Ein wenig Licht aber bedeutet, dass diejenigen, die verantwortlich waren für Krieg und Gräueltaten, verurteilt wurden und – zumindest teilweise – im Gefängnis sitzen, so die Oberbefehlshaber und Politiker Karadzic,
Mladic, Krstic und andere. Schlimm für die muslimische Bevölkerung Bosnien und Herzegowinas aber war, dass der Internationale Gerichtshof in Den Haag Serbien nicht wegen Völkermords verurteilen wollte, weder bezogen auf Srebrenica noch auf die sonstigen Gräuel und Massaker in dem von 1992 bis 1995 dauernden Krieg. Lediglich insofern, als Serbien den Völkermord der Armee der bosnischen Serben nicht verhindert hat, erkannte der Gerichtshof eine Schuld Serbiens an; eine Kompensationszahlung setzte er nicht fest. Ein bosnischer Intellektueller zerriss das Urteil noch im Gerichtshof und gab damit der Stimmung der Bosnier Ausdruck. Auch bei der gerichtlichen Aufarbeitung des Tschetschenienkriegs gibt es Licht und Schatten. Einerseits hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Opfern Entschädigungen in Hunderten von Fällen zugesprochen und die Verbrechen im Krieg aufgearbeitet. Russland hat auch gezahlt; unser geflügelter Spruch in Straßburg war immer „Russia always pays“. Aber dem eigentlich Quälenden wurde nicht abgeholfen, insbesondere keine Informationen zu den verschwundenen Personen herausgegeben. Und mittlerweile ist der Kontakt abgebrochen, wer noch keine Kompensation bekommen hat, bekommt auch keine mehr, wessen Fall noch anhängig ist, mag ein Urteil als Los ohne Lotterie betrachten.

So ist das menschliche Bemühen, mit dem Recht Gerechtigkeit in Extremsituationen wie Kriegen herzustellen, mehr als unvollkommen. Je nach Stimmung kann man sich an dem wenigen, das erreicht wurde, aufrichten oder man kann an dem vielen, das nicht erreicht wurde, verzweifeln. Aber so wie in den 80er Jahren in der Sowjetunion und wie immer in der Geschichte – nichts ist endgültig, nie wird ein Schlusspunkt gesetzt, wenn man verliert, kann man auch wieder gewinnen. Auch den Menschenrechten kann in den jetzt vom Krieg verwüsteten Teilen Europas wieder neue Bedeutung zukommen; sicherlich nicht mit dem gegenwärtigen Regime, aber mit einer neuen Führung in Russland mag eine Renaissance einer aufrichtigen Suche nach Gerechtigkeit verbunden sein, mag man an dem gemeinsamen Hoffen der 90er Jahre anknüpfen. Seit ein paar Tagen stellen wir die Frage nach Gerechtigkeit vor Gericht auch wieder für Syrien – wie wird es dort aussehen?

 

IV.

Die Katholische Kirche hat mit dem Romano-Guardini-Preis Menschen mit sehr unterschiedlichem gesellschaftlichem Wirken geehrt; es ist eine Reihe von sehr großen Namen, neben denen ich nicht bestehen kann. Aber ich denke, der Preis gilt auch den Menschenrechten, die in der Gegenwart bedeutungsvoller denn je sind und die ich als säkulares Spiegelbild des Denkens von Romano Guardini sehe. Das Nachdenken über die Menschenrechte und der Einsatz für ein wirkungsvolles Verständnis der Menschenrechte ist für mich Beruf und Berufung. Aber das gilt nicht nur für mich, sondern für viele, insbesondere auch für meinen Laudator, meinen Kollegen und Freund Andreas Voßkuhle; die Sorge um einen effektiven Menschenrechtsschutz ist uns gemeinsam und hat viele unserer Gespräche bestimmt. Wir sehen die Menschenrechte aus der Perspektive der Rechtswissenschaft, andere – wie Kardinal Marx und der Direktor der Akademie Dr. Budde, nähern sich ihnen aus philosophischer oder theologischer Perspektive an. Das Bemühen um die Menschenrechte ist – davon gehe ich aus – uns allen hier im Saal gemeinsam.

Ich danke von ganzem Herzen für den Romano-Guardini-Preis, den Sie mir heute zugesprochen haben. Wir alle wollen diese besondere Geste als ein Ausrufezeichen interpretieren, das neben dem Wort „Menschenrechte“ auch in Zukunft stehen soll.

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